Archiv


Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Steidl

Mit Marcus Heumann am Mikrofon, guten Abend und willkommen. Wenn es denn den Schriftsteller als politisch-moralische Instanz in Deutschland überhaupt noch gibt, dann ist Günter Grass ein Exemplar dieser aussterbenden Spezies. Interessant, die Reaktionen auf seine neue Novelle "Im Krebsgang" zu beobachten, deren Kernsujet die Schilderung des Untergangs der "Wilhelm Gustloff" ist. Der mit ostpreußischen Flüchtlingen überladene einstige "Kraft-Durch-Freude"-Dampfer wurde auf der Fahrt gen Westen am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot torpediert und versenkt, fast 10.000 Menschen, darunter etwa 4.000 Kinder, ertranken in der eisigen Ostsee. Es ist Unsinn, dass in Nachkriegsdeutschland diese, eine der schaurigsten Episoden der Vertreibung aus dem Osten, nicht bekannt gewesen sei - dafür sorgten nicht nur Millionen Heimatvertriebene, sondern 1959 auch ein Spielfilm. Die Verdrängung begann erst zu einer Zeit, als jede Benennung des ostpreußischen Flüchtlingselends fast automatisch den Verdacht des Revisionismus provozierte. In den letzten 30 Jahren war die Gustloff-Katastrophe in Deutschland kein Thema mit Öffentlichkeit. Was für ein Konfliktpotential aber im Thema Vertreibung noch nach einem halben Jahrhundert schlummert, macht gerade in diesen Tagen die emotionale Diskussion um die Benes-Dekrete wieder überdeutlich - und verleiht dem neuen Grass eine ganz eigene zusätzliche Aktualität.

Rainer Burchardt | 25.02.2002
    Mit Marcus Heumann am Mikrofon, guten Abend und willkommen. Wenn es denn den Schriftsteller als politisch-moralische Instanz in Deutschland überhaupt noch gibt, dann ist Günter Grass ein Exemplar dieser aussterbenden Spezies. Interessant, die Reaktionen auf seine neue Novelle "Im Krebsgang" zu beobachten, deren Kernsujet die Schilderung des Untergangs der "Wilhelm Gustloff" ist. Der mit ostpreußischen Flüchtlingen überladene einstige "Kraft-Durch-Freude"-Dampfer wurde auf der Fahrt gen Westen am 30. Januar 1945 von einem sowjetischen U-Boot torpediert und versenkt, fast 10.000 Menschen, darunter etwa 4.000 Kinder, ertranken in der eisigen Ostsee. Es ist Unsinn, dass in Nachkriegsdeutschland diese, eine der schaurigsten Episoden der Vertreibung aus dem Osten, nicht bekannt gewesen sei - dafür sorgten nicht nur Millionen Heimatvertriebene, sondern 1959 auch ein Spielfilm. Die Verdrängung begann erst zu einer Zeit, als jede Benennung des ostpreußischen Flüchtlingselends fast automatisch den Verdacht des Revisionismus provozierte. In den letzten 30 Jahren war die Gustloff-Katastrophe in Deutschland kein Thema mit Öffentlichkeit. Was für ein Konfliktpotential aber im Thema Vertreibung noch nach einem halben Jahrhundert schlummert, macht gerade in diesen Tagen die emotionale Diskussion um die Benes-Dekrete wieder überdeutlich - und verleiht dem neuen Grass eine ganz eigene zusätzliche Aktualität.

    Das dem Anforderungsprofil einer Novelle innewohnende "unerhört Neue" ist ein sensationeller Tatbestand, nämlich allein das Thema, dessen sich Günter Grass angenommen hat. Der Literaturnobelpreisträger hat mit der Untergangskatastrophe der "Wilhelm Gustloff" als pars pro toto das bislang nahezu als Tabu angesehene Drama der deutschen Flüchtlingshistorie gewissermaßen schlagartig für den politischen Diskurs salonfähig erklärt. Das ist in der Tat für die bislang zum Muckertum führende politische Korrektheit etwas Ungeheuerliches. Neu ist es ohnehin. Und dabei nicht zu übersehen Ausdruck des politisch schlechten Gewissens des prominentesten deutschen Gegenwartautors, der sich nie gescheut hat, in Werk und Tat politisch Zeugnis abzulegen.

