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Große Reden, große Redner? (1/3)
"Lassen Sie die Finger von NS-Vergleichen"

Öffentlicher Streit um politische Aussagen - das ist Tagesgeschäft der Parteien, der Medien, und der Wähler. Thomas Niehr ist Politolinguist und lehrt die Kunst der Analyse des politischen Wortes. Sprache in der Politik und das Sprechen über die Sprache der Politik sind die Gegenstände der vergleichsweise jungen Wissenschaft der Politolinguistik.

Im Gespräch mit Michael Köhler |
    Ein Gebäude der Universität RWTH in Aachen.
    An der Universität RWTH Aachen wird die junge Wissenschaft der Politolinguistik gelehrt. (imago/Rainer Unkel)
    Die linguistische Teildisziplin etablierte sich seit 1996. Politolinguistische Analysen verstehen sich als unabhängig vom politischen Standpunkt des Analysators und sehen ihr breites Forschungsfeld im Bereich der "engagierten Neutralität".
    Armin Burkhardt, der Namensgeber der Disziplin, schreibt dazu, gemeint sei: "… methodische Analyse und emotionslose Argumentation bei Engagement in der Sache. Denn erst das nüchterne Ergebnis wissenschaftlicher Untersuchung taugt zum Argument im öffentlichen Streit."
    Prof. Dr. phil. Thomas Niehr forscht und lehrt an der RWTH Aachen University am Institut für Sprach- und Kommunikationswissenschaft. 2014 veröffentlichte er eine Einführung in die Politolinguistik.
    Die Sendereihe "Große Reden" ist Teil eines gemeinsamen Projekts des Deutschlandfunks mit ARTE, arte.tv/grosse-reden

    Das vollständige Manuskript:
    Michael Köhler: Thomas Niehr, ein flüchtiger Blick in die Tageszeitung führt uns mitten in unser Thema, nämlich des politischen Sprachgebrauchs, des öffentlichen politischen Sprachgebrauchs. Ende Juni 2017, wenige Wochen vor Beginn des Bundestagswahlkampfes, spricht der sozialdemokratische Kanzlerkandidat von der Kanzlerin und ihrer Politik und Rhetorik als einem "Anschlag auf die Demokratie und im gleichen Moment wird ein AfD-Landesvorsitzender aus Sachsen-Anhalt, André Poggenburg, ermahnt und gerügt für seinen Ausspruch, den er in sozialen Netzwerken gesagt hat: "Deutschland den Deutschen!" Sind das schon ganz flüchtige Beispiele für das, was man politischen Sprachgebrauch nennt oder das, was Sie im Besonderen treiben, in der germanistischen Sprachwissenschaft nämlich: Politolinguistik?
    Thomas Niehr: Das sind prominente Beispiele, die Sie da nennen, das ist ja auch gelebte Demokratie, die Sie da mit ein paar Schlaglichtern beschreiben. Wobei, wenn wir Sprache in der Politik versuchen zu analysieren, dann ist das auch noch mehr als die Sprache von Politikerinnen und Politikern. Wir fassen den Begriff etwas weiter und sagen: Eigentlich alles, was mit Politik zu tun hat, schauen wir uns an. Und dann sind es nicht nur die Politiker, dann sind es natürlich auch die Medien, die über Politik berichten. Und dann ist es theoretisch auch das Stammtischgespräch, was über Politik geführt wird. Also, das ist sozusagen der Anspruch der Disziplin, die ja den etwas sperrigen Namen Politolinguistik trägt, alles das, was über Politik gesprochen wird, geschrieben wird, gesendet wird, gehört theoretisch dazu, kann theoretisch, soll theoretisch analysiert werden.
