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"Ich hab mich mit Demonstranten geprügelt, die Steine schmissen"

Große Bürgernähe zeichnete Henning Scherf immer aus. Als Politiker erlangte der zwei Meter große Mann durch seinen unkonventionellen Stil überregionale Berühmtheit. Er übernachtete bei Hausbesetzern, nahm an Demonstrationen gegen die Pershing-II-Basis in Mutlangen teil und ging eine Zeit lang als Kaffeepflücker nach Nicaragua.

Henning Scherf im Gespräch mit Rainer Burchardt | 31.05.2012
    Große Bürgernähe zeichnete ihn aus. Fotos, die ihn als Bürgermeister unterwegs mit dem Fahrrad in der Bremer Innenstadt zeigen, und zwar ohne Polizeischutz, sind vielen noch aus der Zeitungslektüre in lebhafter Erinnerung. Die Rede ist von Henning Scherf, geboren am 31. Oktober 1938 in Bremen, seit 1963 Mitglied der SPD. Der am längsten regierende Politiker Deutschlands war von 1995 bis 2004 Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen, von 1971 bis 1978 Mitglied der Bremischen Bürgerschaft und von 1978 bis 2005 Mitglied der Landesregierung. Henning Scherfs Lebensweg verlief keineswegs immer geradlinig. Er war Schulversager, stotterte in seiner Jugend, ließ sich jedoch durch nichts entmutigen. Nach dem Abitur studierte Scherf Rechtswissenschaften und Soziologie in Freiburg und Berlin, 1968 promovierte er zum Dr. jur. und war als Rechtsanwalt tätig. Als Politiker erlangte der zwei Meter große Mann durch seinen unkonventionellen Stil überregionale Berühmtheit. Er übernachtete bei Hausbesetzern, nahm an Demonstrationen gegen die Pershing-II-Basis in Mutlangen teil und ging eine Zeit lang als Kaffeepflücker nach Nicaragua. Ende 2005 zog er sich aus persönlichen Gründen aus der Regierungsverantwortung zurück und lebt heute in einer altersgerechten Wohngemeinschaft in der Bremer Innenstadt. Henning Scherf ist mit der Musikpädagogin Louise Scherf verheiratet, hat drei erwachsene Kinder sowie inzwischen acht Enkelkinder.

    Henning Scherf: Also wir hatten zwei sehr unterschiedliche Eltern, die uns auch sehr unterschiedlich beeinflusst haben.

    Herkunft aus einer gemischten Familie, Kindheitsjahre und die Schrecken von Luftangriffen im Zweiten Weltkrieg.

    Rainer Burchardt: Herr Scherf, wir wollen mal ein bisschen persönlich feuilletonistisch beginnen, dieses Gespräch. Wer ist Oma Gehrke und welche Bedeutung hatte Oma Gehrke für Ihr Leben? Sie gelten ja unter Bremer Connaissuers, um es mal so zu sagen, als der Omaknutscher.

    Scherf: Das ist meine Großmutter, und die hat ein schweres Leben gehabt. Die ist mit acht Jahren Vollwaise geworden und dann musste sie aus der Schule raus und dann hat sie nur noch gearbeitet, und dann ist sie mit 23 Jahren Witwe geworden, hat wieder geheiratet und ist mit 27 dann das Zweite Mal Witwe geworden. Und eigentlich war die dann alt mit 27 Jahren. Und dann hat die mit meiner Mutter zusammen einen Haushalt gehabt, und als mein Vater, der Witwer war, meine Mutter entdeckt hat, da ist die mit in dieses Familienhaus gezogen, und seitdem hat sie da bis zu ihrem Tode bei uns gelebt.

    Burchardt: War sie für Sie so etwas wie eine Ersatzmutti oder eine zusätzliche Mutti? Sie gilt ja als Ihre Lieblingsoma.

    Scherf: Ja, sie war manchmal sogar wichtiger als unsere Mutter, weil sie eigentlich alternativlos zu Hause war, sie hat sich für nichts anderes interessiert als nur für diese sechs Enkelkinder. Sie war absolut bedürfnislos, sehr gescheit. Wir hatten bei der immer jemanden, der auf unserer Seite war. Bei meiner Mutter war das nicht immer so. Die war auch manchmal streng und gestresst und war auch krank. Unsere Omi war nie krank. Die hat uns im Krieg, als mein Vater Soldat war und meine Mutter Typhus hatte, alleine durchgekriegt, praktisch ohne Geld.

    Burchardt: Sie haben fünf Geschwister, nicht, insgesamt waren Sie sechs Kinder.

    Scherf: Ja, wir waren sechs insgesamt, und ich wunder mich bis heute, wie die das hingekriegt hat. Wo die das überhaupt her besorgt hat. Wie die überhaupt an die Nahrungsmittel gekommen ist. Und wie sie uns alle satt gekriegt hat.

    Burchardt: Das heißt, in der Kriegszeit.

    Scherf: Ja.

    Burchardt: Sie sind ja Jahrgang 38 und haben diese Zeit natürlich als aufwachsendes Kind sehr bewusst erlebt.

    Scherf: Ja, ja, ja, in den Kriegsjahren. Wir sehen immer auf den Fotos wohlernährt aus, sie ist immer ganz hohl und ganz abgemagert und ganz ausgezehrt. Die muss ihr Letztes hergegeben haben.

    Burchardt: Welche Bedeutung hatten in der Zeit Ihre Eltern? Sie sagten ja schon, die Großmutter war die wichtigere Person. Welche Bedeutung hatten Ihre Eltern? Ihr Vater war ja auch Soldat in der Zeit.

    Scherf: Ja, der war ein sehr untypischer Soldat. Der war eigentlich ein frommer Wandervogel. Und, sehr anders als wir, hat seine Schule nicht zu Ende gebracht, ist dann gewandert und hat dann irgendwann Drogist gelernt und hat eigentlich seine Frömmigkeit und seine Wandervogelbegeisterung mit dieser zweiten Frau, meiner Mutter, die eine Linke war, die überhaupt nicht fromm war – die beiden waren sich einig, gegen die Nazis zu sein. Ja, und dazwischen sind wir aufgewachsen. Wir konnten uns immer aussuchen, ob wir mit unserem Vater Kirchenlieder singen und irgendwelche Bibelgeschichten machen oder Zupfgeigenhansel, den haben wir auswendig lernen müssen. Oder ob wir mit unserer Mutter zeitgenössische Literatur lasen. Die wollte mit uns Heinrich Mann lesen, die wollte mit uns richtig die gesamte Nachkriegsliteratur wirklich in diese Kinderköpfe reinbringen. Die hatte Lust dazu und Zeit dazu. Das konnten wir uns aussuchen. Also wir hatten zwei sehr unterschiedliche Eltern, die uns auch sehr unterschiedlich beeinflusst haben. Ich wundere mich bis heute, dass die beiden zusammengehalten haben.