    Genau dies fordert in dieser kunstvoll bisweilen im doppelten Sinne verstrickten Novelle der "Alte" als spiritus rector vom Erzähler, einem Journalisten, dessen persönliche Geschichte mit dem Untergang des Kraft durch Freude Dampfers der Nazis am 30. Januar 1945 vor der pommerschen Küste eng verbunden ist. Das Schlüsselmotiv für diesen novellenartigen Roman liefert "der Alte" alias Grass erst im Kapitel fünf:

    "Das nagt an dem Alten. Eigentlich, sagt er, wäre es Aufgabe seiner Generation gewesen, dem Elend der ostpreußischen Flüchtlinge Ausdruck zu geben: den winterlichen Trecks gen Westen, dem Tod in Schneewehen, dem Verrecken am Straßenrand und in Eislöchern, sobald das gefrorene Frische Haff nach Bombenabwürfen und unter der Last der Pferdewagen zu brechen begann, und trotzdem von Heiligenbeil aus immer mehr Menschen aus Furcht vor russischer Rache über endlose Schneeflächen ... Flucht ... Der weiße Tod ... Niemals, sagt er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos."

    Erst zur Mitte seines Werkes also versucht Grass erklärenderweise sein schlechtes Gewissen abzuarbeiten an der Verdrängung des Vertriebenen-Problems im Nachkriegsdeutschland. Günter Grass, Mitglied der progressiven Gruppe 47, Wahlkämpfer für die SPD und Willy Brandt, Ikone der politischen Literaten der letzten 40 Jahre, Gegner eines zu eilig bestellten Vaterlandes nach 1989, geht jetzt im Krebsgang zurück, um auch in dieser Frage voranzukommen. Auch solchermaßen belegt er seine These davon, dass der Fortschritt eine Schnecke sein kann.

    Grass benutzt verschiedene Ebenen der Erzählkunst. So verknüpft er den Mord an dem Nazi-Funktionär in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, durch den Juden David Frankfurter mit einem Internet-Chat, initiiert vom Sohn des Erzählers. Dieser wiederum, in der Rolle eines Rechtsradikalen; leistet sich eine virtuelle Auseinandersetzung mit einem selbsternannten Stellvertreter Frankfurters zum Thema Rassismus mit schließlich tödlichen Folgen im real existierenden Leben. David gegen Goliath im Cyberspace. Eine Fiktion, die Grass kunstvoll und spannend aus der virtuellen in die reale Welt holt.

    "Nun begann die im Internet mögliche Freizügigkeit der totalen Kommunikation. In- und ausländische Stimme mischten sich. Sogar aus Alaska kam eine Meldung. So aktuell war der Untergang des lange vergessenen Schiffes geworden. Mit dem wie aus der Gegenwart hallenden Ruf 'Die Gustloff sinkt!? stieß die Homepage meines Sohnes aller Welt ein Window auf und leitete einen, wie sogar David ins Netz gab, 'seit langem überfälligen Diskurs? ein. Jadoch! Ein jeder sollte nun wissen und beurteilen, was am 30. Januar 1945 auf Höhe der Stolpebank geschehen war; der Webmaster hatte eine Ostseekarte eingescannt und alle zur Unglücksstelle führenden Schiffswege mit belehrendem Geschick anschaulich gemacht."

    Der rechtsextreme Computerfreak, der mit dem Portal "blutzeuge.de" seine verquasten Ab- und Ansichten weltweit diskutieren lässt und dabei selbst die Rolle des von den Nazis zum Märtyrer ernannten Wilhelm Gustloff übernimmt, ist der bei seiner Mutter aufgewachsene Sohn des Erzählers. Dieser wiederum wurde in der Nacht, als die Gustloff versenkt wurde; geboren. Seine hochschwangere Mutter hatte es geschafft, auf die Gustloff zu kommen, wurde gerettet und gebar das Kind zur Stunde des Untergangs. Der 30. Januar, auch der Tag der Machtergreifung durch Adolf Hitler anno 1933.

    "Da ist es wieder, das verdammte Datum. Die Geschichte, genauer die von uns angerührte Geschichte; ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch. Zum Beispiel diese vermaledeite Dreißigste. Wie er mir anhängt, mich stempelt. Nichts hat es gebracht, dass ich mich jederzeit, ob als Schüler und Student oder als Zeitungsredakteur und Ehemann, geweigert habe, im Freundes-, Kollegen- oder Familienkreis meinen Geburtstag zu feiern. Immer war ich besorgt, es könne mir bei solch einer Fete - und sei es mit einem Trinkspruch - die dreimal verfluchte Bedeutung des Dreißigsten draufgesattelt werden, auch wenn es so aussah, als habe sich das bis kurz vorm Platzen gemästete Datum im Verlauf der Jahre verschlankt, sei nun harmlos, ein Kalendertag wie viele andere geworden. Wir haben ja Wörter für den Umgang mit der Vergangenheit dienstbar gemacht: sie soll gesühnt, bewältigt werden, an ihr sich abzumühen heißt Trauerarbeit leisten."

    Durch das Datum, so die Mutter, sei das Lebensschicksal der Familie eng mit dem Untergang der Gustloff verbunden. Und mehr noch. Mit der Mutter, Tulla Pokriefke, begegnen Grass-Kenner einer alten Bekannten, die schon in den Romanen "Katz und Maus" sowie "Hundejahre" in der Grass?schen Danziger Trilogie vorkommt.

