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Helmut Kohl
"Mit mir als Bundeskanzler wäre das niemals geschehen"

Der 84-jährige Altkanzler Helmut Kohl hat mit seinem Buch "Aus Sorge um Europa - Ein Appell" mehr als eine persönliche Verteidigungsschrift vorgelegt. Es ist auch eine Abrechnung mit der Politik seiner Nachfolger Gerhard Schröder und Angela Merkel.

Von Stephan Detjen |
    Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte), seine Ehefrau Maike Richter-Kohl und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker während der Vorstellung des Kohl-Buchs "Aus Sorge um Europa - Ein Appell" in Frankfurt am Main.
    Alt-Bundeskanzler Helmut Kohl (Mitte), seine Ehefrau Maike Richter-Kohl und EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker während der Vorstellung des Kohl-Buchs "Aus Sorge um Europa - Ein Appell". (picture alliance / dpa / Boris Roessler)
    Es ist eine Erscheinung, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Denn es geht nicht nur um das Buch. Es geht genau so um den Autor, der wie ein politischer Widergänger in der Öffentlichkeit erscheint und als Schmerzensmann Europas gegen die Lähmung von Gliedern, Gesichtszügen und Sprache ankämpft:
    "Noch ist es nicht zu spät in Europa. Es ist höchste Zeit, dass wir Europa wahrnehmen."
    Es wird darüber spekuliert werden, welche Stimme aus dem Buch spricht, das unter dem Namen Helmut Kohls erschien. Bei der Vorstellung in Frankfurt sitzt seine Ehefrau Maike Kohl-Richter dicht neben ihm, legt ihren Arm fürsorglich um ihn, flüstert in sein Ohr, schiebt ihrem Mann vorbereitete Sprechzettel zu:
    "Er hat – wie hast Du das gesagt? – Du hast das alles im Kopf. Mein Mann hat das im Kopf. Ich gehe dann in die Archive, suche ihm raus, was er im Kopf hat. Und dann lege ich ihm Schrittchen-weise die Dinge vor, und dann redigiert er wie früher. Und dann sagt er, das will ich sagen, das will ich nicht sagen, und das möchte ich anders sagen."
    Als Kronzeuge hat sich Jean-Claude Juncker an seinem ersten Arbeitstag an der Spitze der EU Kommission nach Frankfurt fahren lassen, um zu bestätigen: Ja, das ist nach wie vor der alte Helmut Kohl, an dessen Seite er die Vertiefung Europas, die Einführung der gemeinsamen Währung, die Osterweiterung der Union einst vorangetrieben hatte. Und bei seinen regelmäßigen Besuchen im Oggersheimer Wohnhaus erlebte er einen Helmut Kohl, der trotz seiner schweren Behinderungen wach und rege am Schicksal Europas Anteil nehme:
    Erschreckender Kleinmut und fehlende Weitsichtigkeit
    "Ich habe mit ihm richtige Gespräche. Und wenn er müde wird, dann sage ich ihm, den Satz, den ich denke. Und wenn seine Frau Maike Kohl-Richter nicht einverstanden ist, dann sagt sie das auch; das kommt öfters vor. Und dann macht Helmut Kohl, er zeigt dann entweder auf seine Frau oder auf mich: und dann ist der Satz der, von dem er gesprochen wurde. Meistens gibt er ihr Recht."
    Es sei ein wichtiges Buch, bescheinigt der Neue Kommissionspräsident seinem einstigen Weggefährten – obwohl das, was Kohl zu sagen hat, weniger der hoffnungsfrohe Appell ist, den der Untertitel verspricht, als eine bitter besorgte Abrechnung mit allem, was an Politik nach Helmut Kohl über Europa kam:
    "Es ist erstaunlich und erschreckend, mit welchem Kleinmut und fehlender Weitsicht, mit welch andauernder Krisendiktion, vor allem auch mit welcher Geschichtsvergessenheit und historischen Ignoranz seit Beginn des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends in West wie Ost, in Deutschland wie in anderen Ländern über das Projekt Europa, mit eingeschlossen die transatlantischen Beziehungen und die Beziehungen zu Russland, diskutiert und mit ihm umgegangen wird. Es ist erstaunlich, wie wir im Klein-Klein verharren und mit welcher Leichtfertigkeit von allen Seiten mit diesem für uns alle existenziellen Projekt Europa umgegangen wird."
    Vor allem mit seinem Nachfolger Gerhard Schröder geht Kohl hart ins Gericht. Die Aufweichung der Stabilitätsverpflichtungen durch Deutschland und Frankreich sowie die verfrühte Aufnahme Griechenlands seien die Ursünden gewesen, mit denen die anhaltende Krise der Gemeinschaft ihren Anfang genommen habe, wettert Kohl und beteuert.
