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"Ich muss die Dinge verstehen von ihrer Vernichtbarkeit her"

Ernst Meister gehört zu jenen Autoren, die ein bedeutendes Werk vorgelegt haben, doch nie einem größeren Publikum bekannt wurden. Seine Gedichte galten als "hermetisch", unverständlich, was einem Autor, wenn er nicht gerade Paul Celan hieß, kaum Leser und Ruhm bescherte.

Von Matthias Kußmann |
    Erst wenige Jahre vor seinem Tod wurde Meister im Literaturbetrieb registriert. Nicholas Born und Peter Handke sorgten dafür, dass er den Petrarca-Preis bekam. Im Herbst 1979 erhielt er den Büchner-Preis; Meister konnte ihn nicht mehr entgegen nehmen, er starb kurz zuvor. Bald darauf waren Autor und Werk vergessen.

    Der Erkennende
    ist der Gräber,
    die Erkenntnis das

    Grab. Der
    Gipfel der Ohnmacht
    ist unten.


    Im Rimbaud Verlag erschienen später Neuausgaben seiner Werke; da der Verlag nicht dafür warb, leider unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Am 3. September wäre Meister 100 Jahre geworden. Höchste Zeit, an ihn zu erinnern und noch einmal zu schauen, wie das ist mit der "Hermetik" seiner Lyrik. Gerade hat Peter Handke bei Suhrkamp eine schöne kleine, bewusst subjektive Auswahl herausgegeben. Sie heißt schlicht "Ernst Meister: Gedichte". Und bei Wallstein haben sich der Germanist Axel Gellhaus und seine Mitarbeiter das gesamte lyrische Textgebirge Meisters vorgenommen. Herausgekommen ist eine imposante über 2000-seitige textkritische und kommentierte Ausgabe. Sie macht vor allem den Arbeitsprozess des Autors deutlich und hilft so beim Verständnis der Gedichte. Axel Gellhaus:

    "Es gibt pro Gedicht 10, 20, manchmal 30 "Zeugen", Arbeitsstufen, Phasen, in denen man sieht, wie er gestrichen, gekürzt, ergänzt hat, wie sich Texte entwickeln, wie sich seine Sprache entwickelt, wie die Gedichte Form gewinnen. Das fanden wir so spannend, dass wir gesagt haben, da lohnt es sich doch, dieses Material aus dem Nachlass in einer Ausgabe wiederzugeben."

    Eine große historisch-kritische Ausgabe, die tatsächlich alle Textzeugen zeigt und kommentiert, wäre viel zu umfangreich und teuer geworden. Schon die jetzige Ausgabe verschlang Unsummen. Also ließen sich die Herausgeber etwas einfallen:

    "Okay, dann nehmen wir die interessantesten, auch aufschlussreichsten Zeugen in einen Apparatband - und geben dem Leser digital, wenn er es vollständig wissen möchte, die Handschriften dazu. Man kann auf der Homepage der Ernst-Meister-Ausgabe Zugang bekommen zu einem Download und kann die Handschriften auf seinen eigenen Computer herunterladen."

    Der Kommentarband schließlich erläutert werkgeschichtliche, intertextuelle und biografische Bezüge. So erhält der Leser einen neuen Zugang zu Meisters Texten, die plötzlich nicht mehr so "hermetisch" wirken. Etwa das Langgedicht "Der Südwind sagte zu mir" von 1955. Bislang als surrealistische Groteske gedeutet, weist Gellhaus nach, dass es eine Abrechnung mit dem damaligen Literaturbetrieb ist - in dem weder Kritiker noch die "Gruppe 47" gut wegkommen. Meister wurde weder davor noch danach zu deren Tagungen eingeladen.

    "Er wollte da auch nicht dabei sein. Er wollte seine eigene Rolle spielen, seinen eigenen Ton finden, seine eigene Position. Er wollte nicht in der 'Szene' mitmischen."

    Ernst Meister wurde am 3. September 1911 in Hagen-Haspe geboren - dem Ort, an dem er fast sein ganzes Leben verbrachte. Sein erster, experimentierend-suchender Gedichtband erschien 1932; ein Kritiker sprach von "Kandinsky-Lyrik". Dann kamen die Nazis. Meister war Soldat, wurde mehrfach verwundet. Nach dem Krieg arbeitete er in der Fabrik seines Vaters. Er publizierte Lyrik, Erzählungen und Essays - zunächst in der kleinen bibliophilen "Eremitenpresse".

    "Er galt ja wie Paul Celan als sogenannter hermetischer Lyriker. Das in Verbindung mit einer vielleicht nicht immer glücklichen Verlagspolitik, vielleicht noch in Verbindung mit einem wenig spektakulären Leben, etwas regional, zurückgezogen in Hagen-Haspe, mag dazu beigetragen haben."

