"Ja, so geht Europa!", sagte Giegold zu dem Beschluss der EU-Kommission, wonach der US-Konzern Apple in Irland Steuern in Höhe von bis zu 13 Milliarden Euro nachzahlen soll. Der Schwarze Peter liege aber nicht nur bei Irland, sondern bei allen Ländern, die sich das Modell von Apple gefallen lassen hätten. "Warum hat der deutsche Fiskus nicht nachbesteuert?", fragte der Grünen-Politiker.
Giegold erklärte, er wundere sich über das Schweigen von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Dieser könnte eine Nachbesteuerung von Apple in Deutschland durch das Bundesamt für Steuern prüfen lassen.
Ausdrücklich lobte Giegold EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Sie setze sich innerhalb der Kommission für eine "Gerechtigkeitspolitik" ein und wolle diese zu einem "Markenkern der EU" machen.
"Was die Kommission bei Apple richtig macht, macht sie bei TTIP falsch"
In Sachen TTIP steht der Grünen-Abgeordnete der EU-Politik skeptischer gegenüber. Hier würde er sich eine härtere Haltung gegenüber den USA wünschen, unter anderem was die geplanten Schiedsgerichte angeht. Diese stellten eine "Paralleljustiz" dar. "Was die EU-Kommission bei Apple richtig macht, das macht sie bei TTIP falsch", so Giegold.
Kritik übte er auch an Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD). Dessen Aussage, die TTIP-Verhandlungen seien "de facto gescheitert", sei nur eine Nebelkerze, um gleichzeitig das CETA-Abkommen mit Kanada gegenüber der SPD durchzusetzen. Die Sozialdemokraten sollten stattdessen gemeinsam mit den Grünen eine "Paralleljustiz" in Europa verhindern.
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Am Telefon ist der grüne Europaparlamentarier Sven Giegold. Schönen guten Morgen.
Sven Giegold: Guten Morgen, Herr Barenberg.
Barenberg: Hat die EU-Kommission im Fall Apple jetzt auf durchaus bemerkenswerte Weise gezeigt, wo der Hammer hängt?
Giegold: Ja! Ich finde, so geht Europa. Das ist genau der Weg, über den man Vertrauen bei vielen Bürgerinnen und Bürgern zurückgewinnen kann, denn das zeigt, auch das größte Unternehmen der Welt steht in Europa nicht über dem Recht.
Barenberg: Bei wem liegt jetzt eigentlich der schwarze Peter, bei der Regierung in Irland, die Vorteile gewährt hat, oder bei skrupellosen Managern in der Chefetage von Apple, die sich diese Konstruktion ausgedacht haben?
Giegold: Ich finde, der schwarze Peter liegt zunächst mal bei allen Ländern, die sich dieses Steuermodell über Jahre haben gefallen lassen. Man muss sich ja fragen: Warum hat der deutsche Fiskus nicht nachversteuert. Die EU-Kommission hat ja auch darauf hingewiesen, dass sie die Ergebnisse dieser Prüfung allen Mitgliedsländern anbietet, und sie hat auch angedeutet, dass sie gute Chancen hat, dass auch ein Teil dieser Steuernachzahlung letztlich in Frankreich, in Deutschland, in Italien und so weiter landen würde. Deshalb wundere ich mich auch über das Schweigen von Finanzminister Schäuble. Ich hätte mir eigentlich gewünscht, dass er sich freut über dieses Ergebnis und jetzt eine entsprechende Prüfung auch durch das Bundeszentralamt für Steuern ankündigt.
Barenberg: Das heißt, wenn Finanzminister Schäuble Ernst machen würde, dann könnte auch er noch von Apple Steuern nachfordern?
Giegold: Absolut! Das hat Frau Vestager auch klar gesagt und ich denke, dass die EU-Kommission hier allen anderen Mitgliedsländern einen großen Dienst erweist, denn auf diese Weise werden diese Gewinne, die ja letztlich von Bürgerinnen und Bürgern in Europa durch ihren Konsum erzeugt worden sind, steuerpflichtig gemacht und es kommt zu fairem Wettbewerb. Davon sollte auch Deutschland, aber auch viele andere Länder in Europa ein Stückchen was abbekommen.
"Das Recht gilt für alle Unternehmen"
Barenberg: Es gibt ja Verfahren auch gegen Unternehmen in anderen Ländern, in Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Jetzt Irland. Ergibt sich daraus ein Bild, dass sich in Zukunft etwas grundlegend ändert?