    Burchardt: Welche Wirkung hatte das eigentlich auf die Geschwister jetzt insgesamt, Sie eingeschlossen, dass da nicht eine ganz klare, von beiden Elternteilen eine klare, ich sag jetzt einmal, soziologische Orientierung stattgefunden hat oder soziale auch?

    Scherf: Ja, ich wollte das natürlich nicht. Und ich hab das erst mit neun Jahren kapiert, dass wir aus zweierlei Ehen kamen. Dass die älteren drei Geschwister eine andere Mutter haben, die gestorben ist bei der Geburt meines Bruders, meine Mutter dann die leibliche Mutter der drei nachgeborenen Jungs, zu denen ich auch gehörte, war, das habe ich als furchtbare Sache erlebt. Ich dachte, das gibt es doch gar nicht. Wir sind doch eine Familie und wir bleiben doch gleich. Bis dahin hatte ich das überhaupt nicht gemerkt. Ab da ist mir das dann so in Andeutungen immer mal wieder deutlich geworden, dass wir doch sehr unterschiedlich waren, dass unser Vater immer Sorge hatte, dass die drei jüngsten von der Mutter, von der leiblichen Mutter vorgezogen wurden – was nicht der Fall war. Also es hat eine komplizierte, bis in die Zwischentöne hinein komplizierte Orientierung in dieser gemischten Familie und dieser gemischten Kinderschar gegeben.

    Burchardt: War das dann so etwas wie im Kleinen, was man heute neumodisch Patchworkfamilie nennt, was Sie damals schon erlebt haben oder auch erleben mussten? Und hat das, um jetzt einen Sprung in die Gegenwart zu tun – Sie leben ja im Augenblick und legen auch Wert auf den Begriff, in einer Alters-WG, wie Sie das nennen – hat das damals auch schon oder das von damals auf Ihre Lebensart heute Einfluss gehabt?

    Scherf: Also ich hab gelernt von Kind auf an, dass mit vier Geschwistern zusammenzuleben, anregend ist. Und auch, wenn es Krach gibt, man kann dann lernen. Man lernt übrigens über die Geschwister mehr als über die Eltern und über die Lehrer. Ich fand auch ganz toll, dass die Großmutter dabei war. Und wir hatten bis zum Kriegsende eine dienstverpflichtete, Zwangsarbeiterin würden wir heute sagen, aus der Ukraine, die haben wir auch geliebt.

    Burchardt: In Ihrem Haushalt?

    Scherf: Im Haushalt. Die lebte bei uns. Das war für uns die zweite Mutter, die haben wir wirklich herzinniglich geliebt. Die war auch eine Seele, also, die war wunderbar.

    Burchardt: Haben Sie Kontakt gehalten noch?

    Scherf: Leider ist der – die ist gegen Ihren Willen, musste die wieder nach Hause. Sie wollte bei uns bleiben. Und ich hab immer wieder versucht, herauszukriegen – ich hab mal eine Ministerin getroffen aus der Ukraine und gesagt, Sie sind meine Doucha. Sie sagte, wer ist Doucha? Da habe ich ihr das erzählt, sagt sie, nee, das war ich sicher nicht. Und dann habe ich ihr meine Begeisterung von Doucha erzählt und sie sagte, ach, das ist nett, dass Sie das so sagen und dass Sie das auf mich übertragen. Nein, ich hab sie leider nie wieder getroffen. Ich will nur sagen, wir waren immer mindestens zehn, mit diesen unterschiedlichen Generationen und dann noch die dazu gekommene Doucha. Und das fand ich spannend. Das hat mich sehr gefördert, sehr anregend gewesen. Auch zweimal ausgebombt und dann raus aus Bremen auf so ein Städtchen in der Nähe, Osterholz-Scharmbeck sind wir gegangen, richtig geflüchtet vor den Bomben. Das hat mich geprägt und das hat mir auch vermittelt diese Grunderfahrung, dass es mit mehreren zusammenzuleben schöner ist als alleine zu leben.

    Burchardt: Nun gab es auf Bremen, da Sie gerade über Zerbomben gesprochen haben, eine Menge an Fliegerangriffen und auch sehr viele Zerstörungen. Volker Mauersberger, Ihr Biograf, schreibt irgendwo, dass er Sie auch angesprochen hat auf ein Bild, dass im Bremer Senat hängt, "Die Klage Bremens". Und Sie immer sagen, das habe sehr tief auf Sie gewirkt. Das Bild noch mehr als damals, als Sie Kind waren, diese Eins-zu-Eins-Bombenangriffe?

    Scherf: Also das ist so ein, surrealistisches fast, Gemälde von Radziwill, der ist ja ein Autodidakt, inzwischen hochberühmt, und unbezahlbar sind seine Bilder inzwischen geworden ...

    Burchardt: Also Bremen ist reich, wollen Sie sagen?

    Scherf: Nee – also dieses Bild jedenfalls ist ein gutes Geschenk. Hat uns die Sparkasse und die Landesbank geschenkt. Das ist ein honoriges Geschenk. Und das ist seine Wahrnehmung, wie er 1945 Bremen erlebt hat. Er hat das auch "Die Klage Bremens" betitelt. Nun ja, und dann sehe ich immer dieses Bild. Und das Bild ist, meine Erinnerung und meiner Emotion sehr direkt berührend. Weil, da sind Trümmer, Trümmer, Trümmer, Trümmer, Trümmer – man sieht noch die Gardinen aus den Fenstern wehen, obwohl die Fenster keinen Sinn mehr haben. Man sieht auf irgendeinem Absatz noch ein Sofa stehen, das auch keinen Sinn mehr hat. Das einzige, was bei ihm heil geblieben ist, der Bunker des Gauleiters, der immer noch steht im Bürgerpark, wo der Gauleiter sich so einen Unterschlupf gebaut hat. Und dann immer die Stukas darüber, die Tiefflieger, die ich mehrfach und öfter erlebt habe, wie die ganz tief und dann mit Maschinengewehren, die vorne dran waren, dann wirklich auch Leute verfolgten. Wir sind ein paar Mal in den Graben gesprungen, mitten in das feuchte, nasse Gras im Graben, Schutzgebiet, um nicht getroffen zu werden. Die hat er auch gemalt. Das trifft mich heute noch. Das ist noch heute lebendig.


    Deutschlandfunk. Das Zeitzeugengespräch. Heute mit Henning Scherf.

    Scherf: Es geht auch ohne Gewalt.

    Protestantische Prägung, strenger Pazifismus und Perspektivenwechsel in Friedensfragen.

    Burchardt: Haben Sie in der Zeit nach dem Kriege eigentlich auch die Erkenntnis gewonnen, nie wieder Krieg, das wollen wir gar nicht, und alles, was dann auch mit Wiederbewaffnung, die Diskussion fing ja schon 1952 an, da waren Sie 14 Jahre alt, und 55 wurde dann beschlossen, 56 gab es die Bundeswehr. Und wenn wir dann in Ihre berufliche Laufbahn gehen, dann standen Sie ja zwischen Baum und Borke bei dieser berühmt-berüchtigten Vereidigung von Soldaten hier in Bremen, die ja skandalös war. Sie standen zwischen der Polizei ...

