Arendts Überlegungen stehen seit dem Beginn dieses Jahrhunderts im Zentrum vielfältiger Diskussionen über den rechtlichen Status von Flüchtlingen und was Menschsein in einer globalisierten Welt bedeuten kann. Der Essay von Thomas Meyer rekonstruiert Arendts Theorie und fragt kritisch nach den Grenzen und Möglichkeiten ihrer Überlegungen.
Der Philosoph und Judaist Thomas Meyer ist Professor am Lehrstuhl für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München, Schwerpunkt Ideengeschichte 19./20. Jahrhundert, Jüdische Philosophie 19./20. Jahrhundert und Kulturphilosophie.
"Mitwohner sollen wir des Lands hier sein und frei,
Geschützt vor Zugriff, vor dem Raub durch irgendwen;
Und keiner der Bewohner soll, kein Fremder uns
Wegführen; sollt es sein, daß man Gewalt gebraucht,
Soll, wer nicht eilt zu Hilfe von den Bürgern hier,
Ehrlos sein, Flüchtling, durch des Volks Beschluß verbannt.
So war das Wort, das, überzeugend, sprach für uns
Pelasgias Fürst, vor Zeus', des Flüchtlingsschützers, Zorn,
Dem schweren, warnt' er, den in Zukunft nie die Stadt
Großmästen dürfe; wider Gast und Landeskind".
Geschützt vor Zugriff, vor dem Raub durch irgendwen;
Und keiner der Bewohner soll, kein Fremder uns
Wegführen; sollt es sein, daß man Gewalt gebraucht,
Soll, wer nicht eilt zu Hilfe von den Bürgern hier,
Ehrlos sein, Flüchtling, durch des Volks Beschluß verbannt.
So war das Wort, das, überzeugend, sprach für uns
Pelasgias Fürst, vor Zeus', des Flüchtlingsschützers, Zorn,
Dem schweren, warnt' er, den in Zukunft nie die Stadt
Großmästen dürfe; wider Gast und Landeskind".
Knapp 2.400 Jahre alt sind diese Zeilen des Aischylos. Doch die Verse aus seiner Tragödie "Die Schutzflehenden" lesen sich, wie für heute gültig:
50 aus Ägypten fliehende Mädchen überqueren das Mittelmeer und finden Schutz in der griechischen Stadt Argos, nachdem König Pelasgos und sein Volk zugestimmt haben. Und obwohl das Stück die Grundkonstellation Vertreibung, Flucht und die Verpflichtung des Staates Bürgern und Schutzsuchenden gegenüber sogar ausdrücklich mit der Frage nach dem Zusammenhang von Demokratie und Asyl verbindet - so ist es doch eine Geschichte des Gottes Zeus.
"Gleichwohl tut's not, daß Zeus', des Flüchtlingsschützers, Groll
Man scheut. Weckt er bei Menschen doch die höchste Furcht."
Man scheut. Weckt er bei Menschen doch die höchste Furcht."
Und wenig später heißt es:
"Gehör gab volkgewinnend-klugen Wendungen
Pelasgias Volk, und Zeus bracht' es zu gutem Schluss."
Pelasgias Volk, und Zeus bracht' es zu gutem Schluss."
Ein Gott lenkt die Geschicke. Kein Politiker, kein Funktionär. Keine Beschlüsse internationaler Organisationen. Aischylos sorgt dafür, dass göttlicher und menschlicher Wille miteinander in Einklang kommen. Darin liegt gewiss der entscheidende Schritt gegenüber all seinen Vorgängern. Doch damit endet auch Aischylos Kompetenz.
Warum aber überhaupt in die Antike zurückgehen?
