Seine erste Begegnung mit dem Fremden hatte Hans Joas, da war er 13. Protestanten sollten in seine Klasse kommen. Ins geschlossene katholische Milieu, in dem Joas aufwuchs – in den 50er- und 60er-Jahren in München.
"Innerhalb der Schule hieß es: Nächstes Jahr werdet ihr zusammengelegt, die Schulklassen. Da werden auch Protestanten dabei sein. Und es ist wirklich wahr: Ich war die Schulferien über gespannt, wie diese Protestanten sein werden. Das hört sich jetzt an, als würde man etwas über eine Jahrhunderte zurückliegende Vergangenheit erzählen. Aber so war Deutschland noch in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit."
Heute pendelt der Sozialphilosoph wie selbstverständlich zwischen den Welten, auch den religiösen: Hans Joas lebt in Berlin, in jüngerer Vergangenheit war er in Regensburg und Erfurt tätig. Außerdem lehrt er jedes Jahr mehrere Monate an der Universität von Chicago.
"Die Tatsache, dass ich so viel Zeit in den USA verbringe, hat beigetragen zu meinem Coming Out in dieser Hinsicht. Zum Mut, öffentlich erkennbar religiös zu sein. In den USA ist das ja nicht selten. Das ist in Deutschland, im akademischen Milieu und in beträchtlichen Teilen Deutschlands überhaupt, ganz anders."
"Klarheiten herstellen"
Der renommierte Wissenschaftler forscht zu religionssoziologischen Fragen, aber nicht ausschließlich. Seine Kernthemen sind der amerikanische Pragmatismus und der Historismus; Fragen von Krieg und Gewalt, der Wertewandel. Dass Joas sich zu seinem Katholisch-Sein bekennt, macht ihn angreifbar. Manche seiner Professoren-Kollegen halten ihn für befangen. Der Vorwurf: Er werde dem Idealbild des neutralen Professors nicht gerecht, der seinen Forschungsgegenstand von außen betrachtet.
"Ich bin mir sehr bewusst, dass ich als stark historisch orientierter Sozialwissenschaftler, der auch noch häufig über Religion arbeitet, sehr große Klarheit herstellen muss, wann ich etwas aus Gläubigkeit behaupte, oder wann ich etwas aus wissenschaftlicher Arbeit heraus behaupte."
Lässt sich das trennen – die eigene religiöse Identität und die Forschung über Religion? Joas argumentiert: In existenziellen Fragen sei niemand ein neutraler Beobachter.
"Zum Beispiel kann man spöttisch sagen: Wenn jemand auch nur die leiseste Sympathie mit dem Feminismus hat, ist dieser Mann oder diese Frau dann noch ein neutraler Beobachter der Frauenbewegung? Oder wenn jemand auch nur die leiseste Sympathie für Gewerkschaften hat, darf dieser Mensch sich dann noch mit der Arbeiterfrage beschäftigen? Es wird nie angewendet, es wird nur auf das Thema Religion angewendet."
Das Verbindende suchen
Als junger Mensch hatte Hans Joas eine Phase, da nahm sein Glaube - so sagt er selbst - neurotische Züge an. Er las täglich in der Bibel – und hatte den Anspruch an sich selbst, auch noch die schwierigsten Texte zu interpretieren. Nach längerer Zeit fand er schließlich zu einer Glaubenshaltung, die er als "intellektuell verantwortbar" bezeichnet. Seit seiner ersten Begegnung mit Protestanten sucht er das Verbindende zwischen einander fremden Milieus. Die Verengung, das Moralisierende, lehnt der 67-Jährige ab. Ebenso, dass Religion zwingend zur Identität eines Menschen gehöre.
"Das fände ich eine schreckliche Abwertung all der Menschen, die nicht gläubig sind. Ich meine, dass die Gläubigen ihren Glauben nie jemandem anbieten sollten im Sinne von: Du brauchst das, sonst bist du nicht vollständig, oder nicht seelisch gesund, oder nicht völlig moralisch. Oder Gesellschaften brauchten Religion, weil nur aus Religion sozialer Zusammenhalt folgt. Das alles behaupte ich nicht."
Der Sozialphilosoph hat intensiv dazu geforscht, wie Werte entstehen. Dazu entwickelte Joas eine Theorie, nach der Werte sich entwickeln, wenn Menschen Erfahrungen der Selbsttranszendenz machen. Das hätten religiöse und nicht-religiöse Menschen gemeinsam.
"Was wir brauchen, ist eine Verarbeitung der intensivsten Erfahrungen unseres Lebens. Gläubige verarbeiten diese im Horizont ihres religiösen Glaubens. Nichtgläubige haben ebenfalls intensivste Erfahrungen. Was wir also teilen, Gläubige und Nichtgläubige, sind Erfahrungen der Selbsttranszendenz und ein Gefühl von Heiligkeit für etwas."
Wenn Hans Joas über die Umwälzungen in der religiösen Landschaft spricht – über Säkularisierung einerseits und das wachsende öffentliche Interesse an Religion andererseits – dann klingt das eher nach einer spannenden Entwicklung als nach Bedrohung. Der Soziologe bekennt sich zum Katholizismus und zur Aufklärung. Denn, sagt er: Aufklärung muss nicht notwendig religionsfeindlich sein.