Archiv

Holocaust
Erinnerungen beim Eistee

In der vergangenen Woche hat Israel der Opfer des Holocaust gedacht. Doch mit der immer gleichen Zeremonie in der Gedenkstätte Yad Vashem können viele Jugendliche nichts anfangen. Auch deshalb gibt es inzwischen eine weniger ritualisierte Alternative: die Erinnerungen im Wohnzimmer. Zeitzeugen erzählen im kleinen Kreis - und junge Leute hören zu.

Von Florian Rappaport |
    Auch auf dem Zionsplatz im Zentrum der Jerusalemer Neustadt hat das Projekt "Erinnerungen im Wohnzimmer" einen Treffpunkt arrangiert - mit Teppichen auf dem Boden
    Auch auf dem Zionsplatz im Zentrum der Jerusalemer Neustadt hat das Projekt "Erinnerungen im Wohnzimmer" einen Treffpunkt arrangiert - mit Teppichen auf dem Boden (Deutschlandradio/ Florian Rappaport)
    Wir sind in einem Wohngebiet am Rande Jerusalems, unweit des Herzl-Berges. In einem grauen Peugeot biegt Eliezer Lev Zion um die Ecke und parkt direkt vor dem Haus. Der 91-jährige Holocaust-Überlebende fährt selbst – und er ist ganz offensichtlich in bester Stimmung.
    "Zehn Monate im Jahr leben ich ganz in Ruhe, und niemand erinnert sich daran, dass es mich gibt und dass ich was zu erzählen habe. Aber jetzt ist Hochsaison!", sagt er. Sie holen ihn am Auto ab, und gehen gemeinsam ins Haus. Das Wohnzimmer von Keren Sves ist schon voll, 30 junge Leute sitzen auf der Couch und auf Klappstühlen. Sie sind alle Kerens Einladung auf Facebook gefolgt.
    "I know Keren, she posted it on Facebook."
    Auf dem Wohnzimmertisch steht Eistee und ein Schüssel mit Bamba, den israelischen Erdnussflips. Die Stimmung ist locker, eher eine WG-Party als eine typische Holocaust-Gedenkveranstaltung. Eliezer Lev Zion nimmt Platz und beginnt sofort.
    Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
    Eliezer Lev Zion - der 91-jährige Holocaust-Überlebende am Vorabend von Yom HaShoa, dem Holocaust Gedenktag, in einem Wohnzimmer in Israel (Deutschlandfunk/Florian Rappaport)
    Er erzählt, wie er im französischen Untergrund gegen die Nazis kämpfte. Einmal habe er 36 Kinder mit seinem Fahrrad aus einem Lager gerettet. Seine Familie starb in Auschwitz. Doch darüber möchte er nicht sprechen. Das, sagt er, macht doch schon Yad Vashem, die nationale Gedenkstätte in Jerusalem.
    Er sagt: "Ich kämpfe gegen diese Herangehensweise von Yad Vashem. Sie sprechen nur über den Horror, den Horror und noch mal den Horror. Sie denken, dass unser Volk wie Lämmer..."
    Dann hält er inne und seine Zuhörer vervollständigen diese schon feststehende Redewendung, ein biblisches Zitat: ... wie Lämmer seien sie zur Schlachtbank gegangen.
    "Aber das ist nicht wahr. Unser Volk hat unbeschreiblich hart gekämpft, um jeden Funken Leben zu schützen."
    Der Zeitzeuge spricht lieber über das Leben in den jüdischen Gemeinden vor dem Holocaust.
    Die jungen Leute stellen Fragen, diskutieren miteinander. Der Abend in Kerens Wohnzimmer ist anders als die üblichen Gedenkfeiern. Die meisten offiziellen Feiern sind sich sehr ähnlich.
    Zur gleichen Zeit, nur knapp einen Kilometer entfernt, in Yad Vashem: Soldaten marschieren auf, entzünden Fackeln, Ministerpräsident Netanjahu verspricht, dass es keinen weiteren Holocaust mehr geben wird.
    "Zu einer normalen Feier gehören viele traurige Lieder", sagt Maya, viele traurige Gedichte, und traurige Lesungen.