    Köhler: Wo fängt das an, für Sie interessant zu werden? Oder wo ist es von besonderem Reiz? In dem Moment, wo es brisant wird, also, wo um Begriffe vielleicht gestritten wird … Vieles in der Politik wird ja auf Slogans reduziert, ich erinnere uns beide mal an so Schlagworte wie "Herdprämie", wie "Kampfeinsatz", wie "Leitkultur", wie "Leistungsgesellschaft", "Moralkeule", oder nehmen wir die Unworte des Jahres "Lügenpresse" oder "Dönermorde". Über jedes dieser Beispiele könnten wir alleine jetzt schon eine halbe Stunde reden. Sind das so Beispiele, wo Schlagworte anfangen, brisant zu werden, kontrovers, umstritten, weil je nach Sprecher alles Mögliche damit gemeint sein kann?
    Niehr: Vollkommen richtig. Also, Schlagwörter, da bündelt sich ja eine ganze Menge drin. Da sind häufig ganze Argumentationen drin enthalten, in solchen Wörtern und für uns wird es eigentlich immer dann spannend, wenn über Sprache, über sprachliche Bezeichnungen dann auch gestritten wird. Da zeigt sich dann ja, es wird über politische Konzepte gestritten. Und das passiert natürlich mittels Sprache und das sind, wenn Sie so wollen, die schönsten Beispiele. Da wird es dann immer besonders deutlich. Und Schlagwörter finden wir ja allenthalben in der Presse, Politiker bringen sie in den Diskurs ein, und dann kann man sich natürlich anschauen, was steckt denn eigentlich wirklich dahinter? Und Sie haben das gerade schon angedeutet, häufig ist es gar nicht so einfach, das zu beschreiben, weil Schlagwörter häufig nur scheinbar klar sind. Es steckt eine ganze Menge an Konzepten, an Argumentation dahinter. Also, wenn ich ein anderes Beispiel nehme: "Nachhaltigkeit". Jeder ist heutzutage für Nachhaltigkeit, aber fragen Sie mal die Vertreter einzelner politischer Richtungen, was sie unter Nachhaltigkeit verstehen, da wird höchst Unterschiedliches bei herauskommen, aber trotzdem einigt man sich auf solche Wörter, weil man weiß, das sind Hochwertwörter, die sind in der Gesellschaft hoch angesehen. Und deshalb versucht jeder sozusagen, sie in seine Richtung zu bürsten.
    "Wenn Sie bestimmte Dinge sagen, dann müssen Sie damit rechnen, Schwierigkeiten zu bekommen"
    Köhler: Das ist ähnlich wie mit der Formulierung "Deutschland den Deutschen", die der AfD-Landesvorsitzende aus Sachsen-Anhalt benutzt hat. Der AfD-Vize sagt: Ist inhaltlich nicht falsch, ist nur so ein bisschen schlecht gelaufen, das so zu machen, der Parteivorsitzende Meuthen sagt, das ist NPD-Sprech und das schadet uns. Da wird sogar die Sprache schon selber direkt reflektiert. Lassen Sie uns noch ein bisschen enger fassen, was den Gegenstandsbereich Ihres Faches Politolinguistik ausmacht! Sie haben eben gesagt, das kann von der Politikersprache bis zum Stammtisch gehen. Entkräften Sie mal mein Vorurteil, wenn ich sage: Was unterscheidet sie denn von dem alten schönen Schulfach Rhetorik?
    Niehr: Das kann ich gerne tun. Die Rhetorik, wenn man es wörtlich nimmt, ist ja die Kunst, schön, gut zu reden sozusagen. Und gerade das lehren wir nicht, sondern die Politolinguistik hat sich vorgenommen, politischen Sprachgebrauch zu beschreiben zunächst einmal und zu analysieren. Aber es ist nicht eine vorrangige Aufgabe beispielsweise der Politolinguistik, jetzt ein Coaching für Politiker zu machen.
    Köhler: Also, ich kann keinen Kurs bei Ihnen belegen, ja?
