Neun Uhr morgens auf der Eselfarm von Gérard und Christine Kieffer in Villeplane am Rande des Mercantour-Nationalparks. Der Umgang mit dem Esel will gelernt sein, darum steht am Anfang jeder Tour erst einmal die Theorie - Gérard übernimmt die Einweisung für zwei Familien aus Deutschland und Dänemark, die eine Woche Eselwandern gebucht haben:
"Morgens müsst Ihr den Esel striegeln, das mag er sehr gerne. Ganz wichtig: immer Abstand halten hinter dem Esel, weil er austritt, wenn die Fliegen ihn piesacken. Dann haben wir hier ein Spray für Blessuren und eine Salbe für alte Wunden. Beides darf nicht dorthin, wo der Esel das Gepäck trägt, also nie den Rücken eincremen. Und zum Abschluss Handschuhe anziehen und mit einem Lappen den Hals, den Bauch, die Beine und vor allem die Weichteile mit diesem Wacholderextrakt einreiben, das hält die Fliegen fern."
Wer sich auf das Abenteuer Eselwandern einlässt, dem wird schnell klar: So ein Packtier nimmt dem Bergwanderer viele Kilos ab, macht aber auch viel Arbeit. Da ist die allmorgendliche Wohlfühlbehandlung für unseren Esel Gédeon noch die leichtere Aufgabe, denn vor allem das richtige Bepacken des Tiers ist eine Wissenschaft für sich.
Zwei Unterlagen auf den Rücken legen, dann erst das Holzgestell, das Gérard für jeden seiner 41 Esel in Handarbeit maßanfertigt. Das Gestell wird an drei Punkten mit Lederriemen fixiert: unterm Schwanz, vorne an der Brust und mit dem letzten Riemen hinter den Vorderbeinen, erklärt Gérard. Dieser Ledergurt wird dann an der anderen Seite des Gestells mit einem speziellen Knoten an einer Öse befestigt. Zu guter Letzt verzurren wir zwei große Seesäcke mit unserem Gepäck auf dem Gestell, dazwischen einen Beutel für die Verpflegung während der Wanderung. Gut 35 Kilo trägt unser Esel so auf dem Rücken, kein Problem für ein starkes Tier wie Gédeon, beruhigt uns Gérard.
Auch die siebentägige Tour gehen wir mit Christine auf der Karte noch einmal durch: Wo liegen die Unterkünfte? Wo sind Schneefelder, wo kann es schwierig werden für Gédeon, weil der Weg steil ist oder wir einen reißenden Bergbach überqueren müssen? Denn einen Führer gibt es nicht, eine Woche lang sind wir tagsüber auf uns selbst gestellt – der eigentliche Reiz der Unternehmung. Den Kopf randvoll mit Informationen geht es dann endlich los. Ziel der ersten Etappe ist das Bergdorf Sauze, rund sechs Kilometer von Villeplane entfernt.
Gédeon ist ein ruhiger Zeitgenosse, der jede Steigung, jeden unwegsamen Pfad anstandslos meistert. Ein wenig verfressen ist er, bleibt gerne mal stehen, um Blumen und Blätter zu futtern. Aber störrisch oder unberechenbar ist er nicht, sodass vor allem Franca und Leonard, zehn und zwölf Jahre alt, das Führen und Antreiben übenehmen und die Kleinste, Eva, sich in der Rückentrage durch die französichen Alpen schaukeln lassen kann. An einem Bergbach rasten wir und freuen uns über unseren Proviantbeutel, der morgens in jeder Unterkunft aufgefüllt wird mit südfranzösischen Leckereien: Thunfisch-Sandwichs, Salate, Kous-Kous, Obst und Käse. Zeit für ein erstes Fazit:
Kinder: "Also das Schwierigste ist eigentlich das Packen, wenn er gerade keinen Bock hat, weil er immer fressen will, und er ist immer ein bisschen faul, also er bleibt immer stehen und so. Auf jeden Fall läuft er besser als der Esel von unseren Mitläufern, die immer ein bisschen hinter uns sind aus Dänemark."