    Im Gegensatz zu erfolgreichen Kollegen war Meister kein "kritischer" Autor, er schrieb weder über den Holocaust noch über das Wirtschaftswunder. Er setzte sich vor allem mit seiner Innenwelt auseinander, in dezidiert modernem Gestus, immer knapperen Versen. Wie Pascal sah er das menschliche Leben als kurzes Aufscheinen zwischen dunklen, leeren Ewigkeiten. "Im Zeitspalt" heißt dann auch sein vorletzter Lyrikband von 1976. Dasselbe Thema umkreist sein letztes Buch, das kurz vor seinem Tod erschien: "Wandloser Raum". Meister scheint geradezu besessen gewesen zu sein von dem Gedanken: Der Mensch wird geboren, erhält Geist und Bewusstsein, die Erkenntnis ermöglichen. Freilich durch keinen Gott, keine Metaphysik, sondern den "Fortschritt" der Evolution, wie er es nennt. Man kommt zu Klarheit über sich und die Welt - und dann, Skandal des Todes, wird einem das mit einem Schlag entrissen. Meister spricht von "kosmischer Preisgegebenheit", und in einem Gedicht sagt er, hier in einer seltenen Funkaufnahme:

    "Geist zu sein
    oder Staub
    es ist dasselbe im All."

    Andrerseits kann der Mensch erst durch seine Endlichkeit die Welt und das Leben verstehen. Meister:

    "Das ist für mich die Basis für alles Begreifen: Ich muss die Dinge verstehen von ihrer Vernichtbarkeit her. Es kommt auf keinen Fall bei mir eine Art von Heilung zustande. Was also hier einzig und allein möglich ist, ist der Gewinn von Klarheit, sonst gar nichts."

    Gellhaus: "Der Tod hat ihn beschäftigt, aber als Kontrapunkt, als Hintergrund für die Intensität der Erfahrung von Gegenwart. Der Tod allein ist nie das, was die Spannung in seinen Gedichten ausmacht - sondern immer eine höchst intensiv erfahrene Sinnlichkeit gegenwärtiger Augenblicke. Das Gedicht lebt genau aus dieser Spannung: der Gewissheit des Todes als schwarzem Hintergrund und der fast grell beleuchteten Gegenwart im Vordergrund."

    Diese Sinnlichkeit und Gegenwärtigkeit übersieht, wer Meisters Texte als schiere "Gedankenlyrik" versteht. Kritik und Germanistik taten das bisher - wozu manche Aussagen des Autors beitrugen:

    Meister: "Ich muss bekennen, dass bei mir Dichten identisch ist mit Denken. Wie diese Einheit zustande kommt, und das heißt richtig zustande kommt, ist wiederum ein Rätsel - inwiefern das Denken seinen Körper im Gedicht erhält ..."

    Dabei sind die Gedichte voll von starken Bildern, konkreten Details, sinnlichen Wahrnehmungen. Gellhaus:

    "Ein bisschen könnte man das vergleichen, wenn man Literaturgeschichte hinzuziehen darf, mit Hölderlin, der sagt: auf der einen Seite Sterblichkeit, auf der anderen Seite diese Lebhaftigkeit des Augenblickes. Was ist das denn, dass wir das so empfinden, den Sonnenschein und den Vogelflug und die Wolken und den Eindruck einer landschaftlichen Idylle? Was ist das im Verhältnis zur Gewissheit des Todes?"

    Ernst Meisters Werk ist nicht leicht zugänglich. Man muss sich darauf einlassen, geduldig, mit offenen Augen und Ohren. Dann wird man manches finden, das ihn als gegenwärtigen, großen Autor zeigt. Wie das folgende Gedicht aus seinem letzten Lyrikband. Auch da geht es um den Tod, aber nicht mehr um den Skandal des Todes. Nach einer Montaignelektüre notierte er Verse, in denen das Sterben nur mehr sanftes Hinübergleiten ist, in einen anderen Zustand:

    Wie es einer
    gedacht hat,
    Sterben:

    Sich drehn
    von der Seite der
    Erfahrung auf die

    der Leere, un-
    geängstet, ein
    Wechseln der Wange,

    nichts weiter.

    (BS89)

    Besprochene Bücher

    Ernst Meister: Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. Wallstein Verlag, fünf Bände, 2440 Seiten, 198 Euro

    Ernst Meister: Gedichte. Ausgewählt von Peter Handke. Suhrkamp Verlag, 150 Seiten, 13,90 Euro