Giegold: Aus meiner Sicht hat Frau Vestager hier sehr wohl Konsequenz bewiesen. Sie will offensichtlich Gerechtigkeitspolitik zu einem neuen Markenzeichen der EU machen, und das ist auch nötig. Wir brauchen gerade aus Sicht der Bürger weniger Lobby-Politik und mehr Gerechtigkeitspolitik. Damit meine ich, dass das Recht für alle Unternehmen gilt und Europa ein Raum fairen Wettbewerbs ist. Den Eindruck dieses fairen Wettbewerbs haben ja viele Bürgerinnen und Bürger längst verloren. Man hat den Eindruck, am Arbeitsplatz haben sich die Bedingungen der Beschäftigung verschlechtert. Es gibt viel mehr Druck. Und umgekehrt: Diejenigen, die große Gewinne gemacht haben im Zuge der Globalisierung, werden nicht mal besteuert, wie wir jetzt gelernt haben, mit lediglich 0,005 Prozent. Und diese Ungleichheit, die zerstört das Vertrauen in die europäische Idee, und Frau Vestager hat offensichtlich vor, auch bei Google und bei den großen Internet-Konzernen, dass hier wieder das Recht sich durchsetzt.
Barenberg: Wenn Sie von fairem Wettbewerb sprechen, der nötig ist und der durchzusetzen ist, gehört zu diesem fairen Wettbewerb auch der Wettbewerb mit unterschiedlichen Steuersätzen in der Unternehmensbesteuerung etwa?
Giegold: Zunächst mal ist es so: Natürlich bedauern wir schon lange, dass es so niedrige Steuersätze gibt wie in Irland mit 12,5 Prozent. Das passt nicht zu Unternehmenssteuersätzen in einem gemeinsamem Markt. Wir brauchen in einem gemeinsamen Markt auch eine Untergrenze. Aber hier geht es ja darum, dass nicht mal die 12,5 Prozent bezahlt worden sind. Insofern ist auch die Aufregung in Irland eigentlich unverständlich, denn niemand hat jetzt in diesem Zusammenhang die 12,5 Prozent in Frage gestellt. Das Problem ist, dass auch diese 12,5 Prozent nicht bezahlt worden sind, und da setzt jetzt die EU-Kommission durch, dass diese Steuern nachgezahlt werden müssen. Eigentlich ist das ganz selbstverständlich.
Barenberg: Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, dass nach dem Einspruch, den Apple angekündigt hat, den Irland angekündigt hat, nicht am Ende die Strafe wieder vom Tisch gefegt wird vor Gericht?
Giegold: Ja nun gut. Dass Entscheidungen des Staates, in dem Falle der EU-Kommission vor Gericht in Frage gestellt werden können, das gehört genauso zum europäischen Rechtsstaat. Das hat man nicht zu kritisieren, dass ein Unternehmen sich da wehrt. Gleichzeitig hat die EU-Kommission ja schon Verfahren abgeschlossen, nämlich gegenüber den Niederlanden, Luxemburg und Belgien, und das Verfahren gegen Belgien, immerhin gegen 35 große Unternehmen, die Steuern nachbezahlen müssen, 700 Millionen Euro, das hat die EU-Kommission im August vor dem Europäischen Gerichtshof gewonnen. Insofern kann die entsprechende Abteilung, die diese Verfahren durchgesetzt hat, schon auf Erfolge verweisen und ich denke, bei den Zahlen, die da jetzt vorgelegt sind, hat sie auch gute Chancen, dass sie auch das gewinnen wird.
"Frau Vestager handelt, Herr Gabriel spielt nur"
Barenberg: Dass sich Europa so selbstbewusst in diesem Fall präsentiert, kann man das eigentlich auch für die ganze Debatte rund um TTIP sagen, mit den Äußerungen von Sigmar Gabriel und François Hollande und mit der Aussicht, dass jedenfalls in den nächsten Monaten an einen Abschluss dort nicht gedacht werden kann?
Giegold: Ach wissen Sie, ich finde, was die EU-Kommission bei Apple richtig macht, macht sie bei TTIP und auch bei Glyphosat falsch. Sie hört dort nicht auf die Bürgerinnen und Bürger, selbst wenn wir über die Grenzen hinweg das jetzt haben, was wir immer wieder einfordern, nämlich europäische Öffentlichkeit. Dass Menschen die europäische Demokratie auch grenzüberschreitend leben, das hat ja bei all diesen Themen stattgefunden: Steuern, die Ungerechtigkeit der Nichtbesteuerung, genauso wie die Kritik an TTIP sind ja europaweite Phänomene. Bei TTIP interessiert das die EU-Kommission überhaupt nicht. Ein Handelsvertrag nach dem anderen wird derzeit zu Ende verhandelt. Das Kanada-Abkommen ist fertig. Der Unterschied zwischen Frau Vestager und Herrn Gabriel wird da sehr deutlich, weil Frau Vestager handelt, dagegen Herr Gabriel spielt nur. Denn die Kritik an TTIP von Herrn Gabriel dient ja offensichtlich dazu, CETA durchzusetzen. Da steht am 19. September ein wichtiger Parteitag der SPD an und da wird über CETA abgestimmt und da kämpft er gegen die SPD-Basis und deshalb kritisiert er TTIP. Das ist sehr durchsichtig und daher wird das auch nicht dazu dienen, Vertrauen für die Sozialdemokratie zurückzugewinnen.