    Scherf: Kriegsdienstverweigerung! Ich bin ja Kriegsdienstverweigerer, ich bin ja anerkannter Kriegsdienstverweigerer. Die hat mir nicht nur das Elternhaus, sondern insbesondere unsere Gemeinde vermittelt. Die Stephani-Gemeinde hier, das ist hier direkte Nachbarschaft, ist unsere Gemeinde, die war bekennende Kirche. Die einzige Gemeinde in Bremen, die bekennende Kirche war. Und Pastor Greifenhagen, unser Pastor, der Vater von Martin Greifenhagen, war ein Barth-Schüler und hat die Barmer Bekenntnissynode mitgestaltet, hat auch das Bekenntnis mit geschrieben. Der hat uns richtig antimilitärisch erzogen.

    Und das haben die eben schon in der Nazizeit uns beigebracht und das war in der Nachkriegszeit ganz wichtig. Wir waren überzeugt davon, nie wieder aufgerüstet zu werden. Das war alles eine unvorstellbare Bedrohung. Und meine Kriegsdienstverweigerung, die ich dann als Schüler gemacht habe, habe ich sehr, sehr christlich mit dieser Begründung, die ich da in der Gemeinde gelernt habe und gelebt habe, begründet. Und die ist mir auch abgenommen worden. Ich will die bis heute nicht aufgeben. Obwohl ich mit der Frömmigkeit inzwischen nicht mehr so sicher bin. Das ist mir inzwischen alles sehr wackelig geworden und ich habe mehr Fragen als Antworten, aber dieses entschieden, ich will ein Beispiel setzen, dass man, bitte sehr, ohne Gewalt und auch ohne militärische Gewalt in dieser Welt leben kann und über die Runden kommen kann.

    Und dass man Verbündete braucht, die das gleichermaßen wollen und gleichermaßen machen. Dass man sogar trainieren kann, dass man richtig – ich habe damals als junger Student versucht, eine Freiwilligenfibel mit herauszugeben mit Freunden, wo wir die Erfahrungen der Shanti Shena, also die gewaltlose Friedensbewegung in Indien, die Gandhi begründet hat, und das haben wir übernommen und haben das dann ins Deutsche übersetzt und gesagt, das wollen wir auch hier. Ich bin nach wie vor der Überzeugung, dass das eine ganz wichtige Orientierung ist. Dass dieses alternativlose, resignierte, manchmal auch zynische Sich-einlassen, es geht eben nicht anders als mit Gewalt, nicht das Einzige sein darf. Wir müssen immer wieder Lernorte und Beispiele schaffen, dass die jungen Leute sich entscheiden können und sagen können, es geht auch ohne Gewalt.

    Burchardt: Sie brachten eben den Begriff der Frömmigkeit. Das will ich jetzt mal wegziehen von der Frömmigkeit und dann doch zum Politiker Henning Scherf kommen. Da stellt sich natürlich schon die Frage, wie stehen Sie zum Beispiel zum damaligen Kosovo-Einsatz, Kosovo-Krieg, der ja die Grünen fast schon zerrissen hätte, und dann jetzt eben auch ganz aktuell, Einsatz von deutschem Militär unter anderem. Peter Struck, der gesagt hat, wir verteidigen unsere Sicherheit am Hindukusch, also auch deutsche Soldaten dort in Gewalteinsätzen, im Krieg, wie dann ja auch letztendlich zugegeben wurde.

    Scherf: Ich hab damals, als ich mich da mit der Kriegsdienstverweigerung richtig also bekennen musste, immer gesagt, es gibt keinen gerechten Krieg, aber es gibt den dringenden Wunsch, dass wir so etwas wie eine Weltinnenpolitik machen, die dann auch Gewalt anwenden darf. So hab ich das damals benannt. Und habe immer gesagt, wenn das gelingt, dass wir eine Adresse, die legitimiert ist, die demokratisch legitimiert ist, die rechtsstaatlich legitimiert ist, eine Adresse in der Welt haben, die wirklich mit Autorität ausgestattet, sich auch gegen Gewalttäter durchsetzen kann. Und in der Diskussion um den Jugoslawien-Einsatz und den Kosovo-Einsatz und später auch um den Afghanistan-Einsatz hab ich versucht, immer herauszukriegen, auch mit Hans Koschnicks Hilfe, der übrigens früher auch Kriegsdienstverweigerer war, wir waren zusammen EDK-Mitglieder ...

    Burchardt: Haben Sie Ersatzdienst gemacht?

    Scherf: Nein. Ich war erster Jahrgang, die gab es damals noch gar nicht. Ich wollte das, ich hab mich gemeldet, und die haben gesagt, haben wir noch nicht. Ich hab dann selber Work-Camps organisiert, über dreißig internationale Work-Camps, ich komme also auf eine lange, lange Zeit. Ich hab gesagt, ich hab also mich nicht gedrückt, ich wollte nicht so mich irgendwie von der Fahne machen, aber in meiner Zeit gab es den Wehrersatzdienst noch nicht. Der wurde erst später aufgebaut. Also. Mit Hans Koschnick zusammen und seiner Erfahrung, die er in Mostar gemacht hat, die mir bis heute sehr, sehr nahe sind, wie er da zwischen den Fronten gestanden hat. Er wollte ja nicht, er wollte ja die nicht belehren, er wollte die nur dazu bringen, nicht mehr zu schießen. Und miteinander zu reden. Die Serben nicht und die Kroaten nicht die Herzgowina-Bosniaken auch nicht. Und er hat sich auf – ohne Jacke, mit Hemd, ohne Schlips, so wie er so ist, auf die Straße gestellt und ...

    Burchardt: Es gab ja Anschläge gegen ihn damals ...

    Scherf: Ja, ja, es gab Anschläge, da haben wir dann aber sein Hotelzimmer in Schutt und Asche gelegt hat, saß er immer in der Kneipe, sagte er, aber die kannten mich nicht, die hätten eigentlich wissen müssen, dass ich um diese Zeit unten in der Kneipe sitze. Die haben ihn versucht, in seinem Dienstwagen, gepanzerten Dienstwagen zu überfallen, das gibt es alles gefilmt auch.

    Burchardt: Da gab es Fernsehbilder.

    Scherf: Der große Hans. Mein großer väterlicher Freund Hans Koschnik ...

    Burchardt: Das sagt der lange Henning!

    Scherf: Ja, ja, ja. Der hat mir wirklich gesagt, Henning, es geht nicht anders. Die brauchen diesen polizeilichen Einsatz, wir müssen die mit Machtmitteln daran hindern, sich gegenseitig umzubringen. Und das geht auch nicht sofort wieder weg, sondern wir müssen uns auf Jahre einstellen, bis dann wieder Generationen nachgewachsen sind, die nicht in dieser Wut dieses Krieges, die nicht in dieser Rache dieses Krieges verletzt sind, sondern die eine neue Hoffnung haben.

