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Deutung des Islams (2)
Theologische und situationsbezogene Aussagen im Koran

Erstmals für den deutschsprachigen Raum hat Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Theologie an der Uni Münster, eine zeitgenössische islamische Theologie vorgestellt. Er zeigt, wie der Islam aus sich heraus zu einem Selbstverständnis kommen kann, das eine grundsätzliche Wende hin zu einer Theologie eines barmherzigen Gottes vollzieht.

Das Gespräch moderierte Rüdiger Achenbach |
    Ein aufgeschlagener Koran
    Ein aufgeschlagener Koran (picture alliance / dpa / Bilawal Arbab)
    Darüber diskutiert Rüdiger Achenbach mit Mouhanad Khorchide, Serdar Güneş (Institut für Studien der Kultur und Religion des Islams an der Universität Frankfurt am Main), Abdul Ahmad Rashid (Islamwissenschaftler und Redakteur beim ZDF) und Abderrahmane Ammar (Soziologe und Islamwissenschaftler aus Marokko).

    Rüdiger Achenbach: Wir haben gesagt, es gibt im Islam keine Klerus und keine religiöse Hierarchie. Jeder Muslim steht als Einzelner mit seiner Verantwortung vor Gott. Er muss sich daher selbst über seine Religion informieren. Niemand kann ihm also in seinem Glauben Vorschriften machen. Herr Güneş.

    Serdar Güneş: Es gibt durchaus keinen Klerus – verglichen jetzt mit der katholischen Kirche. Aber es gibt ein gewachsenes Expertentum. Nicht jeder Mensch hat den gleichen Stand an Wissen und an Bildung. Es gibt Milieuunterschiede, auch kulturelle Unterschiede. Es gibt Experten, die sich mit der Zeit ausbilden, die dann gefragt werden. Aber das ist kein Klerus in dem Sinne, wie wir es aus dem Christentum kennen. Allerdings war es bis jetzt immer so, das kennt man auch aus den Herkunftsländern, dass die meisten Leuten keinen direkten Zugang zu den Quellen hatten, sondern meistens zu ihren Dorf-Imam gegangen sind oder zum Mufti und nach Rat gefragt haben. Das ist heute ja auch immer noch so. Allerdings haben wir heute eine andere Situation.

    Heute – besonders in Ländern, wo es Freiheiten gibt – können die Menschen sich selbst informieren. Sie haben nicht mehr diese strikten Hierarchien, Leute aufzusuchen oder nur diese Leute aufzusuchen, sondern können sich im Internet Wissen aneignen, sie können in Bibliotheken gehen. Sie müssen nicht nach Erlaubnis fragen, ob sie bestimmte Dinge lesen können. Sie haben ein viel individuelleres Verhältnis.

    Das allerdings hat eine positive und eine negative Seite. Die negative Seite ist, dass man sich sehr schnell radikalisieren kann, weil man zu Wissen kommt, dass vielleicht ungefiltert und auch undidaktisch an einen herankommt. Das sehen wir dann bei einigen salafistischen Erscheinungen, wenn sich Jugendliche radikalisieren. Die positive Seite ist: Man kann wählen. Man nimmt nicht mehr alles unhinterfragt auf. Da ist der uneingeschränkte Zugang zu religiösen Quellen auch die Möglichkeit, sich eigene Urteile zu bilden, sehr wichtig.

    Achenbach: Es ist also auch eine Frage des Bildungstands.

    Güneş Auf jeden Fall.

    Achenbach: Das gilt für alle Religionen, denke ich mal, wie weit man sich mit seiner Religion beschäftigt – inhaltlich mit den theologischen Fragen.

    Güneş: Wenn Sie jetzt Gesellschaften haben, die sehr stark über Sitten und Traditionen geprägt sind und sich darüber definieren, dann haben Sie für die Individuen keine großen Spielräume. Die stehen unter sehr striktem sozialem Druck. Das heißt, sie haben da jetzt keine Ausweichmöglichkeiten.

    Achenbach: Da besteht dann allerdingt auch noch die Gefahr, dass bestimmt Sitten und Gebräuche, die eigentlich mit dem Islam nichts zu tun haben, in die Religion hineingezogen werden und dann eine besondere Bedeutung in der Religion bekommen. Das heißt also, so angesehen werden, als seien sie Bestandteil des Islam. Herr Khorchide.

