Michael Böddeker: Wie entwickelt sich das deutsche Hochschulsystem - diese Frage versucht der Stifterverband für die deutsche Wissenschaft zu beantworten. Zusammen mit der Unternehmensberatung McKinsey gibt er dazu regelmäßig den Hochschulbildungsreport heraus. Heute auch wieder, und diesmal wird Bilanz gezogen, Halbzeitbilanz, und zwar für die erste Hälft des laufenden Jahrzehnts bis 2020. Mehr darüber weiß Volker Meyer-Guckel, er ist stellvertretender Generalsekretär des Stifterverbands. Guten Tag!
Volker Meyer-Guckel: Guten Tag!
Böddeker: Im neuen Hochschulbildungsbericht heißt es, dass sich das deutsche Bildungssystem grundsätzlich in die richtige Richtung entwickelt, es werde internationaler, gerechter, durchlässiger und heterogener, aber es gibt natürlich auch ein großes Aber. Wo liegen denn aus Ihrer Sicht die Schwachstellen?
Meyer-Guckel: Sie haben es schon angerissen. Beim Thema Internationalisierung haben wir große Fortschritte gemacht, auch beim Thema Diversity, Chancengerechtigkeit sind wir eigentlich bei zwei Drittel des Weges gegangen, den wir als Zielmarke für das Jahr 2020 aufgemacht haben, aber beim Thema Lehrerbildung oder auch beim Thema MINT-Bildung oder beim Praxisbezug des Studiums, da haben wir noch nicht mal die Hälfte dessen erreicht, was wir eigentlich als Zieldimension vorgesehen haben, und da müssen wir deutlich nachlegen.
"Thema Informatiklehrer ein besonderes Problem"
Böddeker: Und beim Thema Lehrerbildung geht es auch speziell um die Informatiklehrer diesmal. Wie sieht es da aus?
Meyer-Guckel: Beim Thema Informatiklehrer haben wir ein ganz besonderes Problem. Wir haben nur 1,6 Prozent aller Lehrämtler, die sich für dieses Fach entscheiden bei der Ausbildung. Das liegt natürlich auch daran, dass Informatik praktisch nirgendwo Pflichtfach ist in den Bundesländern, sondern allenfalls Wahlpflichtfach, und dass die Nachfrage nach solchen Inhalten in den Schulen eben auch begrenzt ist. Wenn wir das nun wiederum mit den Bedarfen der Unternehmen abgleichen, was an Datenspezialisten, was an Coding-Practice oder sonstige IT-Fähigkeiten gebraucht werden, dann haben wir da ein großes Mismatch, und das beginnt, wie gesagt, in der Schule, und mit den Zahlen, die wir im Augenblick vorliegen haben, werden wir das auch nicht überbrücken können. Das zweite Thema, was damit einhergeht, ist allerdings insgesamt, dass die Zahl der Lehramtsstudenten in den MINT-Fächern seit 2010 rückläufig ist, und das ist natürlich mindestens ebenso bedauerlich, denn Sie wissen selbst, Mathematik oder die Naturwissenschaften sind die Grundlagen für auch die technischen Fächer in den Studiengängen, und wenn wir da keine Kontinuitäten in der Schule haben, dann werden wir die Probleme in der Hochschule auch nicht lösen.
Böddeker: Das heißt also, zunächst fehlen im MINT-Bereich die Studierenden, damit gibt es auch weniger Lehrämtler, weniger Lehrer, und dadurch, fürchten Sie auch, weniger Schüler, die sich dafür interessieren irgendwann?
Meyer-Guckel: Das droht ja. Also in vielen Bundesländern gibt es mittlerweile, gerade in den naturwissenschaftlichen Fächern, einen großen Lehrermangel. Das ist ja nicht ein flächendeckendes Phänomen in allen Fächern. Wir haben in den Geisteswissenschaften weitgehend eine gute Angebotssituation, bei den ausgebildeten Lehramtsstudierenden, aber bei den Naturwissenschaften haben wir wirkliche Probleme, sodass wir bestimmte Angebote an Schulen des naturwissenschaftlichen Unterrichts überhaupt nicht mehr durchgehend anbieten können aufgrund von mangelnden Lehrstellen, und das ist natürlich bedenklich.