    Und ich beobachte jetzt, wo sie sich alle anstellen, nach Europa zu kommen, die Slowenen sind schon da, die Kroaten werden das jetzt demnächst, die Serben wollen unbedingt, die strengen sich an ohne Ende. Ich glaube, das geht auf. Ich glauben, dass dieser Einsatz, der ja militärisch war und heftig umkämpft war, der hat den Krieg beendet. Der hat das Morden beendet, das Vergewaltigen beendet, er hat diese KZs, die die da hatten, diese Srebrenica, diese 8000 Umgebrachten, wo der Mladic jetzt angeklagt wird. Das hat das wirklich beendet. Das hat geklappt. Und wenn das jetzt weiter klappt, dass die wirklich in Europa ankommen und dass sie wissen, in Europa kann man nicht mit rassistischen, gegenseitigen Mordstrategien ankommen, sondern da muss man sich öffnen, da muss man kooperativ sein, da muss man arbeiten, mit den anderen zusammenarbeiten, man muss raus aus diesem Elend kommen. Dann, denke ich, dann hat sich wirklich diese Sache als richtig erwiesen im Nachhinein.

    Ich weiß, dass das den Grünen noch mehr Mühe gemacht hat als den Sozialdemokraten, aber auch bei uns sind einige Leute aus der SPD ausgetreten wegen dieses Einsatzes. Auch Freunde von mir sind ausgetreten. Wir sind immer noch Freunde geblieben, aber die haben gesagt, das können wir nicht mehr tragen. Die nächste Erfahrung war die, die auch dazugekommen ist bei der deutschen Wiedervereinigung. Da habe ich erlebt, wie schwer es war, die Beamten von Bonn nach Berlin zu kriegen. Die sind ja zum Teil immer noch in Bonn. Die wollten sich nicht von ihren Häusern trennen, die wollten einen kurzen Weg haben zum Dienst.

    Aber die Bundeswehr, da bin ich aus dem Staunen nicht wieder herausgekommen, die hat vom ersten Augenblick an sich gesamtdeutsch verstanden. Die sind sofort rübergegangen. Die haben begriffen, wir müssen jetzt mit gutem Beispiel vorangehen. Wir müssen dieser entmilitarisierten NVA zeigen, dass wir keine Eroberer sind, dass wir hier nicht die Rechthaber sind. Sondern wir müssen uns in deren Lebenslagen reindenken. Wir sind dann nach Eggesin gegangen, obwohl das militärisch gar nicht notwendig war. Weil sie sagen wollten, wir wollen in der Tradition eurer Arbeit, die wir respektieren, versuchen, jetzt einen Anfang zu machen. Deutschland nicht mehr als Militärmacht, sondern als europäische integrierte, mit freundlichen Nachbarn umgeben und keinen feindseligen Geschichten und keinen Feindbildern, sondern als die dann angefangen haben beim Oderbruch dann zu deichen, da dachte ich: Guck mal an! Das ist doch stark. Da habe ich auch – meine ganzen Vorurteile gegen das Militär, die musste ich auch kritisch hinterfragen. Ja, wenn die sich so vorbildlich benehmen, dann ist das etwas, was mir eigentlich gefällt, wo ich sage, also Donnerwetter.

    Heute im Zeitzeugengespräch des Deutschlandfunks: Henning Scherf, ehemaliger Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen.

    Scherf: Ich hab mich mit Demonstranten geprügelt, die Steine schmissen, hab denen die Steine weggenommen.

    Die Bremer Anti-Bundeswehr-Krawalle, Henning Scherf zwischen allen Fronten und wechselhafte Beziehungen zu Gerhard Schröder.

    Burchardt: Herr Scherf, wenn ich daran anknüpfen darf: Diese von mir eben erwähnte Biografie hat ja den Untertitel "Zwischen Macht und Moral". Wenn ich Sie jetzt auch in Erinnerung noch sehe bei diesem Weserstadion, bei dieser Vereidigung. Auf der einen Seite die Macht, die Polizei, die Staatsmacht, die Staatsgewalt, und auf der anderen Seite die private, also die Protestierenden und Henning Scherf eigentlich, ja, mittendrin. Also dazwischen. Wo gehörten Sie da eigentlich hin, genau genommen? Wissen Sie das heute?

    Scherf: Ja, natürlich, das ist mir tief in mein Gedächtnis eingebrannt.

    Burchardt: Na, deshalb spreche ich Sie ja auch wirklich drauf an.

    Scherf: Ich hatte ein dramatisches Loyalitätsproblem. Hans Koschnick, mein Chef, hatte das verabredet mit Apel, ohne den Senat zu beteiligen. Ich saß im Senat.

    Burchardt: Herr Apel war damals Bundesverteidigungsminister.

    Scherf: Apel war Verteidigungsminister. Die hatten das verabredet, und der sagte, das muss jetzt sein, ihr könnt mich jetzt nicht und so. Und ich hab gedacht, aber ich kann doch nicht übersehen, dass die Kirchen alle dagegen sind. Die SPD in Bremen war fast geschlossen dagegen.

    Burchardt: Gewerkschaften ...

    Scherf: Die Jugendverbände waren alle dagegen. Die Gewerkschaften waren dagegen, die Betriebe waren dagegen. Sogar in der Bundeswehr, der Regener hat ja darüber ein dickes Buch geschrieben, "Gartenstadt Vahr", ja, oder "Vahr-Süd" heißt das, glaube ich. Da beschreibt der das ...

    Burchardt: Ausfahrt Vahr-Süd.

    Scherf: Der einer, der da Wehrpflicht, der wollte verweigern, hat das zu dusselig angestellt und musste dann wirklich dienen. Der war da bei der Vereinigung dabei. Mit Hehn. Also selbst in der Bundeswehr gab es kritische Stimmen, muss das sein? Müssen wir so eine Show machen, müssen wir uns so aufdrängen? Müssen wir uns nicht besser vermitteln? Müssen wir nicht unsere Kritiker einladen zum Mitdenken, müssen wir die nicht außen vorhalten? Also, ich hatte ein Loyalitätsproblem ...

    Burchardt: Sie waren damals Senator, Sie waren noch nicht Bürgermeister.

    Scherf: Ich war Senator. Für Soziales, Jugend und Sport. Jugend, das habe ich ernst genommen, das waren meine Jugendverbände, meine Funktionäre, meine Sekretäre, die waren alle, alle, alle dagegen. Und dann habe ich gedacht, ich müsste so was wie eine Vermittlungsrolle einnehmen. Hab ich Hans Koschnick auch erzählt, aber der fand das alles sehr anstrengend, hat mit zusammengebissenen Zähnen das erhalten.