    "Mit mir als Bundeskanzler wäre das niemals geschehen."
    Nicht weniger schwer als der Rückfall in nationale Egoismen auf der europäischen Ebene wiegt für Kohl die Beschädigung des transatlantischen Verhältnisses während der Debatte um den Irak-Krieg.
    Zeugnis der europäischen Motive Kohls
    "Aber ich will schon sagen, dass es für mich mit meiner Auffassung von Verantwortung schwer nachvollziehbar ist, wie ein deutscher Bundeskanzler und seine ganze Regierung gleich mit, vor allem sein grüner Außenminister, mit solch schicksalhaften Fragen für unsere Zukunft umgegangen sind und wie leichtfertig tagespolitischer Opportunismus und parteipolitischen und wahltaktischen Erwägungen der Vorrang gegeben wird vor der Zukunft unseres Landes wie ganz Europa und der Welt."
    In früheren Veröffentlichungen hatte Kohl seine Vorwürfe kaum verhohlen auch an die Adresse seiner Nach-Nachfolgerin Angela Merkel gerichtet. Die deutsche Außenpolitik habe den Kompass verloren, ließ sich der Altkanzler gegen Ende der schwarz-gelben Koalition Merkels vernehmen. In den mehr als zehn Jahre alten Tonbandprotokollen, die jetzt von seinem ehemaligen Ghostwriter veröffentlicht wurden, erscheint Merkel immer noch als die unbedarfte Quereinsteigerin der Nachwendejahre. Jetzt hätte Kohl die Gelegenheit gehabt, Merkel ein besseres Zeugnis auszustellen. Der Name der Bundeskanzlerin aber taucht in diesem Buch nicht ein einziges Mal auf und so bleibt es der Spekulation überlassen, ob Passagen wie diese auf Merkel und ihren moderierenden Politikstil gemünzt sind:
    "Es ist ein Irrtum zu glauben, dass man Sympathien und Achtung gewinnt, wenn man seine oder besser gesagt die Interessen seines Landes nicht anmeldet und nicht vertritt. Das Gegenteil ist der Fall. Diese Erfahrung habe ich in meinem langjährigen politischen Leben auch selbst immer wieder gemacht."
    Es ist der selbstgewisse, zur Rechthaberei neigende Ton, der die Stimme Helmut Kohls in diesem Text wieder erkennbar macht und dem Buch seine Authentizität verleiht. Seinen Wert aber erhält es vor allem als Zeugnis der europapolitischen Motive Helmut Kohls, etwa wenn er sich gegen die von Historikern formulierte Deutung der europäischen Währungsgemeinschaft als deutsch-französisches Kompensationsgeschäft stemmt:
    "Unwahr ist, und das kann ich bezeugen, denn ich war schließlich als einer von zweien dabei: Es gab zu keinem Zeitpunkt ein Handels- oder Tauschgeschäft zwischen mir, Helmut Kohl, dem deutschen Bundeskanzler, und Francois Mitterand, dem französischen Staatspräsidenten, nach dem Motto: 'Bekommen wir, die Deutschen, die deutsche Einheit, geben wir dafür die D-Mark auf und es kommt eine gemeinsame europäische Währung'. Ich will aber gleich hinzufügen: Wenn die gemeinsame europäische Währung der Preis für die deutsche Einheit gewesen wäre, dann hätte ich ihn (…) bezahlt."
    Für Kohl wie für seinen engsten Weggefährten Francois Mitterand war Europa immer zuerst das Friedensprojekt, geboren aus den Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges. Man kann das als Schnee von gestern oder alt bekannte Wahrheit abtun. Doch in Zeiten, in denen die Krise in der Ukraine deutlich macht, wie labil die Friedensordnung im Nachkriegseuropa nach wie vor ist, erhält die mahnende Erinnerung an die Ursprünge der europäischen Staatengemeinschaft eine neue, zusätzliche Bedeutung. Dass der neue EU-Kommissionspräsident Juncker sich am ersten Tag seiner Amtszeit an die Seite Helmut Kohls gestellt hat, war vor dem Hintergrund der andauernden Orientierungskrise Europas mehr als eine Freundschaftsgeste. Europa sucht Kraft in der Besinnung auf seine Wurzeln. Deswegen wäre es ungerecht, das Buch Helmut Kohls allein als Rechtfertigungsschrift eines gebrochenen, alten Mannes abzutun.
    Helmut Kohl: "Aus Sorge um Europa. Ein Appell"
    120 Seiten, Droemer Verlag, 12,99 Euro