Totenstille in der Philosophie
Seit Kant gibt es umfassende Versuche, Staatsrecht, Völkerrecht und sogar das Weltbürgerrecht den modernen Flüchtlingsbewegungen anzupassen. Und gerade die politische Philosophie hat immer wieder betont, dass mit der klassischen Dreiteilung von Staat, Staatsvolk und Staatsgebiet die völkerrechtlichen Probleme nicht mehr gelöst werden können - Probleme politisch Verfolgter, Asylsuchender, sogenannter Wirtschaftsflüchtlinge oder von Menschen, die auf die Anerkennung der Staatsbürgerschaft warten.
Und dennoch ist gegenwärtig aus der Philosophie so gut wie nichts zu hören, was das Stimmengewirr zwischen den Ausrufen "Wir schaffen das!" und "Untergang des Abendlandes" unterbrechen würde. Zwar finden sich immer wieder Artikel oder Gespräche mit Vertretern des philosophischen Fachs, doch man merkt ihnen an, dass sie keine Sprache für die aktuelle Situation haben. Nicht für die politischen Ursachen, nicht für das Elend, für die Möglichkeiten und Gefahren dessen, was gerade passiert. Soziologen, Politologen und Kulturwissenschaftler finden offensichtlich weitaus leichter Begriffe, um die neue Lage zu beschreiben und zu analysieren. Und so will der Eindruck nicht schwinden, dass zu der Frage, die das Schicksal Deutschlands, Europas oder gar der gesamten westlichen Welt besiegeln könnte, den Freunden der Weisheit nichts einfällt.
Vielleicht ist diese Erwartungshaltung an die Philosophie schlicht überzogen - an eine sich ständig ausdifferenzierende, zugleich aber traditionell langsam reagierende Wissenschaft? Warum sollen Philosophen genau dann etwas zu sagen haben, wenn Politiker wie Funktionäre sich ständig wiederholen und der angeblichen Meinung des Volkes hinterherlaufen?
"Wir haben unser Zuhause und dann die Vertrautheit des Alltags verloren. Wir haben unseren Beruf verloren und damit das Vertrauen eingebüßt, in dieser Welt irgendwie von Nutzen zu sein."
Ein Name allerdings taucht immer wieder auf, wenn von "Flüchtlingen" und der "Philosophie" gesprochen wird: der von Hannah Arendt.
"Wir haben unsere Sprache verloren und mit ihr die Natürlichkeit unserer Reaktionen, die Einfachheit unserer Gebärden und den ungezwungenen Ausdruck unserer Gefühle. Unsere Identität wechselt so häufig, dass keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind. [...] und das bedeutet den Zusammenbruch unserer privaten Welt."
Dieses Zitat klingt zeitlos, wie eine Strophe aus dem ewiggültigen Klagelied von Entrechteten, Staatenlosen, von Flüchtlingen. Vielleicht deshalb hört und liest man diese Zeilen seit dem Beginn der sogenannten "Flüchtlingskatastrophe" immer wieder.
Nichts Substanzielles hinzuzufügen
Sie stammen aus Hannah Arendts Essay "We Refugees", einem kurzen Text, veröffentlicht im Januar 1943 im Menorah Journal. Es scheint, als habe der knappen Beschreibung des Verlusts von beruflicher Existenz, der Sprache und der Emotionalität in ihrem Artikel bis heute niemand etwas Substanzielles hinzufügen können. Zumindest dann, wenn man den unzähligen Positionspapieren von Parteien, Aktivisten und Stiftungen glauben mag, die sich jetzt philosophischen Rat holen - wenn schon nicht bei Aischylos, dann wenigstens bei Arendt.
Hannah Arendt, die nach dem Studium bei Martin Heidegger und Karl Jaspers gleich 1933 aus Deutschland nach Frankreich flüchtete, kam über Portugal erst im Mai 1941 in den USA an.
Womöglich hat die Vielschreibende und ständig Arbeitende "We Refugees" innerhalb weniger Stunden aus dem Ärmel geschüttelt. Ein Text, der zunächst ganz auf die eigene Situation bezogen ist. Sie äußert sich erstmals über ihr eigenes Schicksal und das anderer europäischer Juden, die sich vor der nationalsozialistischen Vernichtungsmaschinerie retten konnten. Mit der Figur des Herrn Cohn beschreibt sie darin die Weigerung vieler Jüdinnen und Juden, die den Nazis entkommen konnten, sich als "Flüchtlinge" zu bezeichnen und die versuchten, in Staaten und Gesellschaften ihrer Ankunft normale Bürger zu werden.