    Niehr: Doch, Sie können einen Kurs bei mir belegen, aber da würde es nicht so sehr darum gehen, wie Sie Ihre Message besonders gut rüberbringen, sondern Sie könnten bei mir lernen … aber Sie selber müssen das ja nicht lernen, aber Studierende können dann zum Beispiel lernen: Wie analysiere ich politischen Sprachgebraucht, was ist eigentlich das Spannende daran, was steckt eigentlich dahinter an beispielsweise Strategien, an sprachlichen Strategien, die immer wieder angewendet werden? Aber Sie haben gerade auch schon heiklere Dinge angesprochen, "Deutschland den Deutschen". Das geht ja auch zum Beispiel um die Frage: Was darf man eigentlich in unserem Land sagen, ungestraft, und was eigentlich nicht? Wenn Sie ins Grundgesetz schauen, steht da der wunderschöne schlichte Satz: Eine Zensur findet nicht statt. Trotzdem stellen wir fest, wenn wir so die Geschichte der politischen Sprache uns anschauen: Wenn Sie bestimmte Dinge sagen, dann müssen Sie damit rechnen, Schwierigkeiten zu bekommen.
    Köhler: Das hat manche schon das Amt des Bundestagspräsidenten gekostet.
    Niehr: So ist es, genau. Und ich will jetzt gar nicht bewerten, ob das richtig oder falsch ist, aber es ist schon spannend zu sehen, wie sich auch die Zeiten ändern sozusagen. Sie haben eben Poggenburg zitiert, sie müssen nur auf Facebook schauen bei der CSU, da finden Sie auch so etwas wie "Deutschland muss Deutschland bleiben". Da sind wir ja nicht besonders weit entfernt von "Deutschland den Deutschen".
    Köhler: Sie haben eben gesagt, die Politolinguistik interessiert sich für politischen Sprachgebrauch und will ihn beschreiben, sie will ihn nicht vorschreiben, in Ihrer Sprache nennt man das, glaube ich, ein deskriptives Verfahren, ein beschreibendes. Seit wann ist dieses Interesse da? Ganz neu ist es ja nicht. Seit wann kennen wir das? Seit Ende des Zweiten Weltkrieges? Helfen Sie mir mal!
    Niehr: Auf jeden Fall. Es gibt auch während des Zweiten Weltkriegs ja schon Bemühungen, den, ja, man kann schon sagen: auffälligen Sprachgebrauch der Nationalsozialisten zu beschreiben, natürlich auch zu kritisieren seinerzeit. Und es gibt sicherlich auch vorher schon Bemühungen, politischen Sprachgebrauch sich anzuschauen. Aber sozusagen institutionalisiert wird das eben dann nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gibt zwei berühmte Dokumente, das eine stammt von Victor Klemperer, der war Professor für Romanistik, war Jude, wurde verfolgt natürlich, während der Nazi-Zeit, und der hat, ja, man kann schon sagen unter Lebensgefahr Tagebuch geführt. Die Tagebücher sind ja auch erschienen. Und daraus ist auch ein bekanntes Werk erschienen, das heißt "LTI", die Abkürzung für Lingua Tertii Imperii, also Sprache des Dritten Reiches.
    Und Klemperer hat sich schon bemüht, systematisch den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten zu beschreiben. Und das andere berühmte Werk ist das sogenannte "Wörterbuch des Unmenschen", wo auch versucht wurde, das Weiterleben bestimmter Elemente des Sprachgebrauchs in der Nazi-Zeit in der Nachkriegszeit zu beschreiben. Und spätestens von da an gab es dann auch Kontroversen in der Linguistik, die gesagt haben wie das "Wörterbuch des Unmenschen" gemacht ist, so kann man das nicht machen. Und es hat sich da ein langer Streit dran entwickelt zwischen Sprachwissenschaft und Sprachkritik, aber alles das, glaube ich, hat auch dazu geführt, dass die Politolinguistik so langsam, aber sicher in den Jahrzehnten danach ihr Methodeninventar zusammenbekommen hat.
    "Linguisten beschäftigen sich traditionell lieber mit geschriebener Sprache"
    Köhler: Würden Sie zustimmen, wenn man sagt, in den letzten drei Jahrzehnten hat sie so eine Art Etablierungsgeschichte hingelegt und ist jetzt voll da?