"Also ich find's total cool, es ist zwar anstrengend, aber der ist total lieb, so, bekommt er noch'n Apfel, ich hab' nichts mehr, der frisst auch immer Brauseherzen, das mag er ganz gern. Man muss aufpassen, wenn man hinter ihm geht, der hat mich auch schon getreten, und wenn's runter geht, dann wird er auch schneller, und einmal war's auch so, dass es ganz steil runter ging, da haben wir ihn alleine laufen lassen, einer stand unten, und hat ihn aufgefangen."
Eselandern in der südfranzösichen Bergwelt - das ist keine reine Erfindung für den Urlauber von heute mit Faible für grünen Tourismus. Schon im Jahr 1879 erkundete der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson die weiter westlich gelegenen Cévennen samt Esel und fasste seine Eindrücke in einem Reisebericht zusammen. Beruhigend, dass der Autor der berühmten "Schatzinsel" das Bepacken seiner Eselin Modestine ähnlich gewöhnungsbedürftig fand wie der Eselwanderer 130 Jahre später:
"Talaufwärts war es glühend heiß, völlig windstill, erbarmungslos brannte mir die Sonne auf die Schultern. Zudem bekamen alle fünf Minuten Gepäck samt Korb und Gummimantel arges Übergewicht nach der einen oder anderen Seite, sodass ich Modestine, gerade wenn ich sie auf ein erträgliches Marschtempo von etwa zwei Meilen in der Stunde gebracht hatte, anhalten musste, um mit Zerren und Schieben die Ladung wieder zu trimmen. Und schließlich, im Dorf Ussel, rutschte der Packsattel mitsamt der ganzen Last herunter und schleifte im Staub unter dem Bauch der Eselin. Ich musste mich verdammt abmühen, um das Zeug wieder zurecht zu rücken; und sobald es geschafft war, kippte es und fiel auf der anderen Seite hinunter."
Zum Glück bleibt uns Stevensons Missgeschick erspart, das Gepäck bleibt während der ganzen Woche dort, wo es hingehört: auf Gédeons Rücken. Aber auch wir prüfen ständig, ob die beiden Tragesäcke noch im Gleichgewicht sind und verlagern, wenn nötig, unsere Trinkflaschen von der einen auf die andere Seite. Nach einem viergängigen Menü und tiefem Schlaf in der Auberge von Bernadette in Sauze und einer weiteren Etappe nach St. Martin d' Entraunes am dritten Tag der Tour fühlen wir uns schon als richtige Esel-Experten, und auch Gédeon scheint ganz zufrieden zu sein mit den Stadtmenschen, die ihn da eine Woche lang durch den Mercantour begleiten.
Eine Gîte d'étape, wie die privaten Wanderunterkünfte in Frankreich heißen, ist das nächste Ziel im Bergdorf Sussis. Hier empfangen uns Alain und Nicole: Wie alle Unterkünfte sind sie informiert, wann genau die Eselwanderer bei ihnen eintrudeln - Esel, Übernachtung und Verpflegung sind ein Paket, das wir bei Gérard und Christine gebucht haben. Nicht nur mit dem Esel gehen wir auf Tuchfühlung, auch die französischen Gastgeber haben immer ein offenes Ohr für neugierige Fragen der Stadtmenschen. So auch Alain, ein kleiner, kräftiger Mann mit riesigem Schnauzbart und lachenden Augen, der sich seinen deftigen Akzent aus Marseille erhalten hat und gerne über den Mercantour und seine Menschen Auskunft gibt:
"Die Leute, die unsere Eltern sein könnten, die hier geboren wurden und heute 80 sind, die sind sehr hart, weil das Leben hier früher sehr hart war. Als sie jung waren, gab es keine Autos hier oben. Die ganze Infrastruktur, die Dienstleistungen gab es ja nicht, keine geräumten Straßen im Winter. Sodass man hier bei Schnee praktisch isoliert war. Alle Wege mussten zu Fuß gemacht werden. Dafür sind die Menschen hier sehr zuverlässig, jeder hilft jedem, ohne große Worte zu machen. Später dann, ab den 60er-Jahren, kamen Menschen wie Gérard und Christine hierher, die Generation der Blumenkinder, Aussteiger, die hier etwas Neues schaffen wollten, in der Natur leben. Die beiden haben sogar eine eigene Schule gegründet, weil sie ja auch Kinder haben, und haben sich deshalb schnell Anerkennung verschafft."
