Das Interview im englischen Original
Christoph Heinemann: Waren Sie überrascht, als Premierministerin May und Kommissionspräsident Juncker nach ihrem Termin zum Mittagsessen der Presse mitteilten, dass sie keine Vereinbarung erzielt haben?
Seb Dance: Ich war überrascht. Das war schon ein erstaunlicher Tag. Ungewöhnliche Dinge haben sich ereignet. Offensichtlich hatte sie sich mit ihrem Koalitionspartner in Belfast nicht abgestimmt. Das ist unglaublich, denn es war ziemlich klar, was die sagen würden. Die haben diese Haltung immer vertreten. Dass die Premierministerin das nicht abgestimmt hat, ist wirklich unglaublich.
Heinemann: Die Nordirische DUP sagt nein. Was bedeutet das für Frau May?
Dance: Das bedeutet, dass ihre gesamte Regierung davon abhängig ist, was die DUP mit ihren wenigen Mitgliedern im Parlament sagt. Das ist schon erstaunlich, da wir uns vermutlich an dem seit sehr langer Zeit gefährlichsten Punkt der britischen Geschichte befinden. Dennoch verfügen wir über eine Regierung, die weit davon entfernt ist, stark und stabil zu sein. Und genau damit hatte Frau May vor der Parlamentswahl ja geworben. Das schwächt sie sehr.
Heinemann: Besteht das Risiko, dass die so genannten Unruhen in Nordirland (troubles) nach dem Brexit wieder ausbrechen könnten?
"Vor der Wahl Friedensprozess oder Brexit müssen wir den Friedensprozess wählen"
Dance: Das Problem besteht darin, dass das Karfreitagsabkommen und der Friedensprozess nicht zufällig zustande kamen. Dazu bedurfte es vieler Jahre harter Arbeit. Gegenseitige Schuldzuweisungen und Hass mussten überwunden werden. Ich habe an Treffen mit Familien von Opfern des Bombenanschlags von Omagh teilgenommen. Ich habe ihre Leidenschaft und ihre Entschlossenheit gesehen, dafür zu sorgen, dass keine Familie das erleben muss, was sie durchgemachen mussten. Das ist ein feines und empfindliches Gleichgewicht. Das wird durch diesen Brexit-Prozess bedroht. Es besteht tatsächlich das Risiko, dass viel gute Arbeit, die geleistet wurde, vernichtet wird. Wir müssen sicherstellen, dass der Brexit nicht den Friedensprozess zerstört. Wenn wir vor der Wahl stehen, ob wir den Friedensprozess oder den Brexit weiter verfolgen sollen, dann ist klar, dass wir den Friedensprozess wählen müssen.
Heinemann: Welches Grenz-Abkommen könnte erzielt werden?
Dance: Es gibt keinen logischen Weg für das Vereinigte Königreich aus dem Binnenmarkt und der Zollunion. Um eine Grenze zu verhindern, müssen wir im Binnenmarkt und der Zollunion bleiben. Die Alternativen, die zur Wahl stehen, lauten: entweder eine eigene Regelung für Nordirland, dann bildet die irische See die Grenze. Oder eben nicht, das hieße: Verbleib im Binnenmarkt und der Zollunion. Wir können noch viele Wochen um dieses Problem herumtanzen. Wir haben schon viel Zeit mit solchen Tänzen verbracht und so getan, als gäbe es diese Probleme nicht. Aber es gibt sie, und wir können sie nicht länger ignorieren.
"Jeder Brexit ist schlecht"
Heinemann: Verbleib im Binnenmarkt und in der Zollunion. Was für ein Brexit wäre das denn?
Dance: Ein sehr schlechter, aber es gibt sowieso keinen anderen, jeder Brexit ist schlecht. Es wäre ein Brexit, bei dem nicht wir unsere Gesetzgebung kontrollieren würden. Diese Kontrolle würden wir an die Europäische Union aushändigen. Aber dieser Brexit würde die Wirtschaft wenigstens nicht zerstören. Im Augenblick können wir als zweitgrößter Mitgliedsstaat unsere gesetzlichen Regelungen durch unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union kontrollieren. Die Wirtschaft kann im weltweit größten Markt verkaufen und kaufen. Wenn wir diesen Markt und die Europäische Union verlassen, was geben wir dafür auf? Die Wirtschaft oder die politische Kontrolle? Irgendetwas werden wir aufgeben müssen. Diese grundsätzliche Entscheidung ist den Menschen nicht verdeutlicht worden.
