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Grundschulstudie TIMMS
"Unsere Lehrer könnten fordernder auftreten"

Ein Viertel aller Grundschüler hat Schwierigkeiten mit einfachen Mathe-Kompetenzen, so das Ergebnis der TIMMS-Studie von heute. "Andere Länder machen uns vor, dass man das minimieren kann", sagte der Leiter der Studie, Professor Wilfried Bos. Dennoch bestehe "kein Grund zur Panik".

    Prof. Dr. Wilfried Bos mit DLF-Moderatorin Kate Maleike auf der ZEIT-Konferenz "Schule & Bildung" 2016
    Prof. Dr. Wilfried Bos mit DLF-Moderatorin Kate Maleike auf der ZEIT-Konferenz "Schule & Bildung" 2016 (Phil Dera für DIE ZEIT)
    Sandra Pfister: Deutsche Viertklässler sind während der vergangenen vier Jahre in Mathematik und Naturwissenschaften etwas schwächer geworden. Das sieht vor allem deshalb nicht gut aus, weil andere Länder in Europa in genau den Feldern zugelegt haben, also vor allem lautet das Ergebnis, ein Viertel aller Schüler hat Schwierigkeiten selbst mit einfachen Mathe-Kompetenzen. Und es gibt noch immer zu wenig Spitzenschüler. Darüber rede ich jetzt mit dem Leiter der Studie, Professor Wilfried Bos.
    Herr Bos, wenn man in einem Bücherregal die deutschen Schulstudien seit 2000 aneinanderreiht, dann reichen einige Meter Platz kaum aus. Also, es herrscht kein Mangel an Studien, aber woran es jetzt mangelt, das sind doch Empfehlungen. Was machen wir mit diesen Ergebnissen jetzt?
    Wilfried Bos: Vor Jahren, als wir die ersten Ergebnisse der Grundschule präsentiert haben, waren wir relativ stolz auf unsere Grundschulen, weil der PISA-Schock sagte ja, wir sind irgendwo im Mittelfeld, und wir waren in den Grundschulestudien im oberen Leistungsdrittel, wenn nicht gar im oberen Leistungsviertel. Dadurch, dass wir jetzt ins Mittelfeld abgerutscht sind, besteht deswegen, finde ich, für uns kein Grund zur Panik. Das Mittelfeld, da sind wir gelandet, weil andere Länder an uns vorbeigezogen sind. Die Kompetenzen sind ungefähr die gleichen geblieben. Das sagt uns erstens, wir haben auch in Deutschland noch deutlich Luft nach oben und können den Weg auch entsprechend beschreiten. Zweitens sagt uns das, wir haben immer noch zu viele Kinder in den unteren Kompetenzbereichen, die nicht mehr als die Grundrechenarten in Mathematik zum Beispiel können. Und andere Länder machen uns vor, dass man das auch minimieren kann.
    Pfister: Das heißt, es ist so ein gemischtes Bild. Sie sind nicht wirklich zufrieden, aber Sie sagen, man darf das auch jetzt nicht in den Staub treten.
    Bos: Ja, so ist es. Es ist kein Grund für uns, in Sack und Asche herumzulaufen. Wir müssen nicht von einer "Bildungskatastrophe Deutschland" reden bei den Ergebnissen. Aber wir sehen eben auch sehr deutlich, dass wir uns vielleicht ein bisschen zu sehr ausgeruht haben und zu zufrieden waren mit dem, was geleistet ist.
    "Haben über viele Jahre gesagt, wir haben zu wenig in der Leistungsspitze"
    Pfister: Geben denn all diese Tests, insbesondere jetzt der jüngste, geben die genug Hinweise darauf, wie die Mängel denn abgestellt werden können, also genug Ursachenforschung?
    Bos: Nein, das ist ein System-Monitoring, was wir hier betreiben. Wir schauen also regelmäßig alle paar Jahre nach, wie die Leistungen im internationalen Vergleich sind. Und dann muss man überlegen, wie man damit umgeht, und welche Empfehlungen daraus abzuleiten sind. Sehen Sie das doch mal so wie jemand, der zum Internisten geht, und da wird regelmäßig ein Blutbild gemacht. Und dann hat man die Blutwerte, und die Leberwerte sind zu hoch. Dann muss man halt gucken, was machen wir denn, und woran liegt das denn im Einzelnen. Ist es zu viel Alkohol, ist es zu viel fettes Essen. Der Blutwert an sich ist ja nur ein Kennzeichen, über das man dann reden muss.
    Pfister: Aber wenn wir in diesem Arztbild bleiben – wenn der Arzt Ihnen nur den Wert serviert und nicht sagt, stellen Sie Ihre Ernährung um, oder treiben Sie doch mal ein bisschen mehr Sport, oder wir müssen da mit Medikamenten ran, wären Sie von dem Arzt auch enttäuscht. Also muss da nicht jetzt viel mehr auch Handlungsempfehlung von Ihnen kommen aus der Bildungsforschung.
    Bos: Doch, machen wir. Stehen ja in jeder Studie drin. Wir haben über viele Jahre regelmäßig gesagt, wir haben zu wenig in der Leistungsspitze, liebe Kultusministerkonferenz, liebes BMBF, das können wir einfach nicht verantworten. Nun denkt doch einmal darüber nach, wie ihr das politisch umsetzt. Und, oh Wunder, jetzt ist es passiert. Jetzt wird das umgesetzt.