    Khorchide: Religiöse, theologische Bildung ist wichtig
    Mouhanad Khorchide: Eben. Und deshalb ist nicht nur Bildung im allgemeinen Sinn notwendig, sondern gerade auch religiöse, theologische Bildung auch sehr wichtig, dass man lernt zu reflektieren. Dazu gehört aber ein gewisses Bewusstsein für Mut, auch die Dinge zu hinterfragen. Auch egal, wer mir das gesagt hat – ein Imam, was auch immer für einen Titel er trägt, dass ich letztendlich doch hinterfragen muss: Ist das aber so oder ist das anders? Also, das, was Herr Günes angesprochen hat. Wir stehen heute vor eine Fülle – gerade im Internet – an Rechtsgutachten, an verschiedenste, zum Teil widersprüchliche Meinungen zum selben Sachverhalt. Und das steht ein junger Mensch und weiß nicht. Der sagt das und der sagt jenes.

    Achenbach: Wie soll er das sortieren?

    Khorchide: Eben. Und deshalb – unsere Aufgabe gerade in der Ausbildung von jungen Menschen im Religionsunterricht ist nicht, endgültige Antworten zu geben, zu sagen: So das ist die richtige, das ist die falsche Antwort – sondern die Menschen zu bewegen, selbst das Instrument in der Hand zu haben, selbst unterscheiden zu können. Das sind – ich sage immer – menschenfreundliche Angebote und das sind menschenfeindliche Angebote. So dass der junge Mensch, egal wo man ihn allein lässt, im Internet, wo immer, dass er dann die Fähigkeit hat, selbst zu reflektieren, selbst zu entscheiden, Entscheidungen zu treffen. Auch ich möchte nicht die Entscheidung von einem jungen Menschen abnehmen. Er müsst in der Lage sein. Das ist das, was uns heute herausfordert – auch in der religiösen Ausbildung und im Religionsunterricht.

    Achenbach: Wir haben jetzt die Salafisten angesprochen – in dieser Runde. Wie kann man denn versuchen klar zu machen – solchen jungen Leuten, die auch bei den Salafisten sind, dass es eigentlich nicht zum Streben der Vollkommenheit im Islam gehört, wenn man den Koran zum Gesetzbuch macht. Herr Khorchide.

    Khorchide: Ich glaube, was sehr wichtig ist, eben das Bewusstsein bei jungen Menschen dafür zu wecken zu hinterfragen, was will meine Religion eigentlich von mir. Ist Religion eine Sammlung an Instruktionen, die ihren Höhepunkt hatten in 7. Jahrhundert, im Modell von Medina, oder ist Religion etwas mehr als das. Ist Religion keine fertigen Antworten, keine Instruktionen sondern eben ein Weg zum Dialog mit Gott, ein Weg zu Gott. Da müsste man hinterfragen, was bringt mich nahe zu Gott. Dass ich einfach Instruktionen folge, auch wenn ich sie nicht nachvollziehen kann. Man könnte das mit der Vorstellung übertragen auf die Beziehung zu seiner Mutter und seinem Vater. Wie liebe ich meine Eltern? Indem ich einfach gehorche, was immer sie sagen, mache ich das. Oder möchte ich nicht doch ein Stück mehr Menschlichkeit, etwas auf der Gefühlsebene, nicht nur auf einer Befehlsebene meine Beziehung zu ihnen definieren, sondern auf Gefühlsebene sie wirklich lieben und geliebt werden von ihnen. Entsprechend sollte man hinterfragen, wie möchte ich meine Beziehung zu Gott gestalten.

    Ich glaube ein wichtiges Problem bei Salafisten – ein kleiner Satz dazu – ist jetzt weniger die Rückbesinnung auf das 7.Jahrhundert. Das machen auch andere Muslime, die nicht Salafisten sind. Das Hauptproblem bei Salafisten ist die Beharrung darauf, dass ihre Lesart des Islams die einzige richtige Lesart ist und jede andere Lesart des Islams nicht nur eine andere, sondern eine schlechtere bis dahin ein häretische Lesart des Islams ist. Und deshalb gehen Sie auch immer mit Zeigefinger auf andere Muslime und sprechen ihnen den Glauben ab. Und das ist unser Problem in allen Religionen mit fundamentalistischen Strömungen, dass sie ihre Lesart als die einzige wahre Lesart sehen.