Wer mit den Menschen der Region ins Gespräch kommt, landet schnell bei einem Thema, das im Mercantour seit Jahren für heftige Diskussionen sorgt. Der Wolf, der Anfang der 90er-Jahre von den italienischen Abruzzen den Weg in die französischen Alpen gefunden hat, ist hier seitdem heimisch geworden. Anders als in Italien oder Spanien aber sorgen die rund 50 Wölfe immer wieder für Ärger vor allem mit Schäfern. Tatsächlich reißen die Raubtiere pro Jahr 2000 bis 3000 Schafe oder treiben ganze Herden in Bergschluchten und damit in den sicheren Tod. Doch die Wölfe stehen unter Naturschutz, dürfen nicht gejagt werden. Alain jedenfalls hat eine klare Meinung, wenn es um die Wölfe geht:
"Ich persönlich bin gegen die Wiederansiedlung des Wolfs, wobei ich offen bin für den Dialog. Wenn ich mir aber vorstelle, ich wäre Schäfer mit einer großen Herde. Und ein Teil meiner Tiere würde getötet durch einen Wolf, dann ist das für mich eine klare Sache. Und das passiert ja regelmäßig. Und dass der Wolf sich hier auf natürliche Weise wieder angesiedelt hat, ist ja nur die halbe Wahrheit, weil er ja vorher in Italien ja von Menschen wieder angesiedelt wurde."
Die auch in Deutschland sehr erfolgreiche französische Krimiautorin Fred Vargas hat den Streit zwischen Naturschützern und Wolfsgegnern zum Thema eines spannenden Romans gemacht. In "Bei Einbruch der Nacht" tötet ein vermeintlicher Riesenwolf im Gebiet rund um den Mercantour Schafe und drei Menschen. Der Pariser Polizeikommissar Adamsberg, der später in der Sache ermitteln wird, erfährt aus dem Fernsehen von den Vorfällen im Mercantour:
"Er hatte sehr wohl gehört, dass einige Wölfe aus den Abruzzen wieder die Alpen überquert hatten, schon vor ein paar Jahren. Aber es war das erste Mal, dass er Bilder davon sah. Während er schweigend weiter aß, sah Adamsberg auf dem Bildschirm ein zerfetztes Schaf, er sah blutverschmierten Boden, das verzerrte Gesicht eines Schafzüchters, das blutbefleckte Fell eines Schafes, das zerrissen auf dem Gras einer Weide lag. Die Kamera fuhr genüsslich die Wunden ab, und der Journalist spitzte seine Fragen zu, schürte das Feuer der dörflichen Wut. Man hätte glauben können, das gesamte Hinterland von Nizza ginge plötzlich vor dem Atem der wilden Meute in die Knie, während alte Schäfer stolze Gesichter reckten, um das Tier herauszufordern und ihm direkt in die Augen zu sehen."
Eine wilde Geschichte mit klassischem Showdown - und unschuldigen Wölfen übrigens. Den Vargas-Thriller und auch Stevensons Reisebericht haben wir während unserer Tour im Gepäck, einen Wolf aber bekommen wir nicht zu Gesicht. Auch Alain hat noch nie einen der scheuen Jäger gesichtet, doch Begegnungen zwischen Wolf und Wanderer kommen durchaus vor, erzählt er:
"Vor zwei Jahren ist das zwei Holländern im Val Pelens passiert. Die beiden waren morgens bei uns aufgebrochen. Da gibt es eine Stelle mit Ruinen, plötzlich stehen drei Wölfe auf dem Weg, 20, 30 Meter vor den Wanderern, schauen kurz - und sind wieder weg. Das zeigt: Der Wolf ist präsent hier."
Während unser Esel auf einer Weide neben der Gîte grast, verwöhnt Nicole am Abend die hungrigen Wanderer mit dem einfachen, aber vorzüglichen Essen der Region: Salat aus dem eigenen Garten, eine Quiche, Schwein mit Pilzen, Käse und Dessert. Dazu ein kräftiger Roter und als Digestiv selbst gebrannter Wacholderschnaps. Gegessen wird wie in den meisten Unterkünften gemeinsam an einem großen Tisch, das gibt Gelegenheit, sich über die Erlebnisse des Tages oder die Eigenheiten der Esel auszutauschen.
