Archiv


"In allen Fragen verdrängen die Straßburger Maßstäbe die nationalen"

In der kommenden Woche nimmt Renate Jaeger Abschied vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der zuletzt in Deutschland durch die Entscheidung zur Sicherheitsverwahrung in den Fokus der Öffentlichkeit rückte.

Renate Jaeger im Gespräch mit Gudula Geuther |
    Im Interview der Woche blickt die deutsche Richterin auf ihre Zeit in Straßburg zurück, ordnet das schwierige Verhältnis der Nationalstaaten zum Gericht ein, und antwortet unter anderem auf die Frage, ob es dort um Rechtsvereinheitlichung, oder auch um eine europäische Einigung durch das Recht geht.


    Geuther: Frau Jaeger, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte war in Deutschland selten so bekannt, wie in den letzten Monaten Ihrer Amtszeit – mit den Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung. Und für viele in Deutschland ist der Gerichtshof jetzt der, der dafür sorgt, dass möglicherweise gefährliche Straftäter freikommen. Schadet so ein Bild der Akzeptanz des Gerichtshofs, dem Ansehen des Gerichtshofs?

    Jaeger: Ich persönlich habe nicht den Eindruck, denn ich habe mit vielen Menschen gesprochen, die sehr gut verstanden haben, dass wir in dieser Form entschieden haben.

    Geuther: In der kommenden Woche wird der Bundesrat vermutlich ein Gesetz beschließen, das mindestens zum Teil verhindern soll, dass diejenigen aus der Sicherungsverwahrung freikommen, die eigentlich nach der Entscheidung freikommen müssten. Verweigert Deutschland damit die Gefolgschaft, oder ist das – andersherum – gerade ein Zeichen, dass man sich bemüht, sauber mit den Vorgaben aus Straßburg umzugehen?

    Jaeger: Ich persönlich habe den Eindruck, dass gerade in Bezug auf die "Entscheidung M" Deutschland versucht, mit der Entscheidung gut umzugehen. Von Anfang an war jedenfalls aus Berlin die Reaktion nicht anders zu verstehen. Dass es in Deutschland berechtigte Sicherheitsbedenken gibt, kann man nachvollziehen, aber die Gründe für diese Situation liegen ja darin, dass die Sicherungsverwahrung einmal auf zehn Jahre reduziert worden ist und dann rückwirkend wieder verlängert worden ist, was mit der Konvention nicht in Einklang steht, sodass die Verantwortung immer bei der Politik lag. Und dass die Politik jetzt nach Lösungen sucht, das kann man verstehen.

    Geuther: Nun hatten allerdings selbst Befürworter dieses Gesetzes, das eben dafür sorgen soll, dass Einzelne mindestens drin bleiben können, in den Anhörungen gesagt, dieses Gesetz sein menschenrechtlich "auf Kante genäht", der Gesetzgeber bewege sich da auf einem schmalen Grad. Darf er das trotzdem versuchen, oder würden Sie sich mehr Achtung der Entscheidungen wünschen?

    Jaeger: Ob das eine korrekte Umsetzung der Entscheidung ist, wird das Ministerkomitee zu entscheiden haben, das ja für die Vollstreckung unserer Urteile zuständig ist. Man wird sehen müssen, wie das neue Gesetz tatsächlich verkündet wird und wie es dann in der Praxis umgesetzt wird. Das hängt ja von sehr vielen Faktoren ab. Ich finde es schwierig, im Vorhinein solche Äußerungen zu tun. Das ist Sache von Sachverständigen, die sich vorher äußern, aber sehr selten die Sache einer Richterin, die daran gewöhnt ist, nachher auf die Dinge zu gucken.

    Geuther: Jetzt gibt's eine Sache, die jetzt ja schon entschieden werden muss, nämlich: Wie gehen Gerichte mit den Entscheidungen um, lassen sie Leute frei oder nicht. Und die Gerichte in Deutschland haben sehr unterschiedlich reagiert. Manche haben gesagt, sie sind daran gebunden und haben die betreffenden Männer frei gelassen. Andere haben gesagt, Deutschland müsste reagieren – aber nicht unbedingt die Gerichte, sondern der Gesetzgeber. Und der hat das jetzt aber gerade nicht vor, von "Freilassen" steht im neuen Gesetz nichts. Ist das Verweigerung?

    Jaeger: Ich persönlich teile die Auffassung der deutschen Gerichte nicht, dass das Sache des Gesetzgebers ist. Ich halte es für eine Sache der Gerichte.

    Geuther: Nicht entweder – oder?

    Jaeger: Ob der Gesetzgeber da hätte etwas machen können oder hätte machen müssen – darüber habe ich mir eigentlich keine Gedanken gemacht.