Erstaunlicher Optimismus
Im "Wir" von Arendts Essay verschmelzen das eigene Schicksal und das derer, die sie analysiert. Dieses "wir" ist immerhin sicher, ist mehrfach gerettet worden, hat einen erstaunlichen Optimismus behalten. Und ja, man ist auf das Problem der "Flüchtlinge", die jetzt Entrechtete und Staatenlose sind, aufmerksam geworden.
Arendt plädiert gegen die Anstrengung der Assimilation und für ein neues, ein politisches Selbstbewusstsein der Flüchtlinge, für ihre Sache einzutreten.
Sie wechselt rasch die Perspektive - aus dem "wir" wird ein "ich". Ein Ich, das ganz alleine die Verantwortung für die folgenden Überlegungen übernimmt, sie nicht auf denjenigen lasten lässt, die millionenfach das gleiche Schicksal teilen.
"Doch ehe jemand den ersten Stein auf uns wirft, sollte er sich daran erinnern, dass wir als Juden keinerlei rechtlichen Status in der Welt besitzen."
Ausgestoßen, aber nicht wieder angekommen - so ließen sich Arendts Überlegungen zusammenfassen. Reduziert auf das nackte Mensch-Sein und nur als solches von den aufnehmenden Staaten anerkannt, fällt dann das Identitätsmerkmal weg, weswegen die Juden ermordet werden sollten: das Jude-Sein.
"Mit uns Flüchtlingen hat sich die Bedeutung des Begriffs 'Flüchtling' gewandelt, ... so dass das Wort Flüchtling, das einst einen fast Ehrfurcht gebietenden Klang hatte, die Vorstellung von etwas zugleich Verdächtigem und Unglückseligem ... erregt."
Dieses Zitat zeigt, dass es sinnlos ist, auf Aischylos und all die Traditionen zurückzugreifen, die den Flüchtling automatisch mit seiner Schutzbedürftigkeit, seiner Verletzlichkeit in Verbindung brachten.
Im Niemandsland der Rechtlosigkeit
Es waren zumeist Einzelne, kleinere Gruppen allenfalls. Erst seit dem ersten Weltkrieg sind es ganze Völkerschaften, die sich im Niemandsland der Rechtlosigkeit befinden. Und auch für sie spricht Ahrendt, wenn sie schreibt,
"Unsere Identität wechselt so häufig, daß keiner herausfinden kann, wer wir eigentlich sind."
Doch es ist die jüdische Katastrophe, die Arendt zu einer radikalen Argumentation bewegt: Eine Radikalität, die offensichtlich bis heute zu herausfordernd ist. Es wird immer wieder vergessen: Sie geht dabei in zwei genau aufeinander abgestimmten Schritten vor.
Zunächst thematisiert sie den Eintritt der Juden in die Geschichte. Sie sind nicht länger ein Volk, das für sich selbst und von anderen als Modell biblischer Schicksalsmuster zu verstehen ist.
"Die Geschichte ist für sie kein Buch mit sieben Siegeln und Politik kein Privileg der Nichtjuden mehr."
Die nationalsozialistische Vernichtungsmaschinerie setzt Ermordete und Lebende gleichermaßen den brutalen Gegebenheiten der geplanten Auslöschung aus. Beide haben eine gemeinsame Geschichte.
Flüchtlingsfrage ist universell geworden
Aber da ist noch etwas Entscheidendes. Das nationalsozialistische Deutschland unterscheidet nicht wirklich. Um der europäischen Juden habhaft werden zu können, werden ganze Nationen zerstört und aufgelöst. Die jüdischen Flüchtlinge wissen,
"dass unmittelbar nach der Ächtung des jüdischen Volkes die meisten europäischen Nationen für vogelfrei erklärt wurden. Die von einem Land ins andere vertriebenen Flüchtlinge repräsentieren die Avantgarde ihrer Völker."