    Niehr: Ja. Das kann man sagen. Wobei, "voll da" heißt natürlich nicht, dass es nicht Weiterentwicklung gibt. Zum Beispiel tun Linguisten sich traditionell immer noch schwer, mündlichen Sprachgebrauch zu analysieren. Das hängt auch mit handwerklichen Dingen zusammen, sie müssen das erst mal aufnehmen, sie müssen das dann, wie wir das nennen transkribieren, also verschriftlichen, und dann fängt die Analyse an. Und bei diesen Verschriftlichungen geht immer ziemlich viel verloren, denken Sie an so was wie Gestik, Mimik und Intonation. Wenn Sie das alles in ein Transkript aufschreiben wollen, dann ist der Aufwand ganz, ganz enorm. Deshalb beschäftigen Linguisten sich traditionell lieber mit geschriebener Sprache. Und es kommen natürlich andere Dinge hinzu: Wenn Sie an so was denken wie Videoaufzeichnungen, dann haben Sie so viele Daten, die Sie analysieren müssen, das ist schon recht aufwendig. Und dann kommt natürlich zur gesprochenen Sprache auch noch das Bild hinzu. Diese Entwicklung hat die Politolinguistik zwar langsam, aber sicher aufgenommen, aber da gibt es auch noch einiges sicherlich zu tun.
    Köhler: Nicht zuletzt durch das sogenannte Politanement und die Wahlduelle, die durch Amerika zu uns inzwischen längst Standard …
    Niehr: Ganz genau.
    Köhler: … geworden sind, die ja ein gesamtästhetisch-dramaturgisches Ereignis sind, auch darüber … Wir sind gewohnt … Es gibt so was wie politische Ikonografie, aber politische Linguistik, akustisch, optisch vielleicht noch nicht, ich will mal in unserem Gespräch – Thomas Niehr, ein paar Beispiele nennen, an denen wir vielleicht zeigen können, was kontroverse Begriffe sind, und vor allem auch, wo der eine oder andere es gut gemeint hat, aber voll daneben lag, weil er vielleicht einen Schrifttext mit einem öffentlich gesprochenen verwechselt hat. Jüngstes Beispiel: Der Heilige Vater Papst Franziskus ist angegriffen worden, weil er griechische Flüchtlingscamps als Konzentrationslager beschrieben hat. Er hat gesagt: Viele Flüchtlingslager sind Konzentrationslager.
    Gemeinsamkeiten bei Reden von Jenninger und Walser
    Ich denke an die berühmte Rede Richard von Weizsäckers vom 8. Mai 1985, wo es nicht nur darum ging zu sagen, das Ende des Zweiten Weltkriegs war keine Niederlage, sondern eine Befreiung, sondern auch, wo so paradoxe Sätze fallen wie: Die Deutsche Frage ist offen, solange das Brandenburger Tor zu ist. Das war damals sehr wichtig, Winston Churchills berühmte Kriegsworte, "This is your victory, we’ve never seen a greater day", also voller Pathos. Dann Philipp Jenningers berühmte Rede 1988, Walsers Friedenspreisrede und so weiter, was haben die falsch gemacht?
    Niehr: Tja, das ist … Die Beispiele, die Sie genannt haben, kann man, glaube ich, nicht alle über einen Kamm scheren. Also, ich sehe auf jeden Fall Gemeinsamkeiten bei Jenninger und Walser. Interessanter, wenn wir mal mit Walser anfangen, da ist ja die berühmte Passage, da ist von einer Moralkeule die Rede.
    Köhler: Ja, aus der Friedenspreisrede 1998.
    Niehr: Genau. Es ist die Rede von der Instrumentalisierung von Auschwitz. Und man hat ihm dann vorgeworfen geistige Brandstiftung. Und Walser hat … Man hat auch danach ja mit Walser das Gespräch gesucht. Es gibt die sogenannte Walser-Bubis-Debatte, der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland Ignatz Bubis hat sich dann ja eingeschaltet und hat Walser geistige Brandstiftung vorgeworfen. Und in dieser Debatte, die sich dann entzündet hat – das war für mich wirklich unverständlich –, hat Walser sich immer strikt geweigert, auch nur zuzugeben, dass seine Rede missverständlich sein könnte, dass also zum Beispiel die Rechten – und wenn ich mich recht entsinne, hat die NPD ihm damals eine Ehrenmitgliedschaft angeboten –, dass also vom ganz rechten Rand diese Rede missbraucht wird als Argumentation für einen Schlussstrich unter Vergangenheitsbewältigung. Und interessanterweise, im März dieses Jahres hat Walser ein Interview gegeben, ein großes Interview, der "Zeit", zu seinem 90. Geburtstag. Und da hat er zum ersten Mal zugegeben, dass seine Rede ja möglicherweise missverständlich gewesen wäre. Und er sagt: Die Schwäche dieser Rede ist, dass ich nicht ausreichend deutlich gemacht habe, was ich damit gemeint habe, mit Instrumentalisierung von Auschwitz.