"Ein Adler, da ist er!"
"Wo?"
"Da oben, das war auch das Geräusch vom Adler, hörst Du?"
"Das war der Adler..."
Sprecher: Der Wolf macht sich rar, dafür sind Steinadler keine Seltenheit, und Murmeltiere gibt es in Hülle und Fülle. Überhaupt sind Anfang Juli mehr Tiere unterwegs im Mercantour als Wanderer. Zum einen beginnen die Ferien in Frankreich erst jetzt, das Gebiet ist aber auch weniger bekannt als etwa Südtirol, die Schweiz oder die österreichischen Alpen. Wir begegnen jedenfalls innerhalb einer ganzen Woche nur einem einzigen Wanderer, obwohl wir uns nur auf gut markierten Wegen bewegen.
Gegen Ende der Tour erreicht der Weg das Hochgebirge, wir lassen die Baumgrenze hinter uns und müssen einige Schneefelder überqueren, am Col der Cayolle erreichen wir den höchsten Punkt der Wanderung: 2323 Meter. Einen geplanten Abstecher zum Lac d'Allos, größter Alpensee über 2200 Meter, müssen wir streichen: zu viel Schnee, zu gefährlich für Gédeon. Kurz vor unserem Endziel, dem Refuge de la Contonnière, müssen wir dann zum letzten Mal eine Brücke überqueren, doch unser Gepäck macht uns einen Strich durch die Rechnung:
"Guck mal, das passt ja gar nicht, die Packsäcke sind ja viel zu dick, nee, der kommt da nicht drüber, zurück und ab durchs Wasser..."
Der Esel steckt regelrecht fest, aber kein Problem für Gédeon, einfach ein Stück zurück, runter zum Wasser und ab durch den Wildbach. Am Refuge erwarten uns schon Gérard und Christine, mit dem Auto geht es zurück nach Villeplane:
"Das ist immer noch eine sehr wilde Landschaft mit wenigen Touristen, das Eselwandern buchen vor allem Urlauber aus Nordeuropa: Deutschland, Holland, Skandinavien. Im Tal unten jammern die Leute, dass zu wenig Touristen hierher kommen, aber genau das macht ja den Reiz aus. Wir sind der Beweis, dass grüner und verantwortungsvoller Tourismus funktioniert."
"Morgens müsst Ihr den Esel striegeln, das mag er sehr gerne. Ganz wichtig: immer Abstand halten hinter dem Esel, weil er austritt, wenn die Fliegen ihn piesacken. Dann haben wir hier ein Spray für Blessuren und eine Salbe für alte Wunden. Beides darf nicht dorthin, wo der Esel das Gepäck trägt, also nie den Rücken eincremen. Und zum Abschluss Handschuhe anziehen und mit einem Lappen den Hals, den Bauch, die Beine und vor allem die Weichteile mit diesem Wacholderextrakt einreiben, das hält die Fliegen fern."
Wer sich auf das Abenteuer Eselwandern einlässt, dem wird schnell klar: So ein Packtier nimmt dem Bergwanderer viele Kilos ab, macht aber auch viel Arbeit. Da ist die allmorgendliche Wohlfühlbehandlung für unseren Esel Gédeon noch die leichtere Aufgabe, denn vor allem das richtige Bepacken des Tiers ist eine Wissenschaft für sich.
Zwei Unterlagen auf den Rücken legen, dann erst das Holzgestell, das Gérard für jeden seiner 41 Esel in Handarbeit maßanfertigt. Das Gestell wird an drei Punkten mit Lederriemen fixiert: unterm Schwanz, vorne an der Brust und mit dem letzten Riemen hinter den Vorderbeinen, erklärt Gérard. Dieser Ledergurt wird dann an der anderen Seite des Gestells mit einem speziellen Knoten an einer Öse befestigt. Zu guter Letzt verzurren wir zwei große Seesäcke mit unserem Gepäck auf dem Gestell, dazwischen einen Beutel für die Verpflegung während der Wanderung. Gut 35 Kilo trägt unser Esel so auf dem Rücken, kein Problem für ein starkes Tier wie Gédeon, beruhigt uns Gérard.
