Gemeint ist die Schweiz. Und wenn dann der Kritiker gar noch Jude ist und seine Kritik mit Seitenhieben auf seine Heimat verbindet, dann hallen die helvetischen Berge wider vom Aufschrei des Protests, und antisemitische Untertöne sind auch dabei.
Der 'Bösewicht' und 'Nestbeschmutzer' heißt Hans J. Bär, bis 1997 Chef der Bank Julius Bär, eine der ersten Adressen an der Zürcher Bahnhofstraße. Der Gegenstand der Erregung ist seine Lebensgeschichte, genauer gesagt: ihr Schlussteil. Bis zu diesen letzten fünfzig Seiten seiner Autobiographie erzählt der große alte Mann der Schweizer Geldwelt, witzig und farbig, bisweilen auch ironisch, wie er und sein Bankhaus groß wurden und wie sie durchs Leben und manche Bankenkrise kamen. Der Titel Seid umschlungen, Millionen gibt den entsprechenden Vorgeschmack. Dann aber wird Bärs Ton scharf, bisweilen auch bitter. Dann rechnet der Ruheständler, der keine Rücksicht mehr nehmen muss, ab.
Dass bei einem Versagen des Managements die Leute auf der Strasse stehen, während sich die Unternehmensspitzen quietschvergnügt und mit randvollem Geldbeutel zur Ruhe setzen können, ist eine Verhöhnung aller gesellschaftlichen Prinzipien und eine Anstiftung zum Klassenkampf von oben.
Die Kritik an einem Spitzenmanagement ohne Moral und Manieren bleibt nicht anonym und trifft auch die eigene Branche:
Um so schwerer wiegt, dass im Spätsommer 2003 eine Schweizer Großbank (der Crédit Suisse) - ohnehin schon auf allen Kontinenten von der Finanzaufsicht gejagt - in New York einen Strafbefehl über 200 Millionen Dollar erhält, ohne dass sich unsere Bankenaufsicht den Verwaltungsrat vorknöpft.
Für Bär tragen die Verwaltungsräte ein gerüttelt Maß Mitschuld am Sittenverfall in den Chefetagen der Wirtschaft. Statt dort die Geldgier durch Kontrolle zu beschränken, heizen sie sie an, um selbst davon zu profitieren - nicht nur in der Schweiz, sondern weltweit. An der Fusion von Daimler-Benz mit Chrysler macht Bär einsichtig, wie das Bereicherungskarussell in Gang gehalten wird:
Die deutschen Vorstände verdienten solide, aber für amerikanische Verhältnisse nicht gerade umwerfend. Die Fusion hat die Mercedes-Aktionäre sehr viel Geld gekostet, ihr Papier hat zwei Drittel seines Wertes verloren, aber für den Daimler-Vorstand hat es sich gelohnt. Sie erhalten (!) heute nicht zwei Drittel mehr, sondern gleich ein Vielfaches. Dass die Verwaltungsräte mitmachen, liegt einfach daran, dass sie im Hauptberuf Vorstand in einem Finanz- oder Industriekonzern sind und als solche dann unter Verweis auf die im Haus DaimlerChrysler üblichen Bezüge bei ihren Verwaltungsräten vorstellig werden. Die wiederum profitieren davon für sich selber.
Mit solcher Insiderschelte macht sich Bär keine Freunde in der geschlossenen Gesellschaft der Nadelstreifenträger, zumal er immer wieder sarkastisch auf die vielen Nieten in ihren Reihen verweist. Vollends zum Gott-sei-bei-uns wird er freilich fürs
schweizerische Geld- und Politikestablishment mit seiner wenig schmeichelhaften Einschätzung der aktuellen Lage der Alpenrepublik, in Sonderheit seinem Angriff aufs eidgenössische Allerheiligste:
... das Bankgeheimnis ... ist ein defensives Instrument, das die Schweiz vom allgemeinen Wettbewerb verschont und das uns ...'fett, aber impotent macht.
Freilich will Bär das Bankgeheimnis nicht abschaffen, wohl aber begrenzen, und er hat dafür auch einen historischen Grund.
Das Bankgeheimnis macht die Schweiz nämlich nicht nur zur Oase von Fluchtgeld. Es hilft ihr auch, sich ihrer Vergangenheit zu entziehen. Ein halbes Jahrhundert verschanzten sich Schweizer Banken hinter dem Bankgeheimnis, wenn sie Auskunft über nachrichtenlose Konten von Nazi-Verfolgten geben sollten. Ihre Geheimnistuerei kam nicht von ungefähr. Sie hatten sich aus einem Teil dieser Konten selbst bedient und waren nicht begeistert, als ihr "unorganisierter Diebstahl" - so Bär - Ende der neunziger Jahre doch noch ans Licht kam. Und noch weniger begeistert waren sie, als sie dafür unter US-amerikanischem Druck 1,25 Milliarden Dollar Entschädigung zahlen mussten. Dass sie mit dieser Summe glimpflich davonkamen, legt Bär in seinen Memoiren dar. Als Mitglied der Volcker-Kommission, die die Rolle der Schweizer Banken gegenüber Nazi-Deutschland untersuchte und die Entschädigungssumme festlegte, half er mit, den Bankplatz Schweiz vor internationaler Isolierung zu bewahren. Bärs Arbeit in der Kommission hatte aber auch noch andere Folgen. Aus dem bis dahin indifferenten, weil säkular erzogenen wurde ein bewusster Jude, der reichlich schockiert war, als er zur Kenntnis nehmen musste, wie sich Schweizer Banken an den Vermögen in den Konzentrationslagern umgekommener Juden bereicherten:
Mir ist... ein heiles Stück Schweiz zusammengebrochen. Ich hatte mir nicht vorgestellt, solche Unanständigkeiten zu entdecken,
konstatiert er bitter, wenn auch geschönt formulierend, und merkt im Hinblick aufs helvetische Bankmilieu und einige Politiker desillusioniert an:
Sie haben nichts vergessen und nichts dazugelernt.
Bärs Fazit - eines unter mehreren - gilt freilich nicht nur für viele Bänker und bestimmte Politiker. Es gilt auch für weite Teile der schweizerischen Öffentlichkeit. Hier wie dort hängt man lieber der Legende einer 'jüdischen Verschwörung' gegen ein demokratisches 'Musterland' nach, als sich selbstkritisch einer Vergangenheit zu stellen, die nicht über jeden Zweifel erhaben ist. Die teilweise heftigen Reaktionen aus Finanzwelt und Politik auf Bärs Buch sind der schlagende Beweis für diese Form helvetischer Selbstgerechtigkeit.
Seid umschlungen Millionen, von Hans Bär. Das Buch ist beim Züricher Verlag Orel Füssli erschienen, hat 452 Seiten und kostet 29,50 Euro.