    Und bei Jenninger ist es, glaube ich, ein ähnliches Phänomen. Linguisten würden im Falle Jenninger sagen: Der hat sich einfach in der Textsorte vertan. Denn wenn Sie diese Rede von Jenninger … Wenn Sie das Manuskript lesen, den gedruckten Text, dann werden Sie nichts Schlimmes daran finden. Wenn Sie sich dann aber anhören, wie Jenninger diese Rede sehr monoton vorgetragen hat – und dann kommt ja auch innerer Monolog vor und es kommen diese merkwürdigen rhetorischen Fragen vor, hatten die Juden nicht wirklich sich zu viel angemaßt und Ähnliches –, dann wird es deutlich: Jenninger hatte, ja, wenn man so will, eigentlich nicht die rhetorischen Fähigkeiten, diesen Text angemessen vorzutragen. Und das ist dann natürlich problematisch. Also, man kann sagen, diese Rede, so, wie er sie vorgetragen hat, war geradezu eine Einladung dazu, sie misszuverstehen. Viele Zitate drin, die nicht als solche in der gesprochenen Rede deutlich gemacht wurden, da kam vieles zusammen. Und immerhin muss man, glaube ich, Jenninger hoch anrechnen, dass er am Tag danach zurückgetreten ist.
    Köhler: Während ich Ihnen zuhöre, ist mir natürlich aufgefallen, dass das Ganze natürlich jetzt schon 20 Jahre her ist. Aber der Fall der Friedenspreisrede von 1998 oder, noch mal zehn Jahre länger, die Weizsäcker-Rede, ich glaube, man kann was Schönes daran zeigen, oder ich habe auch eingangs den Begriff der "Leitkultur" erinnert, der auch schon eine Karriere hinter sich hat. Wenn wir uns diese Wortkarriere angucken, könnte man doch sagen, Thomas Niehr Wortgeschichte und das, was Sie machen, ist ein besonderer Zweig der Zeitgeschichte!
    Niehr: Das auf jeden Fall. Wir haben eben schon mal gesprochen über Streit um Wörter. Linguisten sprechen auch schon mal von brisanten Wörtern oder kontroversen Begriffen und Ähnlichem. Wenn Sie sich anschauen, worüber gestritten wurde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, dann kriegen Sie eigentlich ein wunderschönes Panorama. Ich erinnere mal an solche Ausdrücke wie – und da muss ich, glaube ich, nur die Ausdrücke nennen und dann wissen Sie, haben Sie sofort ein Szenario vor Augen – "Ratten und Schmeißfliegen", von denen Franz Josef Strauß gesprochen hat. Edmund Stoiber hat mal von einer durchrassten Gesellschaft gesprochen, Kardinal Meisner in Bezug auf das, wie ich übrigens finde, wunderschöne Richter-Fenster im Kölner Dom von einer Entartung der Kultur. Alles das hat natürlich zu einem Aufschrei in der Öffentlichkeit geführt …
    Köhler: Also, Helmut Schmidt müsste in die Reihe auch noch kommen, der war auch nicht zimperlich, wenn es darum ging, …
    Niehr: Ja, ja, genau.
    Köhler: … den Gegner in die Tonne zu hauen in den 70er-Jahren.
    Niehr: Richtig.
    "Lassen Sie die Finger von NS-Vergleichen"
    Köhler: Die Geschichte der NS-Vergleiche ist noch mal ein ganz eigenes Thema.