Auch die siebentägige Tour gehen wir mit Christine auf der Karte noch einmal durch: Wo liegen die Unterkünfte? Wo sind Schneefelder, wo kann es schwierig werden für Gédeon, weil der Weg steil ist oder wir einen reißenden Bergbach überqueren müssen? Denn einen Führer gibt es nicht, eine Woche lang sind wir tagsüber auf uns selbst gestellt – der eigentliche Reiz der Unternehmung. Den Kopf randvoll mit Informationen geht es dann endlich los. Ziel der ersten Etappe ist das Bergdorf Sauze, rund sechs Kilometer von Villeplane entfernt.
Gédeon ist ein ruhiger Zeitgenosse, der jede Steigung, jeden unwegsamen Pfad anstandslos meistert. Ein wenig verfressen ist er, bleibt gerne mal stehen, um Blumen und Blätter zu futtern. Aber störrisch oder unberechenbar ist er nicht, sodass vor allem Franca und Leonard, zehn und zwölf Jahre alt, das Führen und Antreiben übenehmen und die Kleinste, Eva, sich in der Rückentrage durch die französichen Alpen schaukeln lassen kann. An einem Bergbach rasten wir und freuen uns über unseren Proviantbeutel, der morgens in jeder Unterkunft aufgefüllt wird mit südfranzösischen Leckereien: Thunfisch-Sandwichs, Salate, Kous-Kous, Obst und Käse. Zeit für ein erstes Fazit:
Kinder: "Also das Schwierigste ist eigentlich das Packen, wenn er gerade keinen Bock hat, weil er immer fressen will, und er ist immer ein bisschen faul, also er bleibt immer stehen und so. Auf jeden Fall läuft er besser als der Esel von unseren Mitläufern, die immer ein bisschen hinter uns sind aus Dänemark."
"Also ich find's total cool, es ist zwar anstrengend, aber der ist total lieb, so, bekommt er noch'n Apfel, ich hab' nichts mehr, der frisst auch immer Brauseherzen, das mag er ganz gern. Man muss aufpassen, wenn man hinter ihm geht, der hat mich auch schon getreten, und wenn's runter geht, dann wird er auch schneller, und einmal war's auch so, dass es ganz steil runter ging, da haben wir ihn alleine laufen lassen, einer stand unten, und hat ihn aufgefangen."
Eselandern in der südfranzösichen Bergwelt - das ist keine reine Erfindung für den Urlauber von heute mit Faible für grünen Tourismus. Schon im Jahr 1879 erkundete der schottische Schriftsteller Robert Louis Stevenson die weiter westlich gelegenen Cévennen samt Esel und fasste seine Eindrücke in einem Reisebericht zusammen. Beruhigend, dass der Autor der berühmten "Schatzinsel" das Bepacken seiner Eselin Modestine ähnlich gewöhnungsbedürftig fand wie der Eselwanderer 130 Jahre später:
"Talaufwärts war es glühend heiß, völlig windstill, erbarmungslos brannte mir die Sonne auf die Schultern. Zudem bekamen alle fünf Minuten Gepäck samt Korb und Gummimantel arges Übergewicht nach der einen oder anderen Seite, sodass ich Modestine, gerade wenn ich sie auf ein erträgliches Marschtempo von etwa zwei Meilen in der Stunde gebracht hatte, anhalten musste, um mit Zerren und Schieben die Ladung wieder zu trimmen. Und schließlich, im Dorf Ussel, rutschte der Packsattel mitsamt der ganzen Last herunter und schleifte im Staub unter dem Bauch der Eselin. Ich musste mich verdammt abmühen, um das Zeug wieder zurecht zu rücken; und sobald es geschafft war, kippte es und fiel auf der anderen Seite hinunter."
Zum Glück bleibt uns Stevensons Missgeschick erspart, das Gepäck bleibt während der ganzen Woche dort, wo es hingehört: auf Gédeons Rücken. Aber auch wir prüfen ständig, ob die beiden Tragesäcke noch im Gleichgewicht sind und verlagern, wenn nötig, unsere Trinkflaschen von der einen auf die andere Seite. Nach einem viergängigen Menü und tiefem Schlaf in der Auberge von Bernadette in Sauze und einer weiteren Etappe nach St. Martin d' Entraunes am dritten Tag der Tour fühlen wir uns schon als richtige Esel-Experten, und auch Gédeon scheint ganz zufrieden zu sein mit den Stadtmenschen, die ihn da eine Woche lang durch den Mercantour begleiten.
