Was genau ist eigentlich die Europäische Union? Diese Frage beantwortete EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso auf einer Pressekonferenz im Juli 2007 mit einem unerwarteten Vergleich:
"Ich vergleiche die Europäische Union gerne mit Imperien. Weil sie die Größe von Imperien erreicht hat. Aber es gibt einen großen Unterschied: Imperien wurden normalerweise durch Gewalt erschaffen. Sie hatten ein Zentrum, das allen anderen seinen Willen diktiert hat. Die Europäische Union ist dagegen etwas, das manche das erste nicht-imperiale Imperium nennen."
EU-Kommissionspräsident Barroso erzählt hier nicht nur von seiner Sicht auf die Europäische Union. Der studierte Politikwissenschaftler definiert auch gleich, was ein Imperium ist. Nämlich eine spezifische Art, wie Macht organisiert wird. Imperien wie das Römische Reich regierten von einem Zentrum in die Peripherie - von Rom bis an den Limes. Sie kontrollierten große geografische Räume, die weder an staatlichen oder ethnischen noch an sprachlichen Grenzen endeten. Und sie wollten ihre Grenzen beständig verschieben - meist mit kriegerischen Mitteln.
Imperium auf Einladung
Dass die Europäische Union Merkmale eines Imperiums hat, denkt auch Michael Gehler. Der Hildesheimer Geschichtsprofessor spricht aber nicht wie Barroso von einem "nicht-imperialen Imperium" sondern vielmehr von einer aktualisierten Form des Imperiums:
"Die Europäische Union verfügt nicht über die militärischen Mittel Chinas, Russlands und der USA. Aber sie ist ein postnationales, vielleicht sogar postdemokratisches, weil es ein Elitenprojekt ist, aber eindeutig postmodernes Wirtschafts- und ein Weltwährungsimperium."
Dass die EU ihre Grenzen friedlich erweitert, ist auch für Gehler ein wesentliches Kriterium, dass die EU von anderen Imperien unterscheidet und sie so zu einem postmodernen Imperium macht. Sie sei ein "empire by invitation", sagt Gehler. Also ein Imperium, das andere einlädt mitzumachen.
Wenn die Europäische Union tatsächlich ein Imperium ist, dann ist sie das jüngste, das die Weltgeschichte zu bieten hat. Seit dem Altertum spielten Imperien eine entscheidende Rolle für die Weltordnung: Bekannte Beispiele dafür sind das Römische Reich, Byzanz und schließlich die Osmanen. Im 20. Jahrhundert schien das Imperium als Machtstruktur dann aber ausgedient zu haben. Imperiale Herrschaft funktionierte schlicht nicht mehr:
"Zunächst mal muss man sich anschauen, dass wir schon einen Zusammenbruch von vier Großreichen erleben, 1918 und in den folgenden Jahren. Also wir haben das Ende des Wilhelminischen Kaiserreiches, wir haben das Ende der Habsburger Monarchie, im Grunde auch das Ende des Zaristischen Russlands und auch, etwas zeitverzögert bis zur Gründung der Republik der Türkei 1922, ist auch das Osmanische Reich am Ende. Das waren klassische, lang anhaltende Imperien, wenn man mal vom Wilhelminischen Kaiserreich absieht. Wir haben dann mit den kurzlebigen Kriegsimperien, wie dem faschistischen Italien und dem NS-Reich Hitlers, das dann nach wenigen Jahren zusammen bricht, eine zweite Erfahrung, wie Imperien zugrunde gehen, zusammenbrechen."