Mit der Benennung der Flüchtlinge als Avantgarde ihrer Völker spielt Arendt den letzten Trumpf ihres Essays aus. Sie spitzt zu, was als Aussage im Jahre 1943 kaum auszuhalten ist: Durch die geplante Vernichtung der europäischen Juden sitzen alle mit den Überlebenden der Vernichtung in einem Boot. Denn was heute den Juden widerfährt, so erlebt es Herr Cohn in "We refugees", kann jedem anderen auch passieren. Was letztlich nichts anderes heißt, als das all das, worauf die früheren Unterscheidungen basierten, mit deren Hilfe man das Verhältnis von Juden und Nichtjuden beschrieb, nicht länger gilt.
Übersetzt heißt das: Die Flüchtlingsfrage ist universell geworden. Sie erfordert eine Überprüfung des Selbstverständnisses von Staaten, das heißt: von der Vorstellung eines in Staatsgrenzen lebenden Staatsvolks, dessen Grenzen durch den Staat garantiert werden.
Außerhalb jeder staatlichen Ordnung
Diese "alte Dreieinigkeit", wie Arendt später sagen wird, kann nicht länger die Lösung für das sogenannte Flüchtlingsproblem sein. Also taugte der moderne Nationalstaat, wie er sich seit der französischen und der amerikanischen Revolution als Modell für die Demokratien durchgesetzt hatte, nicht länger als Lösung. Der Nationalsozialismus beendete nicht nur die bisherige Geschichte, er stieß auch diejenigen in den Abgrund, die glaubten, nach einer schier endlosen Reihe von Verfolgungen schließlich gerettet zu werden.
Was Arendt damit genau meinte, erläuterte sie wieder in der Zeitschrift Menorah zwei Jahre später: In ihrem Essay "Zionism Reconsidered" griff sie die Pläne für die Gründung eines Staates Israel in Palästina an.
Das Hauptargument dieses schwer zugänglichen Textes knüpfte unmittelbar an die Überlegungen ihres Essays "We Refugees" an. Wenn die Nationalstaaten weder dem Sturm der Nationalsozialisten gewachsen waren, noch das Problem der Flüchtlinge in den Griff bekamen, dann verbot sich eine Rückkehr zu genau einem solchen Staatsmodell. Wer glaubte, so Arendt, man könne nach den Erfahrungen der Shoah einen jüdischen Staat als klassischen Nationalstaat konzipieren, der sollte sich das Schicksal des Flüchtlings klar vor Augen führen. Denn der Flüchtling ist derjenige, der außerhalb jeder staatlichen Ordnung existiert. Einige Jahre später wird Arendt ihre Überlegungen in ihrer Studie "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" so zusammenfassen:
"Daß es so etwas gibt wie ein Recht, Rechte zu haben - und dies ist gleichbedeutend damit, in einem Beziehungssystem zu leben, in dem man aufgrund von Handlungen und Meinungen beurteilt wird -, wissen wir erst, seitdem Millionen von Menschen aufgetaucht sind, die dieses Recht verloren haben und zufolge der neuen globalen Organisation der Welt nicht imstande sind, es wiederzugewinnen."
Recht, Rechte zu haben
Diese inzwischen fast zur Weltformel verklärte Aussage war nur der Anfang für eine umfassende Reflexion der Situation in Arendts Schriften. Daran erinnert der an der New School for Social Research lehrende israelische Philosoph Omri Boehm:
"Arendts Antwort auf die Situation 1945 in Palästina spiegelt sich in der berühmten Wendung vom 'Recht, Rechte zu haben'. Arendt wusste aber, dass dieses Recht nur Ausdruck des Problems war, nicht seine Lösung. Dafür wäre eine politische Neuformulierung vonnöten. Wahrscheinlich stand diese Überzeugung hinter ihrer Entscheidung, mit dem Zionismus zu brechen. Denn während Arendt das Problem der jüdischen Flüchtlinge lösen wollte, indem sie zu Menschen mit Rechten werden sollten, zog es der Zionismus vor, in alten Kategorien zu denken und die Juden zu Bürgern eines eigenen Staates zu machen."
