Die Gepflogenheit führender Politiker, die Geschichte gewordenen Untaten der eigenen Nation vor den Nachkommen der Opfer öffentlich zu bekennen.
War die Errichtung der Berliner Mauer bloß ein ärgerlicher politischer Fauxpas, den nach vier Jahrzehnten zu entsorgen eine Entschuldigung gerade gut genug ist? Da wurde am 13. August 1961 mit Brachialgewalt eine Stadt zerschnitten und eine Bevölkerung zerteilt, da wurden Menschen gequält und getötet, die sich der Herrschaft eines ungeliebten, ja gehassten Regimes nicht unterwerfen, sondern entziehen wollten: Eine geschichtliche Zäsur, unentschuldbar als Faktum und in ihren Folgen, wird angesichts der aktuellen Strategiekalamitäten einer Partei, die sich auch damit ehrlicherweise zur direkten Nachfolge der DDR-Staatspartei bekennt, instrumentalisiert und missbraucht. Muss das nicht eine Schamlosigkeit genannt werden?
"Ich entschuldige mich" ist ohne Umschweife ein Essay überschrieben, der Auskünfte über "Das neue politische Bußritual" (so der Untertitel) verspricht. Sie hören sich so an:
"In wohlbestimmter Hinsicht macht die sich international ausbreitende Zivilbußbereitschaft aufklärungsbereiter. Das traditionelle Nestbeschmutzerargument, mit dessen Hilfe geschönte Vergangenheitsvergegenwärtigungen politisch privilegiert werden sollen, verliert an Wirksamkeit. Die höchsten Staatsrepräsentanten zeigen sich heute weltweit vergangenheits-politisch bereit, historische Fakten anzuerkennen. Die Neigung, gewisse Akten tunlichst unter Verschluss zu halten, schwächt sich ab. Die Aufmerksamkeit der Medien wirkt ohnehin als soziale Kontrolle, die die Praktiken des Verschweigens und Versteckthaltens auf Dauer chancenlos macht."
So schreibt und argumentiert Hermann Lübbe, der als konservativ geltende Grenzgänger zwischen den Disziplinen, der in Zürich Philosophie und Politische Theorie lehrt und sich im öffentlichen politischen Diskurs kontinuierlich und originell immer wieder zu Wort meldet. Es ist nicht ohne Belang, dass Lübbe von 1966 bis 1970 Staatssekretär im sozialdemokratisch dominierten Düsseldorfer Kabinett war und dass sein bereits 1963 erschienenes Buch "Politische Philosophie in Deutschland" nicht ohne Einfluss auf die Studentenbewegung und die 68-er Revolte blieb, vor der er dann zurückschreckte.
Hermann Lübbe leitet das um sich greifende öffentliche Bußritual angesichts vergangener historischer Untaten aus religiösen Überlieferungen ab und prägt den Begriff der Zivilreligion. Er konstatiert weltweite Wandlungen der politischen Kultur unter dem Eindruck der Historisierung, also der "vorbehaltlosen Kenntnisnahme dessen, was wirklich gewesen ist", und sortiert die plausiblen und prekären Aspekte solcher der Moral unterworfenen Prozesse. Seine Darlegungen sind eingestimmt auf einen souveränen bis arroganten Ton der Selbstvergewisserung, ja Selbstbestätigung, wobei er sich abgrenzt von jenen "moralisierenden Erörterungen", etwa im "Historikerstreit", die er "Reflexionsprodukte von gelehrten und sonstigen Intellektuellen in Redaktionsbüros oder akademischen Seminaren" nennt.
Wie bei diesem Autor nicht anders zu erwarten, sind die stilistischen Standards auf literarischem Niveau, zumal, da er immer wieder auch sprachanalytisch vorgeht. Manche Wendungen leuchten unmittelbar ein, etwa:
"Moralische Schuld verjährt bekanntlich nicht. In die Praxis religiöser Buße umgesetzt heißt das, dass die Beichtbedürftigkeit der Sünden kein Verfallsdatum kennt. Was vergeben ist, bleibt vergeben und wird, wenn es ehrlich einbekannt war, auch beim Jüngsten Gericht, soweit wir wissen, nicht wieder aufgerollt. Aber alle übrigen Sündenfälle bleiben dauerhaft pendent."
Und mit polemischen Untertönen:
"Der Moralismus schätzt kurze Prozesse mit harten Urteilen und knapper Begründung. Die Menge der Möglichkeiten, sich unmöglich zu machen, die in der Tat in keinem politischen System, das sich erhalten möchte, gegen null schrumpfen darf, expandiert unter der Aufsicht der geschichtspolitischen Correctness-Wächter bis hin zu ganzen Systemen einer politisch-avantgardistisch gemeinten Sozialtheorie einschließlich eines zugehörigen Kanons zugelassener Klassiker solcher Theorie. Die Moral wird enttrivialisiert, die Unterscheidung von Gut und Böse verliert ihre Common sense-Fähigkeit, und die Neigung, die Vergangenheitspolitik an die Ergebnisse historischer Forschung zu binden, erscheint als positivistisch verstockter Amoralismus." :
Es gibt Passagen, die sich noch hermetischer ausnehmen, zum öffentlichen Zitat sich nicht eignen und in der politischen Debatte unwirksam blieben. Lübbes materialreicher Essay, dessen locker gefügte Seiten sich auf 125 Fußnoten beziehen (über zehn Prozent davon auf eigene Publikationen), schreibt ein wichtiges zeitgenössisches Problem in jene Abstraktionen hinüber, wohin das öffentliche Interesse nicht mehr reicht. Die Kluft zur politischen Praxis erscheint als unüberwindbar, macht den Text für den sinnvollen politischen Gebrauch zur verlorenen Liebesmüh.