    Also er hatte einen SPD-Mann, Helmut Fröhlich, meinen Freund Helmut Fröhlich, der war Innensenator, der holte die Militärs und die Polizeihilfen aus den anderen Ländern, und dann hatte er einen Jugendsenator, der holte die Demonstranten. Auch aus Niedersachsen, überall her. Und Hans in der Mitte, Hans Koschnick in der Mitte. Und dann ging das eben schief.

    Dieses Vermittlungskonzept, das ich mir ausgedacht hatte. Wir wollten 10.000 Demonstranten, das haben wir auch geschafft, 10.000 Demonstranten. Aber die anderen waren stärker. Die haben uns verprügelt. Die sind durch uns durch. Die wollten die Gewalt. Und wir standen daneben und dabei. Ich hab mich mit Demonstranten geprügelt, die Steine schmissen, hab denen die Steine weggenommen. Das hat mir aber bei der Polizei nicht einen Hauch an Reputation eingebracht. Die fanden, ich hab die erst salonfähig gemacht dadurch, dass ich da auch aufkreuze mit meinen Leuten.

    Also, dieser Vermittlungsversuch – ich bin derjenige, der die Zivilgesellschaft vertritt und der sagt, wir verstehen euch, wir wollen euch nicht vor den Kopf hauen, wir wollen mit euch weiter reden, auch wenn ihr kritisch seid. Und mein Freund Helmut, der Innensenator, der die Polizisten ermutigt hat, sich nicht ins Bockshorn jagen zu lassen, das ist gründlich schiefgegangen. Ich erinnere mich an einen Unterbezirksparteitag eine Woche später, wo Gerhard Schröder als Juso-Bundesvorsitzender aufgetreten ist und eine flammende Rede auf mich gehalten hat und auf mein vorbildliches Verhalten. So hat er nie wieder über mich geredet ...

    Burchardt: Das haben Sie ihm aber nicht gedankt später durch Ihre Kritik an Hartz-IV ...

    Scherf: Ich hab ihm das wieder gesagt, immer wieder, Gerd, Du hast mich mal richtig toll rausgehauen, als ich wirklich mit dem Rücken an der Wand war, mit beiden Füßen im Nassen stand. Gerhard hatte so richtig das Mandat der Jusos und sozusagen der Jugend, politischen Öffentlichkeit. Und hat uns da kräftig von hinten unterstützt. Wir hatten 33 Pastoren auf unserer Seite.

    Burchardt: Herr Scherf, hätten Sie das nicht eben dem Schröder mit Zustimmung zur Agenda 20 danken können? Denn seitdem ging ja nun gar nichts mehr zwischen Ihnen und Schröder.

    Scherf: Nein, das ist noch komplizierter. Ich war bei der Verhandlung von den Hartz-IV-Gesetzen, das ist ja der Ausdruck der Agenda 2010, der Vorsitzende des Vermittlungsausschusses. Und ich musste dafür sorgen, dass das durchkommt. Ich hab zwar gelitten wie ein Hund, weil ich vieles nicht gut fand. Einiges hab ich gar nicht übersehen, aber ich wusste, wir müssen uns einigen. Und ich bin immer hin- und hergelaufen zwischen den verschiedenen Gruppen. Ich weiß noch, als Schröder, der es nicht wollte, sich dann bei der SPD-Vorbesprechung dann endlich zu einem Kompromissschritt entschlossen hat und dann gleich vor die Presse geht, bin ich zu Angela Merkel und sage: Frau Merkel, Sie müssen jetzt sofort hinter dem her, sonst trägt das nicht. Da ist die sofort los und hat sich neben mich an die Mikrofone gestellt und gesagt, das ist auch mein Vorschlag. Also, ich hatte da eine ganz anstrengende, ganz ungewöhnliche Position. Die haben auch die Journalisten alle begleitet. Also wir waren ja eine Woche am Verhandeln, tief in die Nacht hinein zum Teil, bis in die Morgenstunden. Und da hab ich ganz in seinem Sinne, denke ich, einen Kompromiss gebastelt.

    Burchardt: Aber woher dann hinterher Ihre Kritik an ihm?

    Scherf: Ja, wir haben vieles übersehen. Also wir haben uns natürlich auf Beamte verlassen. Und die Politiker, die da waren, die kannten die Texte zum Teil gar nicht im Detail. Wir haben uns immer nur die Konfliktfelder herausarbeiten lassen und dann versucht, die abzustimmen. Aber diese ganzen 2300 gedruckten Seiten, wer hat die denn schon gelesen? Und wir haben ganz viel nicht gewusst. Und später haben die Sozialgerichte ja eine ganze Latte von Urteilen, also ein Welle von Urteilen erlassen, die das korrigiert haben. Zurecht korrigiert haben.

    Und dann haben wir eben auch nicht gesehen, dass wir wirklich das große Geld, die Investitionsbanker unglaublich privilegiert haben und wirklich den kleinen Leuten Geld weggenommen haben. Wir waren der Meinung, wir müssen etwas machen, was unsere Wettbewerbsfähigkeit in Europa und in der Welt erhöht. Und wir wollten also uns nicht nachsagen lassen, wir sind hier der kranke Mann in Europa. Und es gibt einen Reformstau oder so. Das wurde ja in den Zeitungen europaweit, weltweit geschrieben. Wir wollten schon zeigen, dass wir kapiert haben, und jetzt, heute, Frau Merkel lebt davon. Dass wir jetzt so gut wirtschaftlich dastehen, dass die ganze Welt uns bewundert und Europa allemal, das liegt unter anderem auch daran.

    Aber wir haben natürlich auch dramatische Umverteilung mitgemacht, die mir, bei Lichte besehen und nachgearbeitet, ganz große Schmerzen und ganz große Mühe machen, und wo ich dankbar bin, dass die Debatte über Korrekturen nicht aufhört und immer wieder neue Anläufe gemacht werden und wo ich spüre, auch jetzt, bei dem Fiskalpaket, dass in Europa weiter, gegenwärtig ist und auch machtpolitisch präsent ist, dass wir nicht einfach ein sparpolitisches, finanzpolitisches Projekt auflegen und alles andere sich selbst überlassen, sondern dass wir inzwischen versuchen, nachzukorrigieren und zu sagen, wir müssen die Leute in Beschäftigung bringen. Das ist es. Und Beschäftigung kriegt man nur hin, wenn man Aufträge erteilt, wenn man was zu tun hat. Wenn man alles wegspart und dann die Leute massenhaft arbeitslos werden, dann stürzt man ab. Dann macht man Brüning-Politik. Dann macht man schreckliche Sachen. Dann kommen Anti-Demokraten hoch, wie man das jetzt in Griechenland sehen kann.

    Burchardt: Haben Sie jetzt Hoffnung auf Hollande, der das vielleicht korrigieren könnte?

    Scherf: Ja, nicht nur auf ihn, sondern auch auf viele andere ...

    Burchardt: Aber die SPD biegt schon wieder bei.