Omri Boehm benennt den an dieser Stelle entscheidenden Punkt. Die Rede von der "Avantgarde", die die Flüchtlinge darstellen, und die uns auffordert, alle früheren geschichtlichen Erfahrungen und Begriffe kritisch zu überprüfen, um das Neue der Lage ganz erfassen zu können, bekommt in der Analyse des Zionismus erstmals Kontur. Es ging Arendt nicht darum, den in aller Welt zerstreuten Juden das Recht auf Sicherheit und eine neue Heimat abzusprechen. Vielmehr versuchte sie, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass dafür zunächst das richtige politische Modell gewählt werden müsse, dass nicht wieder das vollkommene Versagen von Nationalstaaten und Völkerbund erlebte, von denen keiner seine Bürger vor Übergriffen von Feinden schützen konnte.
Es sei an dieser Stelle daran erinnert, dass Arendt auf ihren 1943 publizierten Text "We Refugees" zunächst keinerlei Reaktionen bekam. Man hatte buchstäblich andere Sorgen. Das war bei dem Essay über den Zionismus schon anders, auch wenn die Kritik aus dem engsten Freundeskreis kam. Gershom Scholem, der Erforscher der jüdischen Mystik, der seit 1923 in Jerusalem lebte, schrieb seiner Freundin Hannah Arendt am 11. November 1946:
"Aber schade ist es doch um uns - ich dachte mich in gewissen anarchistischen Grundüberzeugungen mit Ihnen einig zu finden für die Sie nur Mitleid haben. Aber was mich an Ihren antizionistischen Leistungen mehr als der Inhalt verletzt, über den man diskutieren kann, ist mehr noch der Ton, der Diskussion ausschließt."
Und Scholem glaubte auch, den Grund dafür zu kennen. Im gleichen Brief schreibt er:
"Meine Erfahrungen in Europa sind sehr trübselig und niederdrückend und ich bin bedrückt nach Haus gekommen. Die Distanz zwischen den verschiedenen Judentümern in Europa und Amerika und Palästina ist meines Erachtens katastrophal und nicht mehr einzuholen, durch keine wie immer ausdenkbare Theorie."
Umbau der etablierten politischen Begriffe
Damit sprach Scholem deutlich aus, was Arendt bislang nur angedeutet hatte. Es fehlte eine Theorie. Und wollte sie gegen Scholems Diktum eine solche Theorie des Flüchtlings entwickeln, dann wäre dafür nichts weniger zu leisten als ein Umbau der etablierten politischen Begriffe.
Arendt stellte sich in den folgenden Jahren genau dieser Herausforderung. Nicht systematisch, nicht frei von Irrungen und Wirrungen, doch in der festen Überzeugung, eine gültige Theorie zu finden.
Das wichtigste Ergebnis dieser Anstrengungen war die Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, in der Arendt "Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft" in theoretischen und historischen Analysen in den Blick nahm. 1951 erstmals in englischer Sprache erschienen war die vier Jahre später vorgelegte deutsche Ausgabe schlicht ein anderes Buch. Das lag nicht zuletzt an Hannah Arendt selbst, die die Studie übersetzte. Sie suchte eine eigene Darstellungsform für die Probleme, die sie behandelte. Besonders eindrücklich ist ihr das gelungen durch die Einarbeitung eigener Erfahrungen in den Abschnitten über den Antisemitismus und in der Auseinandersetzung mit der Flüchtlingsfrage.
Keine Teilhabe
Historiker wiesen Arendts Hauptwerk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft zurück, aber das nahm sie bewusst in Kauf.
