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Heimat
Erkunden eines Gefühls ohne Schablonen

Was genau ist Heimat eigentlich? Ein geografischer Ort? Ein Gefühl? Eine politische Kategorie? Ein Menschenrecht? - Das möchte der Journalist und Schriftsteller Eberhard Rathgeb in seinem Buch "Am Anfang war Heimat" herausfinden.

Von Monika Dittrich |
    Die Johanniskirche in Magdeburg, aufgenommen am 02.09.2015.
    Die Johanniskirche in Magdeburg: Was ist Heimat? (picture-alliance / dpa / Andreas Lander)
    Heimat: Das klingt heute im besten Falle ein bisschen altmodisch. Nach Volksmusik und Heimatmuseum. Im schlimmeren Fall schwingt da etwas Düsteres mit, etwas Rassistisches, Fremdenfeindliches, Ausschließendes. Keine Frage: Der Begriff der Heimat ist in Deutschland in Verruf geraten, vergiftet von den Nationalsozialisten.
    "Wenn die Söhne und Töchter das Wort Heimat hörten, überschütteten sie das Wort mit Verachtung, sie nahmen es nicht in den Mund, sie wollten von ihr nichts wissen. Sie sagten Bundesrepublik Deutschland, froh, nicht Deutschland sagen zu müssen. Die Nazis hatten ständig von Deutschland, dem deutschen Volk und der Heimat gesprochen."
    Eberhard Rathgebs Buch liest sich wie eine Ehrenrettung der Heimat. Dass der Schriftsteller und ehemalige Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" ausgerechnet ein Buch über die Heimat schreibt, hat auch mit seiner eigenen Biografie zu tun. Sein Großvater war 1929 nach Argentinien ausgewandert, auf der Suche nach einem besseren Leben. Rathgebs Vater, damals noch ein Kind, wurde dort nie recht heimisch. Der Autor selbst kam 1959 in Buenos Aires zur Welt. Als er ein Kind war, zog die Familie zurück nach Deutschland, also in das Land, das der Vater als Kind verlassen hatte:
    "Viel später, als er wieder in Deutschland war, in den 60er-Jahren, sagte er, hier sei seine Heimat. Er sagte das nicht auftrumpfend, mit Stolz, sondern ruhig und bestimmt. Darüber habe ich mich gewundert, dass ein solcher Satz für ihn in diesem Land möglich war nach Hitler, nach der Vernichtung der europäischen Juden, nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Satz trennte uns, nicht wie uns Ansichten über Politik und Leben trennten, er beurkundete ein Einverständnis mit etwas, das ich nicht kannte, nicht spürte."
    Umkreisen des Heimatgefühls
    Und so macht sich Eberhard Rathgeb auf die Suche: Auf gut 380 Seiten umkreist und untersucht er das Gefühl der Heimat. Glücklicherweise liefert er keine klar abgegrenzte und fertige Definition, sondern er nähert sich diesem seltsamen, diffusen Begriff auf tastende Weise von verschiedenen Seiten. Eine Hauptfigur in Rathgebs Buch ist sein eigener Vater: Der Autor beschreibt, wie er am Sterbebett des Vaters sitzt und anfängt, sich mit dem Verständnis von Heimat auseinanderzusetzen.
    "Er dort, ich hier, dazwischen zwölf Jahre deutscher Geschichte, die das Empfinden, was es bedeutete, zu sagen, hier sei Heimat, veränderten. Ich habe lange, aus Empörung, Widerwille, Distanz, Überdruss, nicht einmal darüber nachdenken wollen, erst als mein Vater starb und ich etwas, das wie eine Rückkehr war, erlebt hatte."
    Die Geschichte des Vaters zieht sich durch das Buch wie ein roter Faden. Auch andere Menschen aus dem Umfeld des Autors kommen immer wieder vor – so zum Beispiel der Schulfreund aus einfachen Verhältnissen, dessen Mutter eine Vertriebene ist. Die Geschichten und Heimatbegriffe dieser Menschen verknüpft Rathgeb in bester erzählerischer Manier mit den Ideen "öffentlicher Personen", wie der Autor sie nennt: von Martin Heidegger und Adalbert Stifter über Stefan Zweig und Thomas Mann bis hin zu Hannah Arendt, Karl Jaspers und Theodor W. Adorno.