    Niehr: Genau, da kann man eigentlich zusammenfassend sagen, da könnte man jetzt sozusagen ein Coaching allen Politikern geben: Lassen Sie die Finger von NS-Vergleichen, das geht immer schief im Zweifelsfall! Das zeigt die Geschichte, das hat auch schon Rücktritte gegeben, davon kann man nur dringend abraten. Ich sage in Klammern dazu, das ist ja auch deshalb berechtigt, davon abzuraten, weil mit diesen Vergleichen ja immer – gewollt oder nicht gewollt – eine Verharmlosung der NS-Zeit mit einhergeht. Und das sollte man auch im Streit mit dem politischen Gegner nicht in Kauf nehmen oder sogar befördern.
    Köhler: Professor Niehr, Sie haben zu Beginn ein Wort benutzt, das Sie mir noch ein bisschen erklären müssen, Sie haben von "Hochwertwörtern" gesprochen. Nehmen wir doch mal … Wir haben angefangen jetzt mit diesem aktuellen Beispiel wie dem "Anschlag auf Demokratie". Das ist so eine polemische … Zündstoff drin, da springt alles drauf an, das ist wahrscheinlich auch ein bisschen kalkuliert. Eine ganz gewöhnliche Parteitagsrede von Sigmar Gabriel wäre nicht so aufregend, aber die zeigt auch so ein paar Dinge, also Abgrenzung vom Gegner, eine vereinnahmende Anrede der Kumpel und Genossen und so weiter. Was sind so die Kennzeichen von so einer politischen Rede im öffentlichen Raum, wie ich sie gerade skizziere? Muss die Hochwertwörter benutzen, um überhaupt gehört zu werden?
    Niehr: Es kann zumindest nicht schaden, so würde ich es mal ausdrücken. Dass man in so einer Rede deutlich macht: Wir bekennen uns zu den Werten, zu denen wir alle stehen. Das heißt jetzt nicht, dass Sigmar Gabriel, Schulz, Angela Merkel in jeder Rede sagen muss: Ich bin auch für die freiheitlich-demokratische Grundordnung. Das wissen wir. Das finden wir dann allerdings wieder am rechten Rand, die müssen das betonen und die betonen das auch immer wieder, dass sie Demokraten sind. Ob wir ihnen das glauben, ist eine andere Geschichte. Also, das ist, glaube ich, schon clever, so was mit einfließen zu lassen. Und diese Hochwertwörter … Es gibt einige, die sind unumstritten. Das ist in unserer Gesellschaft so was wie "Freiheit", "Demokratie", ich habe eben schon mal von "Nachhaltigkeit" gesprochen.
    Köhler: Es wird inzwischen ja auch schon fast … ich will nicht sagen: karikiert, aber wenn Sahra Wagenknecht sagt: "Freiheit statt Kapitalismus", dann spielt sie ja schon auf eine Geschichte dieses Gebrauchs an!
    Niehr: Ja, genau. Das war ein Wahlkampfslogan. Solche Gegenübersetzungen, die sind noch mal unter einer anderen Perspektive auch interessant. Also, wenn ich sage: "Freiheit statt Sozialismus", dann heißt das ja: Sozialismus schließt Freiheit aus und es gibt eigentlich nur diese beiden Möglichkeiten. Und immer mit solchen Entgegensetzungen wird dann gearbeitet, wenn man sozusagen eine dritte Möglichkeit oder eine Kombination … Die gerät dabei aus dem Blick. Das ist ja auch eine interessante Taktik, das ist so ein bisschen so wie Sekt oder Selters. Man kann ja auch Bier oder Wein trinken.