Eine Gîte d'étape, wie die privaten Wanderunterkünfte in Frankreich heißen, ist das nächste Ziel im Bergdorf Sussis. Hier empfangen uns Alain und Nicole: Wie alle Unterkünfte sind sie informiert, wann genau die Eselwanderer bei ihnen eintrudeln - Esel, Übernachtung und Verpflegung sind ein Paket, das wir bei Gérard und Christine gebucht haben. Nicht nur mit dem Esel gehen wir auf Tuchfühlung, auch die französischen Gastgeber haben immer ein offenes Ohr für neugierige Fragen der Stadtmenschen. So auch Alain, ein kleiner, kräftiger Mann mit riesigem Schnauzbart und lachenden Augen, der sich seinen deftigen Akzent aus Marseille erhalten hat und gerne über den Mercantour und seine Menschen Auskunft gibt:
"Die Leute, die unsere Eltern sein könnten, die hier geboren wurden und heute 80 sind, die sind sehr hart, weil das Leben hier früher sehr hart war. Als sie jung waren, gab es keine Autos hier oben. Die ganze Infrastruktur, die Dienstleistungen gab es ja nicht, keine geräumten Straßen im Winter. Sodass man hier bei Schnee praktisch isoliert war. Alle Wege mussten zu Fuß gemacht werden. Dafür sind die Menschen hier sehr zuverlässig, jeder hilft jedem, ohne große Worte zu machen. Später dann, ab den 60er-Jahren, kamen Menschen wie Gérard und Christine hierher, die Generation der Blumenkinder, Aussteiger, die hier etwas Neues schaffen wollten, in der Natur leben. Die beiden haben sogar eine eigene Schule gegründet, weil sie ja auch Kinder haben, und haben sich deshalb schnell Anerkennung verschafft."
Wer mit den Menschen der Region ins Gespräch kommt, landet schnell bei einem Thema, das im Mercantour seit Jahren für heftige Diskussionen sorgt. Der Wolf, der Anfang der 90er-Jahre von den italienischen Abruzzen den Weg in die französischen Alpen gefunden hat, ist hier seitdem heimisch geworden. Anders als in Italien oder Spanien aber sorgen die rund 50 Wölfe immer wieder für Ärger vor allem mit Schäfern. Tatsächlich reißen die Raubtiere pro Jahr 2000 bis 3000 Schafe oder treiben ganze Herden in Bergschluchten und damit in den sicheren Tod. Doch die Wölfe stehen unter Naturschutz, dürfen nicht gejagt werden. Alain jedenfalls hat eine klare Meinung, wenn es um die Wölfe geht:
"Ich persönlich bin gegen die Wiederansiedlung des Wolfs, wobei ich offen bin für den Dialog. Wenn ich mir aber vorstelle, ich wäre Schäfer mit einer großen Herde. Und ein Teil meiner Tiere würde getötet durch einen Wolf, dann ist das für mich eine klare Sache. Und das passiert ja regelmäßig. Und dass der Wolf sich hier auf natürliche Weise wieder angesiedelt hat, ist ja nur die halbe Wahrheit, weil er ja vorher in Italien ja von Menschen wieder angesiedelt wurde."
Die auch in Deutschland sehr erfolgreiche französische Krimiautorin Fred Vargas hat den Streit zwischen Naturschützern und Wolfsgegnern zum Thema eines spannenden Romans gemacht. In "Bei Einbruch der Nacht" tötet ein vermeintlicher Riesenwolf im Gebiet rund um den Mercantour Schafe und drei Menschen. Der Pariser Polizeikommissar Adamsberg, der später in der Sache ermitteln wird, erfährt aus dem Fernsehen von den Vorfällen im Mercantour:
"Er hatte sehr wohl gehört, dass einige Wölfe aus den Abruzzen wieder die Alpen überquert hatten, schon vor ein paar Jahren. Aber es war das erste Mal, dass er Bilder davon sah. Während er schweigend weiter aß, sah Adamsberg auf dem Bildschirm ein zerfetztes Schaf, er sah blutverschmierten Boden, das verzerrte Gesicht eines Schafzüchters, das blutbefleckte Fell eines Schafes, das zerrissen auf dem Gras einer Weide lag. Die Kamera fuhr genüsslich die Wunden ab, und der Journalist spitzte seine Fragen zu, schürte das Feuer der dörflichen Wut. Man hätte glauben können, das gesamte Hinterland von Nizza ginge plötzlich vor dem Atem der wilden Meute in die Knie, während alte Schäfer stolze Gesichter reckten, um das Tier herauszufordern und ihm direkt in die Augen zu sehen."
