"Der Herzogenberg kann mehr als wir alle zusammen", sagte Brahms über seinen Freund Heinrich von Herzogenberg. Auch wenn das Lob vielleicht etwas zu überschwänglich ausgefallen ist: Brahms schätzte den kritischen Sachverstand und die hohe künstlerische Meinung des Ehepaares sehr. 1843 in Graz geboren, studierte der Spross einer ursprünglich aus Frankreich stammenden Grafenfamilie in Wien und wirkte ab 1872 in Leipzig. Dort gründete Herzogenberg zwei Jahre später zusammen mit Philipp Spitta den bis heute bestehenden Bach-Verein.
Musik: Heinrich von Herzogenberg, Aus: Fünf Klavierstücke op. 37 - Nr. 1: Impromptu
Zwischen Bach und Schumann
Die intensive Auseinandersetzung mit Leben und Werk des Thomaskantors – unter anderem machte Herzogenberg Bachs Kantatenwerk erstmals einem breiteren Publikum zugänglich – färbte auch auf seine eigenen Kompositionen ab. So besteht die um 1885 entstandene dritte Folge seiner Klavierstücke mit der Opuszahl 49 nur aus Präludien und Fugen sowie Fughetten. Allerdings war nicht Johann Sebastian Bach, sondern Robert Schumann das erklärte Vorbild des Komponisten, was man vielen seiner Klavierwerke anhört. Andere dagegen scheinen die Klangwelt Max Regers schon vorweg zu nehmen.
Musik: Heinrich von Herzogenberg, Aus: Klavierstücke (Dritte Folge) op. 49 - Nr. 2: Präludium und Fuge G-Dur
Ehefrau als Interpretin
Anders als Johannes Brahms oder auch Edvard Grieg, mit dem er sich in Leipzig anfreundete, trat Herzogenberg als Pianist und Interpret seiner Klavierwerke nie in Erscheinung. Das übernahm seine Ehefrau Elisabeth, die mit Clara Schumann zu den bedeutendsten Pianistinnen ihrer Zeit zählte. Ihr Klavierlehrer Julius Epstein schwärmte über sie:
"Ich war entzückt von ihrem Talent und überrascht von ihren Fortschritten. Sie hatte den weichsten Anschlag, die geläufigste Technik, die rascheste Auffassung, das ungewöhnlichste Gedächtnis und den seelenvollsten Ausdruck im Spiel – mit einem Wort, sie war ein Genie! Dabei war sie wunderschön, klug, hochgebildet, edel und von bestrickender Liebenswürdigkeit im Umgange. Man musste sich in sie verlieben."
Als hochmusikalische Tochter des königlich Hannoverschen Gesandten von Stockhausen 1847 in Wien geboren, blieb ihr eine kompositorische Ausbildung verwehrt; dennoch komponierte auch sie mehrere Klavierstücke.
Musik: Elisabeth von Herzogenberg, Aus: Acht Klavierstücke - Nr. 1 und 3: Allegro molto und Allegretto
Geniale Pianistin, einflussreiche Kritikerin
Als Johannes Brahms Elisabeth von Herzogenberg 1874 in Leipzig kennenlernte, verliebte er sich in die damals 27-jährige Ehefrau seines Freundes; doch wie bei vielen anderen seiner Beziehungen verlief auch diese auf einer vor allem künstlerischen Ebene: Elisabeth von Herzogenberg wurde für Brahms eine wichtige Begutachterin seiner Werke, deren Meinung er überaus schätzte. Sie wiederum scheint aus seinen Kompositionen einige Anregungen für ihr eigenes Schaffen gezogen zu haben. Beispielsweise erinnert das letzte aus ihren 1882 während einer Urlaubsreise geschriebenen acht Klavierstücken an Brahms' "Ungarische Tänze". Überhaupt wirken ihre Kompositionen im Vergleich zu denen ihres Mannes mitunter deutlich virtuoser und weisen Ähnlichkeiten mit Werken Franz Liszts oder Felix Mendelssohns auf.
Musik: Elisabeth von Herzogenberg, Aus: Acht Klavierstücke - Nr. 8: Allegro appassionato
Interessante Entdeckungsreise
1892 starb die seit Langem herzkranke Elisabeth von Herzogenberg im Alter von 47 Jahren. Der Tod traf ihren Mann, der als Professor für Komposition in Berlin lehrte, tief – und er veränderte seine Klangsprache nachhaltig: Zu der seit der Beschäftigung mit Bach geweckten Affinität zur Kontrapunktik kam nun noch der verstärkte Einsatz von Chromatik hinzu. Das zeigt sich beispielsweise im letzten Satz seines im Frühjahr 1898 komponierten Capriccio op. 107, das als letztes Werk zu Herzogenbergs Lebzeiten veröffentlicht wurde.
Musik: Heinrich von Herzogenberg, Aus: Capriccio op. 107 - Nr. 6: Impromptu
Mit der Einspielung des gesamten Werks für Klavier solo von Heinrich und Elisabeth von Herzogenberg wandelt die serbische Pianistin Natasa Veljkovic erneut auf interessanten Pfaden abseits des gängigen Repertoires. Bereits im vergangenen Jahr legte sie unter anderem eine Ersteinspielung der weitgehend unbekannten Klavierkonzerte von Ignaz von Beecke vor. Die Klavierwerke der Herzogenbergs beschreibt die Pianistin im Booklet als "eine versunkene Welt, eine Fantasiewelt, eine 'Welt von gestern', die unseren heutigen hochgeladenen Puls auf eine langsamere Zeit umstellt, wo wir wieder lernen, die vergessenen Details zu entdecken." Diese Entdeckungsreise lohnt sich nicht nur wegen Natasa Veljkovics überaus sensiblen und durchdachten Interpretationen; sie zeigt auch, dass Herzogenberg und seine Frau mehr sind als nur sehr gute Freunde von Brahms – nämlich ernst zu nehmende Komponisten.
Musik: Heinrich von Herzogenberg, Aus: Fantasia quasi Sonata WoO 13 - 3. Satz: Allegro
Die neue Platte: Werke für Klavier solo von Heinrich und Elisabeth von Herzogenberg, Natasa Veljkovic, Klavier, CPO 777789-2