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion
Als sich 1991 auch noch die Sowjetunion auflöste, glaubten Historiker und Politologen, dass das Zeitalter der Imperien nun endgültig vorbei sei. Es stand die Frage im Raum, was danach kommen würde. Welche Ordnungsmacht würde die Welt zusammenhalten? Die einen glaubten, es würde nur noch gleichberechtigte Nationalstaaten geben, die unter dem Dach der Vereinten Nationen zusammen rücken. Für andere waren es die freien Märkte, die von nun an die Geschicke der Welt lenken würden. Am Ende kam es anders und die USA kristallisierten sich als neue Ordnungsmacht heraus. Es stellte sich nun die Frage, ob die USA ein neues Imperium sind. Und so hauchte das Ende des Kalten Krieges der Imperien-Forschung neues Leben ein. In Deutschland beschäftigten sich zuerst die Politikwissenschaftler wieder mit dem Begriff, Historiker waren zurückhaltender, meint Michael Gehler:
"In der deutschen Historiografie war das Thema lange Zeit - ich würde fast sagen: verfemt. Das gescheiterte Wilhelminische Imperium, das gescheiterte Hitlersche kurzzeitige Kriegsimperium. Es war nicht mehr opportun, sich mit Großreichen zu beschäftigen. Die deutsche Historiografie hat sich teilweise darum geschlichen, wie die Katze um den heißen Brei."
Michael Gehler will, dass die Katze den Brei nun frisst und der Begriff "Imperium" als historische Kategorie Bedeutung erlang. Er verspricht eine "histoire totale", dass heißt eine umfassende Geschichtsschreibung, die durch die historische Kategorie "Imperium" möglich werden soll. In einem 1700 Seiten starken Mammutwerk sammelte er zusammen mit dem Innsbrucker Althistoriker Professor Robert Rollinger mehrere Dutzend Aufsätze über ebenso viele Imperien. Das Buch beginnt mit altorientalischen Imperien des dritten und zweiten Jahrtausends vor Christus und endet in der Gegenwart, eben bei der Europäischen Union.
Wenn so viele völlig unterschiedliche Phänomene und politische Konstellationen in ein und dieselbe Form gegossen werden können, stellt sich automatisch die Frage, was diese Kategorie taugt. Robert Rollinger:
"Also das ist natürlich ein Grundproblem, das ich auch sogar als Ausgangspunkt unserer Arbeiten hervorheben möchte, nämlich die Feststellung, dass der Imperiumsbegriff, so wie wir ihm begegnet sind, eigentlich eine starke Tendenz dazu hatte, als Analyseinstrumentarium unbrauchbar zu sein oder sich dem Unbrauchbaren zu nähern - sagen wir es einmal so. Weil er alles und nichts bezeichnen kann."
Rollinger und Gehler haben deswegen einen Kriterienkatalog angelegt, unter dessen Maßgabe Imperien analysiert und vergleichbar werden sollen. Sie wollen sich den Imperien auf zweifache Weise nähern. So fragt der Kriterienkatalog einerseits nach der Realgeschichte: Wie sind Imperien entstanden? Wie endeten sie? Auf der anderen Seite interessierte die Forscher die Rezeptionsgeschichte. Sie fragten also danach, wie das Imperium von Zeitgenossen aber rückblickend wahrgenommen wurde.
"Haben sie nach ihrem Untergang überhaupt eine Rolle gespielt oder sind sie tatsächlich untergegangen? Und bei jenen Strukturen, die wir geneigt sind, als Imperien zu bezeichnen, können wir eben sehen, dass der physische Untergang das eine ist. Aber sie leben weiter, sie leben weiter im Gedächtnis der nachfolgenden Staaten und sie leben weiter als Referenzpunkt der Legitimierung von Herrschaft. Und das kann über Jahrhunderte, ja über Jahrtausende gehen."
Das Reich des Bösen
Hier wird klar, dass "Imperium" auch ein politischer Kampfbegriff ist. So wie Imperien Staaten legitimieren, können sie sie auch delegitimieren. Denn sie erwecken Gedanken an Okkupation und gewaltvolle Fremdherrschaft. Im Kalten Krieg wurde die Sowjetunion von den USA als Imperium bezeichnet. Zur Selbstbeschreibung hätte der Begriff den Vereinigten Staaten niemals dienen können. Und so musste auch EU-Kommissionspräsident Barroso für seine Bemerkung über das "Imperium Europa" Kritik einstecken: In Großbritannien glaubten die Tories und die konservative Presse, die EU zeige nun ihr wahres Gesicht. So überschrieb unter anderem der Daily Express einen Artikel mit "Ein EU-Imperium wird über Britannien regieren". Was es natürlich zu verhindern galt.