Einerseits geht es ihr um die möglichst genaue Herausarbeitung der Figur des Flüchtlings. Er ist nunmehr nicht mehr "Avantgarde", da sie ja glaubt, ihn zumindest theoretisch fassen zu können. Er ist jetzt das paradigmatische Ereignis des 20. Jahrhunderts.
Dem Flüchtling steht nichts mehr zur Verfügung: weder Beruf noch Sprache, weder Emotionalität noch Handlungsoptionen. Er hat keine Teilhabe mehr an dem, was man Kultur nennt. "Weltlosigkeit", "stumme Individualität", "lebender Leichnam" - er ist der Andere, der Outlaw, ausgeschlossen aus der Gesellschaft - und zugleich vollständig von ihr abhängig.
"Das Resultat der Katastrophenfolge, die durch den Ersten Weltkrieg eingeleitet wurde, war, dass mehr und mehr Menschen in Situationen gerieten, die weder von dem politischen noch von dem gesellschaftlich herrschenden System vorhergesehen waren."
Schwäche von Arendts Analysen
Wenn Arendt in ihren Ausführungen davon spricht, dass die Menschenrechte den Menschen auf sein bloßes Menschsein reduzieren, um ihm, diesem nackten Menschen, Schutz zu gewähren, dann zeigt sich darin nur die große Abstraktheit und gleichzeitige Schwäche ihrer Analysen.
"Der Verlust der Menschenrechte findet also nicht dann statt, wenn dieses oder jenes Recht, das gewöhnlich unter die Menschenrechte gezählt wird, verloren geht, sondern nur, wenn der Mensch den Standort in der Welt verliert, durch den allein er überhaupt Rechte haben kann und der die Bedingung dafür bildet, dass seine Meinungen Gewicht haben und seine Handlungen von Belang sind."
Denn die Menschenrechte versagen ausgerechnet an jenem neuen politischen Menschen, der überhaupt deren Ausformulierung motiviert hatte. Sie versagen an denjenigen, die nichts weiter haben als die
"abstrakte Nacktheit ihres Nichts-als-Menschseins".
Totgeschwiegener Essay
Es ist übrigens erstaunlich, wie wenig Arendts Essay über den Flüchtling, der 1986 erstmals in deutscher Übersetzung erschien, von ihren Zeitgenossen gelesen wurde. Er wurde in gewisser Weise sogar totgeschwiegen.
Die einst sehr einflussreiche und weitverbreitete jüdische Zeitschrift Menorah, in der Arendt publiziert hatte, wurde 1962 eingestellt.
Zwei Jahre später erschienen die besten Artikel der Menorah in einer knapp 1000-seitigen Anthologie erneut, aber Arendts Essays fehlten. Offensichtlich hatte der Herausgeber, die Jewish Publication Society, kein Interessedaran, die früheren Texte der Autorin von Eichmann in Jerusalem erneut publik zu machen. Arendt war mit ihrem Prozessbericht 1961 in bestimmten Kreisen zur unerwünschten Person geworden. Doch auch als der Verleger Ron Feldman "We Refugees" nach Arendts Tod 1978 erstmals wieder veröffentlichte, war die Reaktion ausschließlich negativ.
Der Philosoph Werner Dannhauser etwa bescheinigte Arendt zwar einen flotten Stil und die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge verständlich darzustellen. Doch "We Refugees" ordnete er lediglich als eine autobiografische Bagatelle ein, und Arendts "Zionism reconsidered" sah er als Ausdruck ihres böswilligen Unverständnisses der Lage der Juden in Palästina.
Wer in Arendts Texten nach bis heute gültigen Aussagen zur Flüchtlingsfrage sucht, darf nicht bei den bekannten Zitaten stehen bleiben. Wer sucht, wird fündig werden, wenn auch an abgelegenen Stellen ihres Werks.