    Achenbach: Herr Rashid, Sie haben viel Erfahrung aus Veranstaltungen, die Sie besuchen für das ZDF, für Ihre Sendungen, mit verschiedensten Gruppen des Islam.

    Der Islamwissenschaftler und Professor für islamische Religionspädagogik, Mouhanad Khorchide, vor dem Schloss in Münster, dem Sitz der Universität
    Der Islamwissenschaftler und Professor für islamische Religionspädagogik, Mouhanad Khorchide (picture alliance / dpa / Bernd Thissen)
    New-Born-Muslime und der Versuch, die Umwelt dem Islam anzupassen
    Abdul Ahmad Rashid: Wir haben ja diese sogenannten New-Born-Muslims, die wiedergeborenen Muslime. Sie gehen ganz in ihrem Muslim-Sein auf. Nicht wie bei den Salafisten. Sie haben konservative traditionsgebundene, junge Muslime. Und das ist so etwas, was mich dann immer etwas verwundert, dass diese hier in Deutschland teilweise geborenen oder zum größten Teil aufgewachsenen jungen Muslime nicht einmal viele Traditionen einer Kritik unterziehen. Dass sie nicht einmal fragen: Ist das Kopftuch überhaupt noch zeitgemäß. Oder das Zusammenleben der Geschlechter. Kann man das anders regeln? Müssen wir Männlein und Weiblein trennen? Das wird ja auch vollzogen. Müssen wir die Riten dann auch immer auch in der Öffentlichkeit vollziehen, also auch egal, wo ich gerade bin. Also, meine Generation, wir haben dann gebetet, wenn wir zu Hause waren. Aber wenn ich dann mitbekomme, dass junge Studenten sagen: Nein, ich muss auch an der Universität beten und wenn ich keinen Gebetsraum habe, dann mache ich das in einem leerstehenden Hörsaal, wo es dann Probleme mit den Universitäten gibt. Also, es ist der Versuch, nicht den Islam der Umwelt anzupassen, wie das in der Geschichte des Islams ja auch oft geschehen ist. Als der Islam sich ausgebreitet hat, hat er ja auch Traditionen aufgenommen. Sondern es ist mehr der Versuch, die Umwelt dem Islam anzupassen. Aber es ist gerade, weil es natürlich auch Ausgrenzungserfahrungen sind, was den Islam anbetrifft, sagt man: Jetzt erst recht. Jetzt erlebe ich meine Religion erst recht.

    Achenbach: Herr Ammar.

    Abderrahmane Ammar: Ich bin in Marokko aufgewachsen. Und wenn ich die marokkanische Jugend mit den Muslimen hier in Deutschland vergleiche, finde ich die in Deutschland geborenen und aufgewachsenen junge Muslime religiöser als die in Marokko. Die jungen Muslime in Deutschland versuchen es die Moderne zu islamisieren und nicht den Islam zu modernisieren. Und das ist sehr problematisch.

    Islamisten verteilen Koran-Exemplare in Berlin.
    Islamisten verteilen Koran-Exemplare in Berlin. (dpa / picture alliance / Britta Pedersen)
    Die Scharia und ihre Bedeutung
    Achenbach: Gehört in diesem Zusammenhang vielleicht auch die Forderung vieler Muslime hier auch in Deutschland die Scharia einzuführen, Herr Khochide?

    Khorchide: Man muss kritisch hinterfragen: Was meinen Muslime eigentlich, wenn die Scharia sagen. Manche Muslime, wenn sie von Scharia sprechen und sagen, Scharia ist mir sehr wichtig, ich brauche Scharia, meinen damit, meine fünf Gebete am Tag, dass ich im Ramadan faste, das ist meine Scharia. Andere wieder – islamistische Parteien, für die Islam eher eine politische Agenda ist – die meinen etwas anderes mit Scharia. Sie meinen: Wir wollen hier regieren im Namen des Islam. Deshalb muss man immer hinterfragen, was meint jemand mit Scharia. Scharia eigentlich im Arabischen heißt nichts anderes als: Der Weg zur Quelle – auf den Islam übertragen: der Weg zu Gott. Und dann gilt die Frage: Was ist der Weg zu Gott. Ist das der juristische Weg? Diesen Weg gehen manche, die unter Islam oder auch Religion eine Ansammlung an Instruktionen verstehen und sagen: Ich brauche einen Juristen, der mich juristisch aufklärt, was ist erlaubt, was ist verboten, damit ich mich daran halte, und so komme ich näher zu Gott.