    Mit dieser personellen Zuordnung, so Grass jetzt in einem Stern-Interview, habe er den literarischen Zugriff zu der Stoffmasse gefunden, die sich dann "den wunderbaren Zwängen literarischer Gestaltung fügte". Das kann man wohl sagen, denn Tulla Pokriefke wird generationenüberlagernd zur eigentlichen Protagonistin der Novelle. Sie ist ein Fluchtopfer par excellence, verliert auch ihre Eltern, die nur kurz erwähnt werden, verachtet ihren schwächlichen in der Gustloff-Nacht geborenen Sohn und nimmt sich ihres Enkels Konrad an, dem sie schließlich den Computer schenkt, womit dieser im ideologischen Kielwasser der Nazis als "Wilhelm" durchs Internet surft .

    Ihren Sohn, der mal für die Springer Presse, dann aber auch für die linke TAZ als Journalist ohne eigentliche Gesinnung schreibt, hat sie oft aufgefordert, die Geschichte der Gustloff und somit, wie sie es sieht, das Verbrechen der Torpedierung des Schiffes durch ein sowjetisches U-Boot aufzuschreiben. Der Erzähler liefert denn auch grausame Schilderungen über sowjetische Eroberer gegen Kriegsende.

    "So wird, so kann es gewesen sein. So ungefähr ist es gewesen. Als wenige Tage nach dem Vorstoß der sowjetischen II. Gardearmee die Ortschaft Nemmersdorf von Einheiten der deutschen 4. Armee zurückerobert wurde, war zu riechen, zu sehen, zu zählen, zu fotografieren und für alle Kinos im Reich als Wochenschau zu filmen, wie viele Frauen von russischen Soldaten vergewaltigt ,danach totgeschlagen, an Scheunentore genagelt worden waren. T-34-Panzer hatten Flüchtende eingeholt und zermalmt. Erschossene Kinder lagen in Vorgärten und Straßengräben. Sogar französische Kriegsgefangene, die nahe Nemmersdorf in der Landwirtschaft hatten arbeiten müssen, sind liquidiert worden, vierzig an der Zahl, wie es hieß."

    Das Versenken der Gustloff durch drei sowjetische U-Boot-Torpedos wertet Grass dagegen auch heute keineswegs als Kriegsverbrechen, sondern als Katastrophe, denn der Zweck der Fahrt sei auch militärisch gewesen, weil auf der Fahrt von Gotenhafen nach Kiel etwa 1000 Marinerekruten mit an Bord waren. Auch uniformierte Marinehelferinnen und Flakgeschütze. Grass wörtlich: " Der russische U-Boot-Kommandant, der das Schiff versenkt hat, hat sich korrekt verhalten."

    Auch hier liefert Grass eine weitere Ebene. Er hat die persönliche Geschichte des U-Boot Kommandanten Alexander Marinesko mit eingewoben, der, ein Trinker und Hallodri, offenbar Erfolge brauchte, um die sowjetische Militärjustiz, die gegen ihn ermittelte, milde zu stimmen.

    So gerät denn das Werk in weiten Passagen auch zu einer umfassend recherchierten, geradezu journalistisch aufgemachten Story, die einfach fesselnd geschrieben ist.

    Die eingangs undurchsichtige, zumindest aber unübersichtliche Exposition entwickelt sich so zu einem Meisterwerk historisch-fiktiver Erzählkunst.

    Dass gegen Ende tatsächlich aus der virtuellen Konfrontation zwischen Wilhelm und David tödlicher Ernst wird, dass die Eltern der Computerkids versöhnlerisch über ihre Versagensgründe diskutieren, dass letztlich nur Mutter Tulla selbstgerecht ihr Weltbild konserviert, das mag für Grass die logische Konklusion nach dem Tabubruch sein. Seine zum Erscheinen des Buches öffentlichen Äußerungen darüber, dass das Vertriebenenproblem in Deutschland zu lange zu einseitig gesehen worden sei, ist gewiss mehr als nur ein billiger Vermarktungsgag. Das hätte Grass nicht nötig. Es ist wohl doch das nach außen gekehrte schlechte Gewissen einer wichtigen, nicht nur literarischen Stimme in Deutschland. Dass dennoch, bislang jedenfalls, mehr das Feuilleton als die Politik diese Thematik aufgreift, scheint auch ein Beleg für die Ratlosigkeit der Generation, die jetzt in Deutschland das Sagen hat und für die Notwendigkeit dieser Novelle zu sein.

    Rainer Burchardt über Günter Grass: Im Krebsgang. Eine Novelle. Erschienen im Steidl Verlag Göttingen, 224 Seiten zum Preis von EUR 18.