Bis zu ihrem Tod 1975 hatte Arendt sich fortlaufend und systematisch für die Flüchtlings-Problematik interessiert. Anlässlich einer Radio-Diskussion am 6. März 1963 in Köln fasste sie ihre Thesen einleitend präzise zusammen:
Die Grenze "wirklicher Demokratie"
"Die Lebensunfähigkeit gerade dieser Staatsform - und die Form scheitert an Fragen des Lebens, denn das sind alle wirtschaftlichen Fragen, wenn Sie sie recht betrachten - in der modernen Welt ist längst erwiesen, und je länger man an ihr festhält, umso böser und rücksichtsloser werden sich die Pervertierungen nicht nur des Nationalstaats, sondern auch des Nationalismus durchsetzen. Man sollte nicht vergessen, dass die totale Herrschaft vor allem auch in der Form des Hitler-Regimes, nicht zuletzt dem Zusammenbruch des Nationalstaats und der Auflösung der nationalen Klassengesellschaft geschuldet war. Es war im Grunde ein Zersetzungsprodukt, wenn man es rein objektiv betrachten will. Der Souveränitätsbegriff des Nationalstaats, der ohnehin aus dem Absolutismus stammt, ist unter heutigen Machtverhältnissen ein gefährlicher Größenwahn. Die für den Nationalstaat typische Fremdenfeindlichkeit ist unter heutigen Verkehrs- und Bevölkerungsbedingungen so provinziell, dass eine bewusst national orientierte Kultur sehr schnell auf den Stand der Folklore und der Heimatkunst herabsinken dürfte. Wirkliche Demokratie aber, und das ist vielleicht in diesem Zusammenhang das Entscheidende, kann es nur geben, wo die Machtzentralisierung des Nationalstaats gebrochen ist und an ihre Stelle die dem föderativen System eigene Diffusion der Macht in viele Machtzentren gesichert ist."
Arendts Texte sind oftmals nur noch in einer sehr grundsätzlichen Weise auf die heutige Situation übertragbar. Aber vieles von dem, was sie 1963 in dem Radiogespräch äußerte, hat Bestand. Und mehr noch: Auch wenn Arendt die Fortschreibung des internationalen Rechts nicht kennen konnte, hat sie die Konsequenzen der Entwicklung erschreckend genau vorhergesehen.
Dass das Ende des Nationalstaats ein dramatisches Machtvakuum hinterlassen hat, wird jedem klar, der die Entwicklungen in Afghanistan, Libyen und vielen afrikanischen Staaten beobachtet. Die sogenannte internationale Gemeinschaft ist bis heute offensichtlich nicht in der Lage, die Verantwortung für zerbrochene Staaten und entrechtete Völker zu übernehmen. Insofern stimmt Arendts Analyse noch immer. Und dass dies sich in der Figur des Flüchtlings konzentriert, diese Einsicht verdanken wir ausschließlich Hannah Arendt.
Notwendigkeit weltweiter egalitärer Strukturen
Die Welt hat sich gedreht. Neue intellektuelle Stimmen setzen anders und neu an, wenn sie Analyse und eigene Erfahrungen miteinander verbinden. Aktuelles Beispiel etwa ist Achille Mbembes Buch Kritik der schwarzen Vernunft aus dem Jahr 2014, das die Geschichte der als Sklaven gehaltenen Vorfahren als Beispiel für die Notwendigkeit weltweiter egalitärer Strukturen begreift.
Oder der vor kurzem auf Deutsch erschienene Roman Erschlagt die Armen!, in dem die Inderin Shumona Sinha die eigene Flucht und die Arbeit mit Flüchtlingen als Zwangssystem entlarvt.
Doch was in Literatur, Soziologie und Politikwissenschaft zu ausführlichen Reflexionen führt, hat in der Philosophie kaum Resonanz gefunden.