    "Höcke ist wirklich ein Meister der Doppeldeutigkeiten"
    Köhler: Thomas Niehr, wir haben begonnen mit einigen Beispielen aus dem Sommer 2017, mit dem Beispiel "Deutschland den Deutschen" vom AfD-Chef Poggenburg, wofür er gerügt worden ist von der eigenen Partei, wir haben Martin Schulz erwähnt, der auf dem Parteitag der SPD in Dortmund vom "Anschlag auf die Demokratie" sprach, wir haben merkwürdige Formulierungen auch der Kanzlerin und der Union, "Ehe für alle", vor einiger Zeit vielleicht noch undenkbar. Ich beobachte so ein bisschen eine Versloganisierung auch politischer Programme, das ist das eine. Lassen Sie uns deshalb zum Schluss auf ein hoch interessantes Beispiel – ich glaube, vom Januar dieses Jahres – zu sprechen kommen! Als der AfD-Rechtsaußen Björn Höcke eine 180-Grad-Wende der deutschen Erinnerungskultur förderte und sich doppeldeutig, ich will nicht sagen: missverständlich, sondern doppeldeutig zum Holocaust-Mahnmal äußerte und vom "Denkmal der Schande" sprach, was hat er da getan? Linguistisch, rein linguistisch!
    Niehr: Ja, ja. Also, zunächst mal kann man, glaube ich, sagen: Höcke ist wirklich ein Meister der Doppeldeutigkeiten. Und er weiß sicherlich, was er da tut, um nicht zu sagen: was er da anrichtet. Ja, was hat er getan? Es ging, wie Sie sich erinnern, ein Aufschrei am nächsten Tag durch die Presse. Und was mich eigentlich verblüfft hat, ist, dass dieser Aufschrei sich immer an diesem Wort "Denkmal der Schande", da hat sich die Empörung eigentlich dran entzündet. Und dann hat Höcke etwas Cleveres gemacht. Er hat am nächsten Tag eine Bundestagsdrucksache aus dem Jahr 2000 zitiert und sagt: Ja, dieser Ausdruck ist gar nicht von mir. Und hat diese Drucksache des Bundestages zitiert. Ich glaube auch, dieser Ausdruck ist wenig zu kritisieren, der Ausdruck für sich, und das ist eigentlich inzwischen eine Regel der Linguistik überhaupt: An Wörtern isoliert betrachtet, da lässt sich meistens nicht viel zeigen, man muss die Wörter sich im Kontext anschauen.
    Die kommen ja im tatsächlichen Sprechen und Schreiben auch immer in einem Kontext vor. Und ich würde sogar Herrn Höcke zustimmen: Dieses Holocaust-Mahnmal ist ja auch ein Denkmal der Schande. Ein Denkmal der Schande des deutschen Volkes. Wenn man sich jetzt allerdings den Kontext anschaut, speziell den Kontext, den Herr Höcke aufmacht, er spricht ja davon, dass wir eine 180-Grad-Wende brauchen in der Erinnerungspolitik, dass auch mal wieder erinnert werden muss an die glorreichen Leistungen der Vorfahren und Ähnliches. Dann wird klar, dass Herr Höcke ja eben das nicht meint mit "Denkmal der Schande", sondern er meint natürlich, dass dieses Denkmal eine Schande ist. Und da gibt es auch genug Äußerungen, die das plausibel machen. Er sagt zum Beispiel, er kennt kein anderes Volk als das deutsche Volk, das sich so ein Denkmal der Schande in die eigene Hauptstadt gepflanzt hat. Und solche Äußerungen, wenn man die berücksichtigt, dann kann man, glaube ich, plausibel machen, was Herr Höcke genau mit diesem Ausdruck meint, dann wird auch wieder die Empörung gut nachvollziehbar.
    Köhler: Er sprach eigentlich von einem schändlichen Denkmal, …
    Niehr: Genau.
    Köhler: … in seiner Wahrnehmung. Das zeigt nur, dass wir Schwierigkeiten mit dem Genitiv haben. Also, nicht nur der Rheinländer hat Schwierigkeiten mit dem Genitiv, oder umgangssprachlich. Ich beobachte – und dies vielleicht eine letzte Bemerkung – ein zunehmendes Sprachbewusstsein, wenn beispielsweise AfD-Chef Meuthen auf das von mir eingangs erwähnte Beispiel sagt, "Deutschland den Deutschen", das sei NPD-Sprech, "dieses Land ist unser Land", das sei im Kern die gleiche Aussage, aber die sei nicht kontaminiert. Das heißt, da besteht doch offenbar schon ein fortgesetztes sprachreflektives Bewusstsein, oder nicht? Und auch der Verstoß dagegen wird kalkuliert.