    Pfister: Das ist die Förderung von Hochbegabten, wie sie jetzt gerade gestern angekündigt wurde?
    Bos: Ja, richtig. Wir haben in vielen Jahren immer gesagt, wir haben zu wenig dem unteren Kompetenzbereich. Denkt doch mal darüber nach, wie man damit umgehen kann. Könnte es nicht sinnvoll sein, das Ganztagsschulangebot auszubauen. Das ist deutlich ausgebaut worden.
    Pfister: Aber die Kinder sind nicht in dem Maße besser geworden wie das Ganztagsschulangebot ausgebaut wurde.
    Bos: Es ist noch nicht optimal ausgebaut. Aber es ist ja erst mal nicht so, dass nicht auch die Ergebnisse der Bildungsforschung gehört würden, und dass man auch konkrete Maßnahmen daraus ableiten kann. Denken Sie an die erste PISA-Studie. Da sind die sieben Handlungsfelder der Kultusministerkonferenz benannt worden, und an den Bereichen ist auch gearbeitet worden.
    Pfister: Das sind Strukturreformen. Geben Sie auch den Lehrern mehr Handlungsanweisungen, was sie denn jetzt konkret im Mathe- und Naturwissenschaftsunterricht ändern können?
    Bos: Also aus der Studie heute könnte man schon ableiten, dass unsere Lehrer durchaus ein bisschen fordernder auftreten könnten. Eine Reihe von Kindern sagt uns nämlich, dass sie, um es mal vorsichtig zu interpretieren, nicht genug gefordert fühlen.
    Pfister: Jetzt geht es insbesondere um die Leistungsstarken, die fühlen sich nicht gefordert. Geht es auch um die Schwachen, die irgendwo in der Peripherie verschwinden?
    Bos: Es geht auch um die Schwachen. Auch von den Schwachen finden wir durchaus Kinder, die sagen, dass sie sich unterfordert fühlen. Das heißt einfach für einen Lehrer konkret, öfter mal nachfragen, wie kommst du zu dem Ergebnis, was hast du dir dabei gedacht, warum hast du das so und so gemacht. Das führt natürlich dazu, dass Kinder kognitiv aktiviert werden im Umgang mit ihren Mathematikaufgaben oder mit den Sachen, die sie im naturwissenschaftlichen Unterricht machen. Aber, wie gesagt, diese Studien sind ein System-Monitoring. Sie sind nicht Studien zur Verbesserung der konkreten Unterrichtsqualität. Dafür müsste man andere Sachen machen.
    "Wir bräuchten mehr Videografiestudien"
    Pfister: Haben wir genug von den Studien, die die konkrete Unterrichtsqualität verbessern könnten?
    Bos: Nö. Da haben wir auf keinen Fall genug Studien zu. Wir bräuchten mehr Videografiestudien zum Beispiel, damit man auch konkret sieht, welches unterrichtliche Handeln in welchen Settings hat welche Auswirkungen zum Beispiel. Und wir brauchen natürlich auch die Studien, die den konkreten Unterricht zum Beispiel beleuchten.
    Pfister: Woran liegt das, dass es diese Studien weniger gibt? Sind die politisch weniger gewollt, haben die eine schwächere Lobby?
    Bos: Die sind teuer, diese Studien. Also Videografiestudien ist so mit das Teuerste, was man überhaupt hat. Die dauern ihre Zeit, und das Geld wird im Moment nicht dazu zur Verfügung gestellt.
    Pfister: Das kann nur einmal ausgegeben werden, nämlich zum Beispiel für die Studien, die Sie machen.
    Bos: Na ja, Geld ist ja genug da, wir sind ja kein armes Land.
    Pfister: Das bedeutet, Sie würden, wenn Sie den Kultusministern auf die Füße treten müssten, sagen, da muss einfach mehr Geld rein, sonst bleibt das, was wir hier übergreifend feststellen, immer noch zu sehr im beschreibenden Bereich hängen. Und wir müssen einfach mehr in die Anwendungsorientierung.
    Bos: Wir müssen auch mehr in die Anwendungsorientierung, das ist keine Frage. Es ist nur die Frage, ob das tatsächlich die Kultusministerkonferenz bezahlen muss, oder ob das nicht die Deutsche Forschungsgemeinschaft auch bezahlt oder das BMBF-Sonderprogramme dazu auflegt. Aber Sie müssen natürlich auch bedenken, die Leute, die solche Studien machen können, die finden Sie auch nicht an jeder Straßenecke. Wenn Sie mal überlegen: An der Studie habe ich jetzt ungefähr drei Jahre mit teilweise bis zu 30 Leuten gearbeitet.
    Pfister: Das heißt, die Kapazitäten der Bildungsforscher im Moment sind eigentlich sehr durch PISA, TIMMS, VERA und so weiter durch die aktuellen Studien gebunden.
    Bos: Da ist nicht so viel freie Zeit, die übrig bleibt. Das ist wohl wahr.
    Pfister: Wilfried Bos von der TU Dortmund, der die TIMMS-Studie geleitet hat. Sie vergleicht international die Leistungen von Viertklässlern in Mathe und Naturwissenschaften.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.