    Ich lehne diese Vorstellung ab, denn ich sehe darin eine Vorstellung, die dem Koran selbst auch widerspricht, denn wenn meine Beziehung zu Gott über juristische Kategorien definiert wird, dann besteht die Gefahr, dass ist das Gute mache, nur weil ich es machen muss, weil es so auf einer Liste steht - oder das Böse vermeide, nur weil ich es vermeiden muss. Aber es ist keine innere Haltung. Sobald die Sanktion nicht mehr vorhanden ist, mache ich das. Das merkt man ja zum Beispiel, wenn man in Saudi-Arabien im Flugzeug einsteigt und in Düsseldorf aussteigt, wie viele Kopftücher eingestiegen sind und wie viele Miniröcke plötzlich ausgestiegen sind. Man sieht: Man trägt das Kopftuch nicht aus einer inneren Haltung, weil man in irgendeiner Weise überzeugt ist, ich muss mich so oder so anziehen, sondern man muss es machen und aus Angst vor der Sanktion. Und sobald die Sanktion vorhanden ist, führe ich mich völlig anders auf.

    Aber wenn man unter Scharia einen Weg zu Gott als spirituellen Weg versteht und den Weg der Herstellung einer gerechten Gesellschaftsordnung, ohne zu definieren durch welche Maßnahmen konkret – das ist nicht mehr Aufgabe der Religion. Die Religion sagt: Jeder Mensch soll an sich selbst arbeiten, seine gute Seele sein, ein aufrichtiger Mensch sein. Die Gesellschaft soll eine gerechte Gesellschaftsordnung haben. Aber wie das aussieht, das ist von Gesellschaft zu Gesellschaft anders. Das sind Prozesse, die wir Menschen untereinander aushandeln – ob durch direkte Demokratie, indirekte Demokratie, was immer für ein politisches System - das ist nicht mehr Aufgabe von Religion.

    Achenbach: Herr Rashid.

    Rashid: Scharia an sich, wie Professor Khordide gesagt hat, ist eigentlich ein sehr schwammiger Begriff. Es ist eigentlich, so kann man sagen, das Muslim-Sein an sich. Diese juristischen Begriffe, die juristischen Folgerungen, das ist ja nicht die Scharia selber. Das, was mit diesen juristischen Begriffen und Ableitungen eigentlich gemeint ist, dafür steht arabische Begriff Fiqh, also Jurisprudenz. Und die ist im Mittelalter entwickelt worden, die müsste eigentlich einer Prüfung unterzogen werden.

    Also ein Beispiel. Ich werde jetzt in nächster Zeit in der Sendung "Forum am Freitag" ein Paar porträtieren. Sie ist Muslimin, er ist Christ, sie wollen demnächst heiraten. Das ist ja eine Konstellation, die wir immer öfters in Deutschland oder im Westen treffen. Da heißt es, es sei im Islam verboten, aber wir finden jetzt im Koran kein konkretes Verbot dafür. Es heißt nur, ein Muslim soll keine Polytheistin, und eine Muslimin keinen Polytheisten heiraten. Das ist dann halt in der Jurisprudenz festgelegt worden und das ist Jahrhunderte alt. Also können wir mit diesen Kategorien von damals heute noch arbeiten? Müssen wir nicht neue Kategorien schaffen, die auf das hiesige Leben, auf das Leben im Westen angepasst sind?

    Achenbach: Hier würde sich jetzt die Frage anschließen, ob man im Koran, theologische Aussagen und juristische Aussagen differenzieren müsste, Herr Khochide??

    Khorchide: Also im Koran gibt es Aussagen, die kontextunabhängig sind. Die bezeichne ich als theologische Aussagen, weil sie sich nicht auf ein bestimmtes Gesellschaftsereignis beziehen, sondern wenn zum Beispiel gesagt wird, Gott gebietet, Gerechtigkeit auszuüben, das ist keine bestimmte Situation, die angesprochen wird, anders als wenn es in einer kriegerischen Auseinandersetzung heißt, sie haben euch Unrecht angetan – in Mekka jetzt – wurde euch erlaubt, euch zu verteidigen oder gegen sie Krieg zu führen. Das sind ganz konkrete gesellschaftliche Situationen. Warum das notwendig ist zu unterscheiden zwischen theologischen Aussagen im Koran und Aussagen, die die Gesellschaft direkt betrifft oder in einem Kontext direkt betreffen – um Antwort zu geben, was ist für uns heute Muslime bindend und was ist nicht wortwörtlich bindend.