    Niehr: Genau. Ich glaube, dass wir gerade vom rechten Rand kalkulierte Tabubrüche immer wieder erleben. Thilo Sarrazin war dafür auch ein wunderbares Beispiel in seinen Büchern, Sie erinnern sich an Ausdrücke wie "Kopftuchmädchen" und Gemüsehändler, die keine produktive Funktion für dieses Land haben außer eben Kopftuchmädchen zu produzieren und, und, und. Ich denke auch, das ist kalkuliert. Man schaut, wie weit man gehen kann. Das hängt auch damit zusammen, dass man natürlich eine bestimmte Klientel bedienen will, und dann ist es immer natürlich eine Gratwanderung sozusagen, sich noch nicht strafbar zu machen und andererseits der eigenen Klientel doch deutlich zu machen, wohin die Reise gehen soll. Ich würde Ihnen aber zustimmen, dass vieles, was vielleicht vor 40, 50 Jahren im öffentlichen Diskurs noch möglich war, inzwischen nicht mehr möglich ist, weil die Sensibilität der Bevölkerung auch – das denke ich schon – gestiegen ist für solche Tabubrüche.
    Politolinguistik: "Erinnerung an 'Missbrauch sprachlicher Mittel' wachhalten"
    Köhler: Wo wünschen Sie sich, dass die Politolinguistik hinreist oder sich hinentwickelt? Also, ich persönlich würde mir mehr wünschen, dass so etwas auch öffentlich thematisiert wird. Wir haben die Walser-Bubis-Debatte, wir haben Jenninger-Reden und solche Dinge genannt, um eine gewisse Empfindlichkeit dafür auch zu entfalten, und … Müssten kontroverse Begriffe und Reden mehr kenntlich gemacht werden? Also, ich kann mich zum Beispiel an einen unglaublichen Fehlgriff erinnern, vielleicht Sie auch, fällt mir ganz spontan ein: Vor einiger Zeit hat ein, ich glaube, Lebensmittelfilialkonzern mit dem Slogan geworben: "Jedem das seine" – den man entweder, wenn man furchtbar gebildet ist, mit stoischer oder römischer Philosophie begründen kann, wenn man ein bisschen jüngere Geschichte kennt, weiß man, dass das über dem Lagertor von Buchenwald stand und das ziemlich – salopp gesagt – geschmacklos war und in die Hose ging.
    Niehr: Wobei, wenn ich mich recht entsinne, war es der Handy-Hersteller Nokia, die auch mal damit geworben haben.
    Köhler: Umso schlimmer.
    Niehr: Ich würde gar nicht mal bösen Willen bei so was unterstellen. Ich habe letztens noch einen Zeitungsartikel gelesen über eine junge Frau, die hat eine Ausbildung in einem typischen Männerberuf gemacht, so was wie Sanitärinstallateurin. Und es gab ein Bild, da wurde sie sozusagen ganz stolz gezeigt mit einer schweren Bohrmaschine in der Hand und über dem Bild stand: "Sonderbehandlung nicht erwünscht". Ich weiß, was die Journalistin, die das geschrieben hat, damit meinte, aber offensichtlich wusste die Journalistin nicht, dass "Sonderbehandlung" ein ganz übler, zynischer Euphemismus der Nazis für Tötung gewesen ist. Und insofern, denke ich, kann man da nicht – oder auch bei "Jedem das seine" – unbedingt bösen Willen unterstellen, aber vielleicht mangelndes Sprachbewusstsein. Und ich denke, es ist auch eine Aufgabe der Politolinguistik, die Erinnerung an diesen, ich sage mal in Anführungsstrichen "Missbrauch sprachlicher Mittel", die Erinnerung daran wachzuhalten.
    Absage: Große Reden, große Redner? Der Sprachwissenschaftler und Politolinguist Thomas Niehr im Gespräch mit Michael Köhler.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.