    Scherf: Auf ihn habe ich Hoffnung, aber ich hoffe auch, dass Angela Merkel natürlich, schlau wie sie ist, merkt, ich muss mit dem zusammen klarkommen, und dass sie nachjustiert und dass sie auch den anderen – ich hab gerade heute einen gründlichen Bericht noch gelesen, wie anders das Klima geworden ist, seitdem der Sarkozy mit der Merkel nicht immer alles dominiert. Jetzt melden sich die anderen alle. Und jetzt haben die ihre eigenen Probleme und jetzt ist wieder so etwas wie eine neue Beratung, in der auch bitte geguckt wird, wie bringen wir unsere Leute in Brot und Arbeit. Das geht nach meiner festen Überzeugung nur, da bin ich ein Keynesianer oder ein Schüler von Keynes. Das geht nur so, dass die öffentliche Hand sich gezielt über Infrastrukturverbesserung als Nachfragestärker beteiligt.

    Deutschlandfunk. Das Zeitzeugengespräch. Unser heutiger Gast: Der ehemalige SPD-Politiker Henning Scherf aus Bremen.

    Burchardt: Aber jetzt müssen wir alles, was wir haben, darauf setzen, um dieses Land wieder aus der Scheiße, hat er damals schon gesagt, herauszuholen.

    Standortpolitik für Bremen, sozialdemokratische Leitfiguren und Henning Scherfs Wurzeln in der gesamtdeutschen Volkspartei GVP.

    Burchardt: Herr Scherf, Sie haben das ja im Mikrokosmos Bremen selber auch hantieren müssen, sowohl als Senator als auch später als Bürgermeister, ich sag jetzt mal so Stichworte wie Vulkanwerft oder Vulkan, wie man hier sagt, oder dann auch Daimler-Benz oder auch Space-Center. Das sind ja alles Unternehmungen gewesen, wo man sagen musste, oh, jetzt muss aber der Staat, und Bremen hat kein Geld, das weiß die Welt – das musste ja irgendwie dann auch mit schweren Wunden, musste das durchgezogen werden. Wie ist es da um Sie bestellt gewesen?

    Scherf: Ja! Das war alles ganz anstrengend. Also Daimler-Benz, da geht die Borgward pleite. Davor, das war eine Großkatastrophe für uns.

    Burchardt: Borgward war aber schon 50er-Jahre, nicht?

    Scherf: Ja, aber damit hat es angefangen. Dann kamen die Daimler-Benz-Leute, damals schon. Weil das gut ging, haben wir immer weiter aufgebaut. Also damals haben wir, da war ich noch gerade mit der Schule fertig, allerdings schon sehr politisch. Schon Juso und Schulsprecher und all so was. Ich schrieb schon Artikel und hatte eine eigene Zeitung oder so was – ich war schon an Deck. Ich wusste schon so ungefähr, wie das läuft. Und ich habe damals Kaisen kritisiert, dass der ablehnte ...

    Burchardt: Der damalige Bürgermeister.

    Scherf: ... 50 Millionen aufzubringen, um Borgward zu retten. Am Schluss ist der Vergleich 100 Prozent für alle – alle Forderungen sind 100 Prozent bezahlt worden. Also, das war eine Firma, die war wirtschaftlich stabil, die hatte ein Bankenproblem, die hatte ein Finanzierungsproblem. Also, damals habe ich schon gelernt, man muss nicht einfach sagen, so geht es eben im Kapitalismus, dann machen die pleite und dann laufen wir eben weg und dann gehen wir alle nach München und versuchen, bei Siemens Arbeit zu finden. Nein, nein, nein. Es gibt eine handfeste öffentliche Aufgabe, dass da, wo das nicht klappt mit dem Markt, dass da aus Struktur und aus Verantwortung für den Menschen, für die Menschen, die da leben und die nicht einfach ihre Sachen packen können und irgendwo anders hinziehen können, dass wir da Alternativen entwickeln. Daimler ist eine wunderbare Erfolgsgeschichte. Wir sind inzwischen ein richtig großer Standort für die Daimlers. Wir sind fast gleich stark wie die in Stuttgart.

    Burchardt: Sie sind auch SPD-Mitglied, und im nächsten Jahr sind Sie es 50 Jahre. Und wie es der Zufall will, wird die SPD im nächsten Jahr auch 150 Jahre alt. Wenn Sie jetzt selbst mal diese 50 Jahre, und ich hoffe, es wird Ihnen da auch eine angemessene Ehrung widerfahren, wenn Sie das jetzt mal Revue passieren lassen. Ich nenne jetzt mal ein paar Namen wie Schumacher, Brandt, Schmidt bis hin zur jetzigen Führungstroika. Wir können das ja nicht alles abhandeln. Was sind für Sie die leitenden Figuren gewesen?

    Scherf: Also ich bin ja links sozialisiert worden über meine Gemeinde, aber nicht unbedingt SPD-orientiert.

    Burchardt: Sie meinen die Kirchengemeinde?

    Scherf: Wir bei der Kirchengemeinde. Wir haben, wir waren Heinemann-Freunde. Wir waren GVP.

    Burchardt: Heinemann, richtig.

    Scherf: Ich bin in der Gesamtdeutschen Volkspartei, nicht Mitglied, weil ich noch zu jung war, aber ich war Wahlhelfer, ich hab Plakate geklebt, ich war Wahlordner. Ich habe Gustav Heinemann, ich habe Johannes Rau, der war mein Freund seit dieser Zeit, der war unser Pressesprecher, und ich hab für ihn Wahlkampf gemacht. Erhard Eppler war GVP, viele. Dieter Posser war unser Generalsekretär. Wunderbare Freunde! Die hab ich ja alle in der GVP kennengelernt. Und mit denen bin ich in die SPD gekommen.

    Burchardt: Also praktisch im Sog von Heinemann, der da als Führungsfigur dann zur SPD ging.

    Scherf: Ja, der war unser Vorbild. Der war ja in der Nazizeit schon mit meinen Eltern und mit unserer Gemeinde auch in der bekennenden Kirche und war ein vorbildlicher Mann, der auch seine Kritik gegen die Wiederaufrüstung bei Adenauer so gemacht hat, dass der seinen Innenminister niedergelegt hat, aus der CDU ausgetreten und gesagt, das kann ich nicht mehr tragen. Das fanden wir alle super. So eine Aufrichtigkeit, so eine klare Sicht, die fand ich ganz stark, finde ich bis heute ganz stark. Gustav Heinemann ist für mich ein ganz großes Vorbild.
    Schumacher war für mich immer derjenige, der mit übermenschlichen Kräften diese schreckliche KZ-Zeit in Dachau überlebt hat. Ich hab ihn ja mit einem Bein, nachher verlor er noch seinen Arm, erlebt. Er war eigentlich unglaublich. Dass jemand, der wirklich nur noch ein Bein und einen Arm hat, und dann noch Wahlreden auf Riesenplätzen hält und mit einer gewaltigen Stimme die Leute auffordert, nun jetzt aber nach vorne zu gehen und jetzt den Nazis zu zeigen, dass wir diejenigen sind, die dieses Land voranbringen und sie das kaputt gemacht haben. Das hat mich schwer beeindruckt, aber ich habe auch ein bisschen Angst davor gekriegt, ob das eigentlich von mir zu schaffen ist.