    Die theologischen Aussagen sind kontextunabhängig. Dass Gerechtigkeit geboten werden sollte, das gilt für alle Gesellschaften, egal wann und wo. Aber eine kriegerischen Auseinandersetzung oder wie der Koran sich gegenüber Andersgläubigen verhält zum Beispiel, da wird man unterschiedliche Positionen und keine einheitliche im Koran finden, weil sich eben Gesellschaften wandeln, die Interaktion, die Kommunikation wandelt.
    Achenbach: Die auch situationsgebunden sind.

    Khorchide: Genau. Deshalb ist es wichtig für uns zu wissen, wie wir mit diesen Stellen heute verfahren. Wenn man sagt, die theologischen Aussagen sind die Maxime, dann so versteht man in diesem Rahmen dann die gesellschaftlichen Aussagen und könnte man die entsprechend deuten.

    Achenbach: Führt das denn nicht auch zu einer Differenzierung der Rolle des Propheten?

    Khorchide: Klar. Und zwar der Prophet als Verkünder, der sagt, ich bringe jetzt die theologischen Aussagen, gebe sie weiter, so wie sie sind. Und der Prophet Mohammed als Mensch, die sie in seinem Leben dann umsetzt, interpretiert. Zum Beispiel, als er in Medina nicht nur der Prophet war, sondern dort auch das Staatsoberhaupt, der versucht hat mit den Mitteln, die ihm damals im 7. Jahrhundert zur Verfügung gestanden haben, Politik zu betreiben. So müsste man genau unterscheiden, was Mohammed als Verkünder, als Prophet gesagt hat und was als Mensch. Die Unterscheidung war damals sehr üblich, so dass seine Gefährten ihn selbst, wenn sie nicht mehr gewusst haben, gefragt haben: Sagst du das jetzt als Prophet, ist es von Gott, oder ist es jetzt deine Interpretation oder dein Versuch, das umzusetzen? Dann hat er öfters gesagt, nein, das ist von mir. Und dann haben sie ganz klar widersprochen. Wir haben mehrere berühmte Szenen, wo ihm dann gesagt wurde: Nein, das irrst du dich, tut uns leid, da hast du weniger Erfahrung darin, wir kennen uns besser aus. Deshalb ist für uns heute diese Unterscheidung auch sehr wesentlich, gerade was das Staatsmodell in Medina angeht, dass wir das nicht als ein ahistorisches Modell für alle Zeit gültig sehen, sondern das ist der beste Versuch des 7. Jahrhunderts damals in Medina mit den damals zur Verfügung gestandenen Mitteln, Politik zu betreiben und Gerechtigkeit, Freiheit, Gleichheit umzusetzen.

    Rashid: Das finde ich jetzt interessant. Haben Sie gerade gesagt, dass die Zeitgenossen des Propheten ihm widersprochen haben?

    Khorchide: Ja.

    Rashid Aber das ist doch etwas, was wir heutzutage eigentlich nicht mehr erleben würden.

    Khorchide: Aber das liest man in den authentischen auch sunnitischen Überlieferungen zum Beispiel, wo der Prophet selber nach Medina gegangen ist. Er war Geschäftsmann, er kannte sich in der Landwirtschaft nicht so gut aus und hat gesehen, dass die Palmen miteinander kreuzen. Das kam ihm so komisch vor und fragte, warum tut ihr das. Und da haben sie es unterlassen. Am Ende des Jahres, als die Ernte eher verdorben und in der Qualität nicht so gut war, haben sie sich bei ihm beschwert. Dann hat er wortwörtlich selber gesagt: Wieso habt ihr auf mich gehört, was verstehe ich davon? Sachen, die euer Leben betrifft, hat er dann wortwörtlich gesagt, da kennt ihr euch besser aus als ich, da habt ihr Erfahrung darin. Deshalb ist das wichtig: der Glaube an den Menschen, der Glaube an seine Vernunft, an seine Erfahrung.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.