Heinemann: Ist es das, was die Austritts-Befürworter wollten?
Dance: Was wollten die denn? Es gab hunderte Gründe, warum Wähler für den Austritt gestimmt haben. Zufällig spreche ich gelegentlich mit Austritts-Befürwortern, die sagen jetzt, dass sie dafür nicht gestimmt hätten. Uns wurde ein Paket mit realitätsfernen Versprechungen verkauft. Inzwischen ist bewiesen, dass diese Versprechungen nicht geliefert werden können. Das Problem besteht darin, dass sich die Regierung vor der Wahl zwischen Realität und den Forderungen ihrer knallhart rechten Unterstützer immer auf die Seite der DUP oder der Befürworter eines harten Brexit im eigenen Lager stellt. Das bedeutet: kein Abkommen. Je früher die Moderaten bei den Konservativen aufwachen und je früher die Labour-Partei eine Haltung gegenüber Forderungen nach einem harten Brexit einnimmt, umso besser. Denn wir erreichen jetzt rasch einen Punkt, an dem man sich für einen harten oder gar keinen Brexit entscheiden muss. Wir müssen jetzt den Mut aufbringen, den Menschen zu verdeutlichen, was ein harter Brexit für Großbritannien bedeuten würde. Er wäre desaströs.
Heinemann: Frau May hat immer wieder gesagt: wir werden beides verlassen, den Binnenmarkt und die Zollunion. Glauben Sie, dass sie ihre Meinung gerade ändert?
Dance: Das weiß ich nicht. Um Phase zwei zu erreichen müssen wir dreierlei regeln: die Kosten, die irische Grenze und die Rechte der britischen und der EU-Bürger. Bei der Frage der irischen Grenze hat Frau May akzeptiert, dass Nordirland im Binnenmarkt und in der Zollunion bleiben muss. Wenn es dazu kommen wird, dass Phase zwei beginnt, wird es wieder so sein, dass Wünsche auf Wirklichkeit treffen. Die Vorstellung, dass Großbritannien die gegenwärtigen Handels-Regelungen behalten könnte, ohne dafür in den Haushalt einzuzahlen, wird zum nächsten Zusammenprall mit der Realität führen. Frau May hat ihre Meinung in der Nordirland-Frage bereits geändert. Und es wird weitere Gelegenheiten dazu geben, wenn klar wird, dass die gegenwärtige Lage unmöglich ist.
"Die Unterstützung für den Brexit löst sich auf wie Salz im Regen"
Heinemann: Können Sie sich vorstellen, dass vor dem März 2019 ein weiteres Referendum stattfindet?
Dance: Ja, das kann ich. Uns wird ständig gesagt, es sei der Wille des Volkes, die Europäische Union zu verlassen. Dabei wird Tag für Tag mehr von dieser Horror Show sichtbar. Ich glaube, diejenigen, die in der Europäischen Union bleiben möchten, würden in einem zweiten Referendum gewinnen. Die Brexit-Befürworter in der Konservativen Partei wissen und befürchten das. Und sie würden alles tun, um ein Referendum aufzuhalten. Was den demokratischen Prozess betrifft: es gibt nicht nur ein Ereignis, eine Wahl, mit der der Kurs der Geschichte für alle Ewigkeit festgelegt wird. Es gibt verschiedene Wahlen. Fakten und Regierungen ändern sich. Ich meine, es könnte ein weiteres Referendum geben, und meine Partei sollte sich dafür einsetzen. Der Trend ist klar: die Unterstützung für den Brexit schwindet täglich, sie löst sich auf wie Salz im Regen. Und es ist nur eine Frage der Zeit bis dieses Ausmaß der Ablehnung des Brexit noch deutlich sichtbarer wird, als jetzt bereits.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.