    Als Willy dann kam, der war viel unpathetischer. Der war nicht so – klar, der war nicht so gezeichnet wie der Schumacher. Der hatte kein KZ hinter sich. Der hat das nicht nur mit Mühe und Not überlebt, sondern der kam als wohlerhaltener, norwegischer und dann schwedischer Sozialdemokrat zurück. Wunderbar, wie gelassen der war. Wunderbar, wie der international war. Ich wusste vorher gar nicht, dass überhaupt noch jemand in der Welt mit Deutschen umgehen wollte. Weil ich dachte, die sind doch alle mit uns durch. Für die sind wir doch die Nazi-Kinder.

    Burchardt: Ja, aber in Deutschland hat er es ja erheblich schwerer gehabt als im Ausland.

    Scherf: Für mich war Willy das Symbol für: Wir haben Freunde in der Welt.

    Burchardt: Wie haben Sie damals zur Ostpolitik, zu dem Konzept von Brandt und Bahr gestanden?

    Scherf: Fand ich wunderbar. Fand ich genau die richtige Antwort auf diese alternativlose Westintegration von Adenauer und Aufrüstungspolitik von Adenauer. Endlich kommt da mal einer und macht Entspannungspolitik. Endlich kommt einer und sagt, wir müssen die anderen nicht als Feinde sehen, sondern als Nachbarn. Und wir müssen die kennenlernen und wir müssen Verständigungs- und Versöhnungs- und Aussöhnungspolitik machen. Ich war glücklich, dass der da so einen großen Schwerpunkt gesetzt hat, ich war voll überzeugt davon, dass das richtig ist.

    War später schwer gekränkt, dass Leute auch wie der gegenwärtige Bundespräsident gesagt hat – ich glaube, jetzt sagt er es nicht mehr, aber ich habe ihn so erlebt. Ihr habt uns mit dieser Ostpolitik verraten. Ihr habt die noch am Leben gehalten. Das hat mich tief getroffen. Weil ich Helsinki und ich die Ostverträge von Willy Brandt als die große Vorbereitung dieses gigantischen Entspannungsprozesses, bei dem man am Schluss die neue, gesamte, wiedervereinigte Deutschland herauskam. Und bei der plötzlich Gorbatschow, der große Gorbatschow, den wir ja in Deutschland alle lieben, weil er der eigentliche Motor dieser Wiedervereinigung gewesen ist. Das hatte ich mir immer gewünscht, dass es bis dahin getrieben werden kann. Aber ich kann mir Gorbatschow ohne Helsinki gar nicht vorstellen. Ich kann mir Gorbatschow ohne Willy Brandt und ohne Egon Bahr gar nicht vorstellen. Die haben lange und zäh und gegen harte Widerstände, gegen wirklich härteste innenpolitische Feindseligkeiten – die haben ja eigentlich nichts unversucht gelassen, die Konservativen, um diese Politik zu desavouieren.

    Burchardt: Und gegen Helsinki, KSZE, wurde ja im Bundestag richtig Stimmung gemacht.

    Scherf: Und das haben die durchgehalten. Später hat Kohl dann das weitergemacht, das muss man auch sagen. Kohl ist in meinen Augen einer, der die Brandtsche Entspannungspolitik weitergemacht hat.

    Burchardt: Sie haben Helmut Schmidt jetzt überschlagen als Kanzler, denn das ist ja auch verbunden mit, ich will mal sagen, mit der Ökonomisierung der Innenpolitik oder auch der Weltpolitik.

    Scherf: Mit dem hab ich auch eine lange Geschichte. Ich glaub gar nicht aber, dass die einer weiß. Apel hat mich mal danach gefragt. Wir haben mal einen Aufsatz darüber geschrieben. Aber der ist von wenigen gelesen worden. Ich hab Helmut Schmidt in der Nachkriegszeit bei meinem Onkel in den Alterdorfer Parzellen erlebt. Mein Onkel war der illegale Hauptkassierer der SPD in der Nazizeit in Hamburg. Mein einziger Onkel überhaupt, den ich hatte. Und der hatte diese Parzelle, und das war der einzige Platz, an dem wir mal so ein bisschen Urlaub machen konnten. In jener Parzelle meines Onkel Heinrich Kracken in Hamburg trafen sich nach 1945 die Emigranten. Die großen. Max Brauer war auch in der Emigration. Und da – der Schönfelder – alle, die später bedeutende Hamburger sozialdemokratische Positionen gemacht haben, habe ich da als Junge kennengelernt.

    Und da kam irgendwann der junge, vitale, starke, aber ganz anders als die Emigranten redende Helmut Schmidt. So habe ich den kennengelernt. Und hab gestaunt. Dass so was auch in der SPD möglich ist. Ich hatte immer meine Vorbilder, meine Überlebenden, meinen Wilhelm Kaisen. Und Schumacher und eben da Max Brauer, und plötzlich kam da so einer, der sagte, die haben uns in die Irre gejagt, aber jetzt müssen wir alles, was wir haben, darauf setzen, um dieses Land wieder aus der Scheiße, hat er damals schon gesagt, herauszuholen. Hat mich schwer beeindruckt. Dann habe ich ihn als Student erlebt. Da haben wir mal ein Streitgespräch im Audimax gehabt. Da war ich der Studentenvertreter und er war Innensenator. Und wir haben uns gefetzt. Er war polemisch und ich hab mich gewehrt. Er hatte ein Auswärtsspiel, ich hatte die Mehrheit, klar. Aber wie er so ist, er hat auch seine Auswärtsspiele angenommen und hat mir gezeigt, dass er rhetorisch mir allemal überlegen war.

    Burchardt: Einer Ihrer Parteifreunde, Detlev Albers, ist doch damals ins Audimax gegangen als Fahnenträger, "Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren!"

    Scherf: Das war später ...

    Burchardt: 1968 etwa.

    Scherf: Ja, da war ich ja schon raus, da war ich schon Assessor. Da war ich schon Anwalt gewesen. Ich hab 1962 Examen gemacht, aber da war Albers noch gar nicht auf der Uni. Da war der noch auf der Schule. Ich habe ihn damals kennengelernt und hab gedacht, Donnerwetter, da ist einer, der kommt vom konservativen Teil, aber der ist diskussionsbereit. Das ist nicht wie die übrigen Konservativen einer, der keine Argumente hat, sondern der, der lässt sich ein. Karl Popper haben wir damals diskutiert. Ich bin, ich mein, ich kenne ihn besser, aber ich musste zugeben, er kannte den besser. Er wusste fast alles. Er hatte ja bei dem gelernt als junger Gefangener in Großbritannien.