Barenberg: Aber wenn die EU-Kommission an den Verhandlungen festhält und dieses Projekt nicht aufgeben will, dann liegt das ja auch daran, dass sie den Anspruch nicht aufgeben will, die Regeln und Standards im weltweiten Handel zu definieren, mitzubestimmen mit der Marktmacht. Was ist daran schlecht?
Giegold: Nein, am Grundsatz bilateraler Verhandlungen in der Globalisierung ist gar nichts schlecht. Schlecht ist, was in diesen Verträgen steht. Wären diese Verträge tatsächlich über technische Regeln, Zollabbau und dergleichen, wären TTIP, CETA und die anderen bilateralen Handelsverträge eine gute Idee. Tatsächlich werden da aber demokratische Regeln abgebaut. Man kann sagen, dort wird ein Stück Europa abgebaut mit den Schiedsgerichten und einer Paralleljustiz, mit den Einschränkungen für die kommunale Daseinsvorsorge. Das sind alles Dinge, die sind ja nicht sozialdemokratisch, sondern Gabriel handelt hier nicht sozialdemokratisch, sondern marktliberal. Und das ist der Grund, warum die EU-Kommission mit solchen Verhandlungsprozessen Vertrauen verspielt. Würde es da wirklich darum gehen, die Werte Europas voranzubringen, dann gäbe es nicht diesen großen Widerstand.
"Fragwürdig, ob wir in Europa eine Paralleljustiz für ausländische Unternehmen brauchen"
Barenberg: Aber hieße, die Werte Europas zu verteidigen und voranzubringen, nicht in so einem großen Abkommen wie dem geplanten mit den USA auch am Ende, an der einen oder anderen Stelle schmerzhafte Kompromisse machen zu müssen?
Giegold: Natürlich muss man bei einem Handelsvertrag Kompromisse machen. Dann gibt es Unternehmen in Amerika, die gewinnen durch Öffnungen, und Unternehmen in Europa, die gewinnen. Das wäre überhaupt nicht die Frage. Eine andere Frage ist, ob man Lobbyisten der jeweils anderen Seite besondere Zugänge zum eigenen Gesetzgebungsprozess geben muss. Genauso ist fragwürdig, ob man die ohnehin unter Druck stehenden Kommunen mit weiterem Wettbewerbsdruck aussetzen muss. Und ebenso und besonders fragwürdig ist, ob tatsächlich wir in Europa eine Paralleljustiz für ausländische Unternehmen brauchen. Ich finde, das sind alles Dinge, die zerstören Vertrauen in die europäische Einigung. Deshalb wäre es richtig, dass die EU-Kommission hier die Verhandlungsmandate jetzt korrigiert, und die Sozialdemokratie wäre eigentlich die Partei, die das in Europa mit durchsetzen müsste, mit uns Grünen und anderen und der Zivilgesellschaft, und leider verweigert sich bisher Herr Gabriel diesem Kurs.
Barenberg: Sie halten so einen Neustart dieses gesamten Verhandlungsprozesses nach drei Jahren für realistisch und damit auch eine Position der USA, die sagen, okay, lasst uns noch mal von vorne anfangen und jetzt mit größeren Zugeständnissen?
Giegold: Wie wir jetzt gelernt haben, sind diese Verhandlungen ja ohnehin festgefahren. Insofern blockiert man dort nicht. Es geht auch gar nicht so sehr um TTIP. Es geht um CETA. Die Kritik an TTIP von Herrn Gabriel ist eine Nebelkerze zur Durchsetzung von CETA. CETA ist ausverhandelt, mit den Schiedsgerichten, mit Einschränkungen für die Daseinsvorsorge und vielen anderen Dingen, die, wenn man sie genauer betrachtet, von der gesamten Zivilgesellschaft, von den Gewerkschaften auf Ablehnung stoßen, und die SPD-Führung möchte diesen Vertrag durchsetzen. Das ist die eigentliche Debatte, die wir diesen Herbst und Anfang nächsten Jahres im Europaparlament führen werden.
Barenberg: Der grüne Europaparlamentarier Sven Giegold heute Morgen hier live im Deutschlandfunk. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Giegold.
Giegold: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.