Womit wir wieder beim Entschuldigungsbedarf der PDS angelangt wären, deren Kürzel kaum noch jemand als "Partei des demokratischen Sozialismus" identifiziert. Sie hat sich jüngst in das Bußritual eingeordnet, als der 55. Jahrestag der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD zur SED ins Haus stand, deren Zwangscharakter zum Zeitpunkt der Operation nicht so offensichtlich war, wie westliche Interpretation immer wieder behauptet, sondern sich erst noch entlarven sollte. Mit Recht hatte die Arbeiterbewegung ihren Anteil Schuld an der Heraufkunft Hitlers in ihrer Spaltung erkannt, und die Sehnsucht, sie aufzuheben, war verständlich und ehrlich. Freilich, die Verhältnisse, die waren dann von den Moskauer Kaderprinzipien einer "Partei neuen Typs" diktiert, und die schlimmen Folgen sind bekannt. Von der PDS wäre in dieser Situation kein Befangenheitskrampf zu erwarten gewesen, sondern Scham und ernsthafte Analyse.
Lübbes elaborierter Text zur Zivilbußpraxis hilft in solchen konkreten Fällen nicht weiter, kann zur Aufklärung nicht beitragen. Das tut in vorzüglicher Weise Wolfgang Leonhard, der im Mai 1945 als jüngstes Mitglied der Gruppe Ulbricht nach Berlin kam und als hauptamtlicher Mitarbeiter der Abteilung Agitation und Propaganda im ZK der KPD tätig war. In einem ausführlichen Gespräch mit der Berliner Zeitung erfüllt er Lübbes Forderung zu erzählen, wie es gewesen, und erteilt er außerdem der historisch bewusstlosen PDS schmerzhaften Nachhilfeunterricht.
Hermann Lübbe: "Ich entschuldige mich - Das neue politische Bußritual". Der Essay ist im Berliner Siedler Verlag erschienen, umfasst 144 Seiten und kostet DM 29,90.
War die Errichtung der Berliner Mauer bloß ein ärgerlicher politischer Fauxpas, den nach vier Jahrzehnten zu entsorgen eine Entschuldigung gerade gut genug ist? Da wurde am 13. August 1961 mit Brachialgewalt eine Stadt zerschnitten und eine Bevölkerung zerteilt, da wurden Menschen gequält und getötet, die sich der Herrschaft eines ungeliebten, ja gehassten Regimes nicht unterwerfen, sondern entziehen wollten: Eine geschichtliche Zäsur, unentschuldbar als Faktum und in ihren Folgen, wird angesichts der aktuellen Strategiekalamitäten einer Partei, die sich auch damit ehrlicherweise zur direkten Nachfolge der DDR-Staatspartei bekennt, instrumentalisiert und missbraucht. Muss das nicht eine Schamlosigkeit genannt werden?
"Ich entschuldige mich" ist ohne Umschweife ein Essay überschrieben, der Auskünfte über "Das neue politische Bußritual" (so der Untertitel) verspricht. Sie hören sich so an:
"In wohlbestimmter Hinsicht macht die sich international ausbreitende Zivilbußbereitschaft aufklärungsbereiter. Das traditionelle Nestbeschmutzerargument, mit dessen Hilfe geschönte Vergangenheitsvergegenwärtigungen politisch privilegiert werden sollen, verliert an Wirksamkeit. Die höchsten Staatsrepräsentanten zeigen sich heute weltweit vergangenheits-politisch bereit, historische Fakten anzuerkennen. Die Neigung, gewisse Akten tunlichst unter Verschluss zu halten, schwächt sich ab. Die Aufmerksamkeit der Medien wirkt ohnehin als soziale Kontrolle, die die Praktiken des Verschweigens und Versteckthaltens auf Dauer chancenlos macht."
So schreibt und argumentiert Hermann Lübbe, der als konservativ geltende Grenzgänger zwischen den Disziplinen, der in Zürich Philosophie und Politische Theorie lehrt und sich im öffentlichen politischen Diskurs kontinuierlich und originell immer wieder zu Wort meldet. Es ist nicht ohne Belang, dass Lübbe von 1966 bis 1970 Staatssekretär im sozialdemokratisch dominierten Düsseldorfer Kabinett war und dass sein bereits 1963 erschienenes Buch "Politische Philosophie in Deutschland" nicht ohne Einfluss auf die Studentenbewegung und die 68-er Revolte blieb, vor der er dann zurückschreckte.