    "Dichter, Intellektuelle, Philosophen, Künstler, die alle in irgendeiner Weise mit Heimat, Kultur, Exil zu tun haben in ihrem Nachdenken, ihrer Biografie, und an denen ich erklären kann die Facetten des Begriffs Heimat. Was es bedeutet, in einem Ort, an einer bestimmten Stelle auf die Welt zu kommen und sich dann mit bestimmten Dingen auseinanderzusetzen und darüber nachzudenken, wo man eigentlich ist und wie es zu diesen Bindungen kam."
    Auseinandersetzung mit Dichtern und Denkern
    Während es im innerlichen Zwiegespräch des Autors mit dem sterbenden Vater um die – Zitat – "Psychologie des Heimatgefühls" geht, also um die Empfindungen für eine Landschaft, einen Sehnsuchtsort, für Traditionen und Kultur, so dient die Auseinandersetzung mit Dichtern und Denkern einer – Zitat – "Ethnografie des Heimatgefühls".
    "Wenn der Leser am Ende des Buches das Gefühl hat, besser verstanden zu haben, was Heimat ist, und wenn er dazu angeregt wird, nachzudenken, wie er selbst zu diesem Gefühl kam und was es für ihn bedeutet, wann es sich einstellte und wie er es sich erhielt und bewahren kann, wäre ich froh und hätte erreicht, was ich mir vorgenommen hatte."
    Diesem Anspruch, den Rathgeb im Vorwort formuliert, wird er zweifellos gerecht. Sein Buch ist eine lesenswerte Ermutigung, das eigene Heimatgefühl zu erkunden – für das es keine Schablone geben kann, nur Anhaltspunkte. Da geht es um den Geburtsort und die Prägungen der Kindheit, um Landschaft, Geräusche und Gerüche, um Literatur, Sprache, politische Kultur, um Geschichte und Erinnerung.
    "Heimat wird einem durch Geburt und Glück geschenkt, aber von Menschen weggenommen und zerstört. Wer heute durch Deutschland läuft und sich über die ganze Wegstrecke einzureden versucht, er ginge durch die Heimat, wird ins Stocken geraten, wenn er Sozialbauten sieht, Flüchtlingsheime und heruntergekommene Industrieviertel, wo er nicht wohnen und arbeiten muss, die Gebiete der Ausgegrenzten, Armen, Aussichtslosen. Und er wird das Wort Heimat nicht zu buchstabieren wagen, wenn er vor einem ehemaligen Konzentrationslager steht. Und doch sind Deutsche, die von den Nazis in die Emigration getrieben wurden, nach dem Untergang des Dritten Reiches zurückgekehrt, und Juden, die das Konzentrationslager überlebten, blieben unter den Deutschen, statt ins Ausland zu flüchten, weit weg, nach Amerika oder Israel."
    Weil Heimat eben etwas anderes ist als ein politisches System oder ein Nationalstaat. Rathgebs Buch trägt insofern auch dazu bei, den Begriff der Heimat zu rehabilitieren – so lange man ihn nicht missbraucht:
    "Wenn man weiß, wie man diesen Begriff verwenden kann und man sich darüber Gedanken gemacht hat, dass man damit nicht politische Programme schreiben sollte, dann ist es doch etwas, das man ganz beruhigt in den Mund nehmen kann. Dass man den Begriff nicht nimmt wie so ein Sofa, in dem man versinkt und von dort aus böse in die Welt guckt. Das wäre ja irgendwie doof."
    Buchinfos:
    Eberhardt Rathgeb: "Am Anfang war Heimat. Auf den Spuren eines deutschen Gefühls"
    Karl Blessing, 384 Seiten, 22,99 Euro.