    So begeht das offizielle Israel den Vorabend von Yom HaShoa, dem Gedenktag. Während des Tages heulen die Sirenen, die sonst vor Raketen warnen, und ganz Israel kommt zwei Minuten zum Stillstand. Autos parken auf der Autobahn. Züge halten an. In vielen Schulen schließt sich an die Sirene eine kleine Veranstaltung an – wie hier im Jerusalemer Hadassah College – im Stile der nationalen Zeremonien.
    "Menschen versuchen an dieser großen Traurigkeit teilzunehmen, aber manche können dazu keine innere Beziehung aufbauen", sagt Maya am Abend in Kerens Wohnzimmer. Ihre Freundin Sarah war schon lange nicht mehr bei einer offiziellen Gedenkfeier.
    "No, actually, I haven’t been to any formal ceremonies. I am not so into formal ceremonies."
    Und das ist ein Trend in Israel. Vor sechs Jahren begannen die "Erinnerungen im Wohnzimmer", sagt eine der Organisatorinnen, Sonja Beider, 26 Jahre alt.
    "Six years ago. Eine Gruppe von jungen Leuten hat gefühlt, dass sie ihre Verbindung zum Gedenktag und zu dessen Bedeutung verlieren."
    350 Wohnzimmer alleine in Jerusalem
    Und sie haben das Projekt gestartet. Zuerst nur in einem Wohnzimmer. Dieses Jahr allerdings haben sich Menschen in 350 Wohnzimmern alleine in Jerusalem getroffen, und in gut 1000 anderen Wohnungen in ganz Israel, in den USA und anderen Ländern. Auch der israelische Präsident Reuven Rivlin hat sein Wohnzimmer geöffnet. Es ist ein großer Erfolg für die Organisatoren und diese alternative Art des Gedenkens. Offensichtlich seien viele Israelis unzufrieden, wie an den Holocaust erinnert wird, sagt Sonja Beider.
    "In Israel haben bisher viele Menschen nur darüber gesprochen, was in Deutschland und Polen passiert ist. Viele Menschen denken nicht, dass das ihre Geschichte ist."
    Sonja wurde in Russland geboren, als Dreijährige kam sie mit ihrer Familie nach Israel. "Als ich aufgewachsen bin, habe ich zuhause viel über den Krieg gehört. Und in der Schule haben sie über den Holocaust unterrichtet. Ich habe Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass das dasselbe ist. Wenn meine Großeltern von ihren Geschwistern erzählten, die im Krieg verschwunden sind, habe ich nicht verstanden, dass sie Holocaust-Opfer waren. In den offiziellen Feiern, denke ich, werden viele Geschichten vergessen."
    Ortswechsel: Wir sind auf dem Zionsplatz im Zentrum der Jerusalemer Neustadt. Auch hier haben die "Erinnerungen im Wohnzimmer" einen Treffpunkt arrangiert. Auf dem Boden liegen Teppiche. Menschen bleiben spontan stehen.
    Gemeinsame Erinnerung an den Holocaust schaffen
    "They are coming and asking, and they are here with us. They are talking and singing."
    Die jungen Leute sitzen in Kreisen. Manche singen, andere reden miteinander, so wie Alon, der gerade in eine Diskussion über Rassismus vertieft war.
    "Wenn wir uns in so einen Kreis setzen, dann kann jeder seine Gedanken mit den anderen teilen, dann ist man Teil der Diskussion – und ich würde sogar sagen, wir können eine gemeinsame Erinnerung an den Holocaust schaffen."
    Eine eigene Diskussion und eine eigene Erinnerung wollen die Teilnehmer schaffen. Denn in diesem Kreis sitzt kein Holocaust-Überlebender. Eines Tages wird keiner dieser Zeugen mehr am Leben sein. Dann haben die jungen Israelis auf dem Zionsplatz nur noch sich – und die Videos, die sie schon jetzt in vielen Wohnzimmern aufnehmen.