"Wir brauchen Leute, die Daten interpretieren können"
Böddeker: Ansonsten gibt es laut diesem neuen Bericht auch ein grundsätzliches Defizit bei Bachelorstudierenden. Die sollen laut diesem Bericht im besten Fall grundlegende Datenanalysekompetenzen im Studium schon beigebracht bekommen. Was heißt das, was sollen die können am Ende?
Meyer-Guckel: Es geht um Data-Literacy. Das ist ein etwas schillernder Begriff, das heißt, es geht darum, nicht … Natürlich brauchen wir Programmierer. Diejenigen, die Algorithmen programmieren, aber noch viel mehr brauchen wir Leute, die Daten interpretieren können, die Daten zusammentragen können, kuratieren können, um aus Daten, die ja an sich noch nichts aussagen, Schlussfolgerungen zu ziehen, und auch möglicherweise Anwendungen produzieren, seien das Geschäftsideen, seien das Dienstleistungen für den Menschen. Da hapert es, und das ist der große Bedarf der Unternehmen, der durch die derzeitigen Curricula nicht gedeckt wird.
Böddeker: Dann noch eine weitere Aussage aus dem neuen Hochschulbildungsreport: Im Jahr 2020 werden demnach ungefähr 40.000 Flüchtlinge an den deutschen Hochschulen studieren, allerdings - so wird es im Bericht gefordert - sollte deren Potenzial noch besser genutzt werden. Wie, also was soll sich da ändern?
"Etwa 40.000 Studierende aus der Migrantenbewegung"
Meyer-Guckel: Also zunächst mal muss man ja sagen, diese relativ große Zahl überrascht vielleicht, wenn man sich die augenblickliche Zahl von Studierenden anschaut, die sozusagen mit den großen Flüchtlingswellen zu uns gekommen sind, im Augenblick sind es die ersten, die die Hürden zu einem Studium überhaupt überwunden haben - seien es sprachliche, seien es kulturelle, aber auch propädeutische Programme, die man erst mal durchlaufen muss, um sozusagen anschlussfähig an das deutsche akademische System zu werden -, das passiert jetzt, das wird sich deutlich erweitern. Wie gesagt, wir rechnen mit circa 40.000 Studierenden aus der Migrantenbewegung. Es könnten noch mehr sein, wenn es diese kulturellen, sprachlichen, aber auch ganz praktischen Probleme wie dauerhafter Wohnsitz, Anerkennungsfragen, wenn das schneller als bisher gelöst werden würde, dann würde das Potenzial viel schneller und noch besser genutzt an deutsche Hochschulen kommen.
Böddeker: Zum Schluss noch kurz zu einem Thema, das im neuen Hochschulbildungsreport natürlich noch nicht auftaucht, gar nicht auftauchen konnte: Wir berichten heute im Programm viel über die gescheiterten Sondierungsgespräche für eine Jamaika-Koalition, und bis es jetzt eine neue Regierung gibt, dürfte es ja noch etwas dauern. Wie problematisch ist diese Unsicherheit aus Sicht der Wissenschaft und aus Sicht der Hochschulen?
Meyer-Guckel: Na ja, wenn es eines gegeben hat, auf das sich die jetzt gepflanzte Koalition relativ schnell einigen konnte, dann ist es natürlich die Notwendigkeit, gerade im Bildungsbereich, beim Thema Digitalisierung, zu investieren. Ich nenne nur das Stichwort Digitalpakt: Das liegt jetzt erst mal auf Eis. Es ist unbedingt wichtig, dass sich Länder und Bund darauf schnell verständigen, damit wir die Verzögerungen, die wir jetzt schon im System haben, nicht beliebig lange hinaus interpolieren. Also wir brauchen jetzt schnelle Entscheidungen, denn wir haben viel Aufholbedarf in diesen Bereichen, und eigentlich ist das auch ein unstrittiger Bereich zwischen den Parteien, so dass ich hoffe, dass man jetzt mal auch schnell zu Potte kommt.
Böddeker: Heute ist der neue Hochschulbildungsreport veröffentlich worden, demnach liegt vor allem im Bereich Informatik noch so einiges im Argen. Darüber gesprochen haben wir mit dem stellvertretenden Generalsekretär des Stifterverbandes Volker Meyer-Guckel. Vielen Dank für das Gespräch!
Meyer-Guckel: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.