Eine wilde Geschichte mit klassischem Showdown - und unschuldigen Wölfen übrigens. Den Vargas-Thriller und auch Stevensons Reisebericht haben wir während unserer Tour im Gepäck, einen Wolf aber bekommen wir nicht zu Gesicht. Auch Alain hat noch nie einen der scheuen Jäger gesichtet, doch Begegnungen zwischen Wolf und Wanderer kommen durchaus vor, erzählt er:
"Vor zwei Jahren ist das zwei Holländern im Val Pelens passiert. Die beiden waren morgens bei uns aufgebrochen. Da gibt es eine Stelle mit Ruinen, plötzlich stehen drei Wölfe auf dem Weg, 20, 30 Meter vor den Wanderern, schauen kurz - und sind wieder weg. Das zeigt: Der Wolf ist präsent hier."
Während unser Esel auf einer Weide neben der Gîte grast, verwöhnt Nicole am Abend die hungrigen Wanderer mit dem einfachen, aber vorzüglichen Essen der Region: Salat aus dem eigenen Garten, eine Quiche, Schwein mit Pilzen, Käse und Dessert. Dazu ein kräftiger Roter und als Digestiv selbst gebrannter Wacholderschnaps. Gegessen wird wie in den meisten Unterkünften gemeinsam an einem großen Tisch, das gibt Gelegenheit, sich über die Erlebnisse des Tages oder die Eigenheiten der Esel auszutauschen.
"Ein Adler, da ist er!"
"Wo?"
"Da oben, das war auch das Geräusch vom Adler, hörst Du?"
"Das war der Adler..."
Sprecher: Der Wolf macht sich rar, dafür sind Steinadler keine Seltenheit, und Murmeltiere gibt es in Hülle und Fülle. Überhaupt sind Anfang Juli mehr Tiere unterwegs im Mercantour als Wanderer. Zum einen beginnen die Ferien in Frankreich erst jetzt, das Gebiet ist aber auch weniger bekannt als etwa Südtirol, die Schweiz oder die österreichischen Alpen. Wir begegnen jedenfalls innerhalb einer ganzen Woche nur einem einzigen Wanderer, obwohl wir uns nur auf gut markierten Wegen bewegen.
Gegen Ende der Tour erreicht der Weg das Hochgebirge, wir lassen die Baumgrenze hinter uns und müssen einige Schneefelder überqueren, am Col der Cayolle erreichen wir den höchsten Punkt der Wanderung: 2323 Meter. Einen geplanten Abstecher zum Lac d'Allos, größter Alpensee über 2200 Meter, müssen wir streichen: zu viel Schnee, zu gefährlich für Gédeon. Kurz vor unserem Endziel, dem Refuge de la Contonnière, müssen wir dann zum letzten Mal eine Brücke überqueren, doch unser Gepäck macht uns einen Strich durch die Rechnung:
"Guck mal, das passt ja gar nicht, die Packsäcke sind ja viel zu dick, nee, der kommt da nicht drüber, zurück und ab durchs Wasser..."
Der Esel steckt regelrecht fest, aber kein Problem für Gédeon, einfach ein Stück zurück, runter zum Wasser und ab durch den Wildbach. Am Refuge erwarten uns schon Gérard und Christine, mit dem Auto geht es zurück nach Villeplane:
"Das ist immer noch eine sehr wilde Landschaft mit wenigen Touristen, das Eselwandern buchen vor allem Urlauber aus Nordeuropa: Deutschland, Holland, Skandinavien. Im Tal unten jammern die Leute, dass zu wenig Touristen hierher kommen, aber genau das macht ja den Reiz aus. Wir sind der Beweis, dass grüner und verantwortungsvoller Tourismus funktioniert."