Der italienische Philosoph Giorgio Agamben galt für einige Zeit als derjenige, der Hannah Arendts Überlegungen hätte weiterführen können. Seine Idee des "nackten Lebens", die ausgehend von der Ausnahmesituation in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern eine Ethik entwickeln wollte, verblieb jedoch ganz im Stadium der Kritik am liberalen Rechtsstaat. Eine Weiterentwicklung dessen, was bei Arendt zunächst "Avantgarde" und dann die Grenze des Menschen bezeichnete, nämlich die sehr konkrete Figur des "Flüchtlings", wurde bei Agamben zum Fetisch einer Scheinradikalität.
Man wird lange suchen müssen, will man plausible Anwendung vonArendts Überlegungen auf unsere Gegenwart finden. Womöglich ist dies erstmals der jungen türkischen Politikwissenschaftlerin Ayten Gündoğdu gelungen. Sie lehrt am Bernard College der New Yorker Columbia University und hat in ihrer soeben auf Englisch erschienenen Studie "Rechtlosigkeit im Zeitalter der Rechte" eine gelungene Konfrontation zwischen modernen Rechtstheorien und deren Umsetzung mit Arendts Überlegungen zum "Flüchtling" vorgelegt.
Der schöne Schein des Namens Demokratie
Insbesondere die Sorge Arendts, dass die auf die Aufklärung zurückgehende Einheit Staat-Staatsvolk-Staatsterritorium gänzlich Institutionen überlassen wird, scheint sich, so Gündoğdu, herumgesprochen zu haben. Denn Institutionen sind nur so gut und hilfreich, wie diejenigen, in deren Namen sie agieren. Der schöne Schein des Namens Demokratie und der sie tragenden? Institutionen garantiert eben nichts.
Auch der Frankfurter Philosoph Christoph Menke hat gerade mit einer umfassenden Kritik der Rechte einen Versuch vorgelegt, Recht über die ihm innewohnende Gewalt zu bestimmen. Der "Flüchtling", so könnte man Menkes Versuch lesen, der in einem Land aufgenommen und zum Bürger wird, erhält die bürgerlichen Rechte. Diese Rechte aber sind nur dann Rechte, wenn sie - gegen andere - durchgesetzt werden. Und dieser scheinbar natürliche Vorgang setzt voraus, dass die Rechte des einen, die Beschneidung der Rechte von anderen sind. Und wer Rechte erhält und wer nicht, das regeln Institutionen und Gerichte. Deshalb möchte Menke - hierin kann man ihn von Arendt zumindest inspiriert sehen - zu einem "neuen Recht" vorstoßen. Menke schließt sein Buch mit den Worten:
"Das neue Recht ist daher das Recht, dessen Gewalt darin besteht, sich aufzulösen: die Gewalt, die mit ihrer Ausübung sofort beginnen wird abzusterben. Die Gewalt des neuen Rechts ist die Gewalt der Befreiung."
Abwehr böser Dämonen
Vielleicht aber kann doch das Theater die Dringlichkeit der Situation der Flüchtlinge politisch und philosophisch am präzisesten nachvollziehen. Elfriede Jelinek hat sich in "Die Schutzbefohlenen", einer theatralischen Anklageschrift, unter anderem mit Aischylos' "Schutzflehenden" befasst.
Sie führt uns an die Grenzen bürgerlicher Sicherheit, führt das Regelsystem ad absurdum. Dem Flüchtling wird geholfen, weil er das mögliche eigene Schicksal der Helfenden verkörpert. Das ist für eine (stets zynische) Jelinek kein Ausdruck von Menschenliebe, sondern kommt einer Abwehr böser Dämonen gleich, die einen selbst befallen können. Man darf das getrost als Arendtsche Gedankenfigur annehmen.
Es muss festgehalten werden: Wer sich auf Hannah Arendt beruft, beschwört eine Theoretikerin, die immer in gedanklicher Bewegung war. Sie zu zitieren heißt vor allem, sie weiterdenken zu müssen. Im Umgang mit der Flüchtlingsfrage wird sich zeigen, ob wir sie aufmerksam gelesen haben.