    Dann habe ich ihn erlebt, auch noch als Student, in meiner Examenszeit, 1962 bei der Flut. Da war er der Retter von Hamburg und hat gearbeitet wie ein Wilder. Und alle waren wir glücklich, dass wir da so einen Kerl hatten, der alles zur Seite geschoben hat und die Leute gerettet hat. Es hat mich beeindruckt. Also dieses auch. Später, als ich dann so auf Parteitagen immer von den Linken als Vorredner ausgeguckt wurde und dann natürlich immer mit ihm aneinandergeraten bin. Er meldete sich nur schon, wenn er sah, dass ich mich meldete. Sagte, nach dem rede ich. Machten die natürlich so, damit er mir sofort einen überziehen ...

    Burchardt: Sie waren eine Herausforderung für ihn, ja?

    Scherf: Nicht der einzige, aber auch einer, sofort. Das ging so weit, dass er mir irgendwann mal nicht mehr die Hand gegeben hat. Wollte mit mir nichts zu tun haben. Klaus Bölling hat dann versucht, da wieder Brücken zu schlagen, da haben wir uns auch Briefe geschrieben, ganz schöne Briefe, nicht veröffentlicht, aber immerhin, der Kanzler schreibt mir Briefe und ich schreibe ihm und rechtfertige meine Position.

    Burchardt: Gibt es da ein Geheimnis zu verraten?

    Scherf: Nein. Es war einfach ein Versuch, dass er, über Bölling vermittelt, dass er mich verstehen sollte. Und nicht sagen sollte, das ist irgendwie ein durchgeknallter Pietkong oder so. Wehner nannte uns Pietkong.

    Scherf: Ich glaube, wir haben ganz großes Glück, dass wir Joachim Gauck als Bundespräsident haben.

    Reflexionen über das Amt des deutschen Bundespräsidenten.

    Burchardt: Herr Scherf, Sie haben ja vorhin den jetzigen Bundespräsidenten zitiert, von damals, als es darum ging, einen Nachfolger für Christian Wulff zu finden, wurde auch Ihr Name ins Gespräch gebracht. Sie haben sich dazu, soviel ich weiß, nicht geäußert, klugerweise. Hätten Sie es gemacht?

    Scherf: Nein, ich bin, glaube ich, richtig raus aus der Politik vor sieben Jahren mit dem Argument, ich möchte ein neues Leben führen nach der Berufstätigkeit, nach der Politik. Habe ich mit Verve angefangen, schreibe Bücher und halte Vorträge. Darum ist meine Stimme jetzt auch so kaputt, weil ich diese Woche schon fünf Vorträge gehalten habe. Und das ist mein neues Leben. Und ich könnte niemandem, schon gar nicht meiner Frau und meinen Kindern und meiner Wohngemeinschaft erklären, dass ich da raus wollte, um nun wieder in den alten Politiktrott reinzukommen. Nein, ich ...

    Burchardt: Haben Sie nie darüber nachgedacht, überhaupt nicht, während der Situation?

    Scherf: Ich hab natürlich früher, als ich jünger war ...

    Burchardt: Nein, nein, ich meine, jetzt.

    Scherf: Jetzt habe ich gedacht, bitte, bitte, bitte, das gehe doch bitte an mir vorbei, denn ich bin wirklich da rausgewachsen und ich bin sehr angetan, wie der Joachim Gauck das macht, ich finde das eine tolle Botschaft, dass ein Pastor, der in der DDR-Zeit gekämpft hat gegen die SED und gegen die Vertreter der SED, dass der das, ohne in der Partei zu sein, mit seiner ganzen Beredsamkeit, seiner Leidenschaftlichkeit, auch seiner Glaubwürdigkeit, dass er wirklich eingesetzt hat sich für Freiheit und für dieses neue wiedervereinigte Deutschland, dass der nun unser Präsident ist. Und alle, die sagen, wir sind besetzt worden vom Westen. Der sagt, ich bin nicht besetzt worden, ich bin jetzt euer gemeinsamer Präsident. Oder allen, die vielleicht im Osten, in Polen oder was weiß ich wo, sagen, oh, jetzt kommen die Deutschen: Nein! Der sagt, ich hab genauso wie ihr gelitten unter den Kommunisten. Wir haben uns gemeinsam befreit. Wenn die Solidarnosc nicht gewesen wäre, wären wir gar nicht so mutig geworden.

    Burchardt: Finden Sie denn, dass er den Freiheitsbegriff nicht vielleicht etwas strapaziert?

    Scherf: Ich glaube, er ist im Augenblick dabei – klug ist er ja und er weiß genau, wie die Republik tickt – ich glaube er baut das im Augenblick aus. Also ich lerne richtig an seinen Reden und an seinen Auftritten, wie er wirklich versucht, bereit zu sein, viele mitzunehmen, ohne verwaschen zu sein. Ohne so Everybody’s Darling zu sein. Ich glaube, wir haben ganz großes Glück nach diesem Flop mit Christian Wulff haben wir, glaube ich, ganz großes Glück, dass wir Joachim Gauck als Bundespräsident haben. Und auch die Kanzlerin hat das, glaube ich, inzwischen kapiert. Die wollte das ja partout nicht, aber ich glaube, inzwischen hat die gemerkt, das ist auch für sie eine gute Adresse, so aufgestellt, beide aus der DDR, beide aus kirchlichen Minderheiten-Milieus, beide eigentlich gequält. Und die repräsentieren nun uns und machen allen klar: Hier hat nicht das Geld gesiegt, sondern hier hat die Überzeugungskraft gesiegt. Hier hat nicht die Durchstecherei gesiegt, sondern hier hat sich durchgesetzt, wer Mut hatte, in schwierigen Zeiten. Das finde ich ganz wunderbar.
    Hans Koschnick (SPD), früherer Bürgermeister Bremens, einstiger EU-Verwalter von Mostar und Bosnienbeauftragter der Bundesregierung
    "Er wollte die nur dazu bringen, nicht mehr zu schießen" - Hans Koschnick (SPD), früherer Bürgermeister Bremens und Bosnienbeauftragter der Bundesregierung (AP)
    Hennig Scherf, Bürgermeister von Bremen und Vorsitzender des Vermittlungsausschusses von Bundestag und Bundesrat, SPD
    Hennig Scherf war bei der Verhandlung von den Hartz-IV-Gesetzen der Vorsitzende des Vermittlungsausschusses (AP)
    Geste der Demut und Entschuldigung: Willy Brandts berühmter Kniefall vor dem Denkmal für die ermordeten Juden in Warschau, 6.12.1970
    Willy Brandts berühmter Kniefall in Warschau - "Endlich kommt einer und sagt, wir müssen die anderen nicht als Feinde sehen, sondern als Nachbarn" (AP-Archiv)
    Bundespräsident Joachim Gauck bei seiner Antrittsrede
    Scherf: "Ich bin sehr angetan, wie der Joachim Gauck das macht." (picture alliance / dpa / Britta Pedersen)