Hermann Lübbe leitet das um sich greifende öffentliche Bußritual angesichts vergangener historischer Untaten aus religiösen Überlieferungen ab und prägt den Begriff der Zivilreligion. Er konstatiert weltweite Wandlungen der politischen Kultur unter dem Eindruck der Historisierung, also der "vorbehaltlosen Kenntnisnahme dessen, was wirklich gewesen ist", und sortiert die plausiblen und prekären Aspekte solcher der Moral unterworfenen Prozesse. Seine Darlegungen sind eingestimmt auf einen souveränen bis arroganten Ton der Selbstvergewisserung, ja Selbstbestätigung, wobei er sich abgrenzt von jenen "moralisierenden Erörterungen", etwa im "Historikerstreit", die er "Reflexionsprodukte von gelehrten und sonstigen Intellektuellen in Redaktionsbüros oder akademischen Seminaren" nennt.
Wie bei diesem Autor nicht anders zu erwarten, sind die stilistischen Standards auf literarischem Niveau, zumal, da er immer wieder auch sprachanalytisch vorgeht. Manche Wendungen leuchten unmittelbar ein, etwa:
"Moralische Schuld verjährt bekanntlich nicht. In die Praxis religiöser Buße umgesetzt heißt das, dass die Beichtbedürftigkeit der Sünden kein Verfallsdatum kennt. Was vergeben ist, bleibt vergeben und wird, wenn es ehrlich einbekannt war, auch beim Jüngsten Gericht, soweit wir wissen, nicht wieder aufgerollt. Aber alle übrigen Sündenfälle bleiben dauerhaft pendent."
Und mit polemischen Untertönen:
"Der Moralismus schätzt kurze Prozesse mit harten Urteilen und knapper Begründung. Die Menge der Möglichkeiten, sich unmöglich zu machen, die in der Tat in keinem politischen System, das sich erhalten möchte, gegen null schrumpfen darf, expandiert unter der Aufsicht der geschichtspolitischen Correctness-Wächter bis hin zu ganzen Systemen einer politisch-avantgardistisch gemeinten Sozialtheorie einschließlich eines zugehörigen Kanons zugelassener Klassiker solcher Theorie. Die Moral wird enttrivialisiert, die Unterscheidung von Gut und Böse verliert ihre Common sense-Fähigkeit, und die Neigung, die Vergangenheitspolitik an die Ergebnisse historischer Forschung zu binden, erscheint als positivistisch verstockter Amoralismus." :
Es gibt Passagen, die sich noch hermetischer ausnehmen, zum öffentlichen Zitat sich nicht eignen und in der politischen Debatte unwirksam blieben. Lübbes materialreicher Essay, dessen locker gefügte Seiten sich auf 125 Fußnoten beziehen (über zehn Prozent davon auf eigene Publikationen), schreibt ein wichtiges zeitgenössisches Problem in jene Abstraktionen hinüber, wohin das öffentliche Interesse nicht mehr reicht. Die Kluft zur politischen Praxis erscheint als unüberwindbar, macht den Text für den sinnvollen politischen Gebrauch zur verlorenen Liebesmüh.
Womit wir wieder beim Entschuldigungsbedarf der PDS angelangt wären, deren Kürzel kaum noch jemand als "Partei des demokratischen Sozialismus" identifiziert. Sie hat sich jüngst in das Bußritual eingeordnet, als der 55. Jahrestag der Vereinigung der beiden Arbeiterparteien SPD und KPD zur SED ins Haus stand, deren Zwangscharakter zum Zeitpunkt der Operation nicht so offensichtlich war, wie westliche Interpretation immer wieder behauptet, sondern sich erst noch entlarven sollte. Mit Recht hatte die Arbeiterbewegung ihren Anteil Schuld an der Heraufkunft Hitlers in ihrer Spaltung erkannt, und die Sehnsucht, sie aufzuheben, war verständlich und ehrlich. Freilich, die Verhältnisse, die waren dann von den Moskauer Kaderprinzipien einer "Partei neuen Typs" diktiert, und die schlimmen Folgen sind bekannt. Von der PDS wäre in dieser Situation kein Befangenheitskrampf zu erwarten gewesen, sondern Scham und ernsthafte Analyse.
Lübbes elaborierter Text zur Zivilbußpraxis hilft in solchen konkreten Fällen nicht weiter, kann zur Aufklärung nicht beitragen. Das tut in vorzüglicher Weise Wolfgang Leonhard, der im Mai 1945 als jüngstes Mitglied der Gruppe Ulbricht nach Berlin kam und als hauptamtlicher Mitarbeiter der Abteilung Agitation und Propaganda im ZK der KPD tätig war. In einem ausführlichen Gespräch mit der Berliner Zeitung erfüllt er Lübbes Forderung zu erzählen, wie es gewesen, und erteilt er außerdem der historisch bewusstlosen PDS schmerzhaften Nachhilfeunterricht.
Hermann Lübbe: "Ich entschuldige mich - Das neue politische Bußritual". Der Essay ist im Berliner Siedler Verlag erschienen, umfasst 144 Seiten und kostet DM 29,90.