    Geuther: Jetzt hat es nach diesen Entscheidungen zur Sicherungsverwahrung viel Kritik gegeben am Gerichtshof, auch teilweise ziemlich grundlegende – zum Beispiel die, dass die Straßburger Richter einfach zu weit weg seien von Deutschland, um die Verhältnisse bei so schwierigen Fragen beurteilen zu können, zum Beispiel indem sie sagen, die Sicherungsverwahrung wird im Prinzip genau so vollzogen wie die Strafhaft, obwohl sich diese Erkenntnisse nur auf eine Vollzugsanstalt – die in Tegel – gegründet hätten und es anderswo ganz anders aussehe.

    Jaeger: Dieses Argument, dass sich die Strafhaft von der Sicherungsverwahrung unterscheide, war von der Bundesregierung vorgebracht worden, um zu begründen, es handele sich nicht um eine Strafe und es handele sich nicht um eine Freiheitsentziehung. Für den Gerichtshof ist ja die Frage "war es eine Freiheitsentziehung" entscheidend, und ich glaube, dass nichts vorgetragen worden ist, das hätte entkräften können, dass sich das um eine Freiheitsentziehung handelt. Der Gerichtshof selbst hat die Beanstandungen nicht darauf gegründet, dass Sicherungsverwahrung und Strafe so ähnlich sind, sondern auf das Rückwirkungsverbot und die Tatsache, dass eine Freiheitsentziehung in einem solchen Zusammenhang nur zulässig ist nach der Konvention, wenn sie in Zusammenhang mit einer Strafe ausgesprochen wird. Und das ist etwas ganz anderes. Die rechtlichen Gründe haben damit nichts zu tun. Ich finde persönlich sehr gut, dass die Diskussion jetzt angefangen hat, dass man sich darüber unterhält, ob nicht eigentlich Sicherungsverwahrung anders vollstreckt werden muss als die Strafhaft. Aber das war kein tragendes Argument beim Gerichtshof, der sich lediglich mit einem Argument der Bundesregierung insoweit auseinandergesetzt hat.

    Geuther: Diese Kritik, die Straßburger Richter seien zu weit weg vom deutschen Recht, ist ja auch schon in anderen Zusammenhängen gekommen – so ähnlich, wie früher von den Laienrichtern in Karlsruhe die Rede war. Hören Sie das öfter oder ist da auch was dran?

    Jaeger: Natürlich ist ein internationales Gericht von sämtlichen nationalen Rechten weit entfernt. Deshalb hat dieses Gericht auch die autonome Auslegung entwickelt. Das Gericht hat noch gegenüber keinem Staat geduldet, dass die nationale Rechtsordnung vorschreibt, wie bestimmte Dinge auszulegen sind. Das heißt, diese Autonomie weckt natürlich Widerstand auf der nationalen Ebene, aber sie ist unabdingbar damit verbunden, dass hier europäisch judiziert wird und nicht deutsch.

    Geuther: Beim Bundesverfassungsgericht waren Sie, Frau Jaeger, eine von acht Richtern im Senat, am Menschenrechtsgerichtshof urteilen Sie mit bis zu 16 weiteren Richtern, aber als die einzige Richterin, die das deutsche Recht wirklich versteht. Haben Sie oder hat überhaupt ein einzelner Richter hier noch mehr Einfluss als in Karlsruhe?

    Jaeger: Nein, der Einfluss ist genau so reduziert, wie Sie das gerade beschrieben haben, nämlich durch die Anzahl der Mitentscheidenden. Der nationale Richter ist dazu da, seinen Kollegen, so gut er es vermag, das innerstaatliche Recht zu erläutern. Das ist wichtig, ich bin auch darauf angewiesen, wenn es um das russische Recht geht, das türkische oder das zypriotische. Wie sollte es anders sein? Aber der nationale Richter ist nicht dazu da, die nationale Rechtsordnung zu verteidigen, sondern genau so wie die Kollegen zu überprüfen, ob die nationale Rechtsordnung mit der Konvention in Einklang steht.

    Geuther: Besteht da nicht doch die Gefahr, dass der nationale Richter das, was ihn immer schon gestört hat, eher kritisieren kann oder möglicherweise auch verändern kann, als das in einem rein deutschen System der Fall wäre?

    Jaeger: Ich kann nur sagen, ich bin nicht in der Versuchung gewesen. In allen Fällen, wo diese Versuchung mich hätte ankommen können, habe ich mich für befangen erklärt.

    Geuther: Es gab ja doch einige Entscheidungen in den vergangenen Jahren, in denen der Gerichtshof zu anderen Ergebnissen gekommen ist als das Bundesverfassungsgericht oder generell als deutsche Gerichte, zum Beispiel die Frage, wie hoch das Recht der monegassischen Prinzessin Caroline zu bewerten ist, Privatfotos in deutschen Gazetten zu verhindern – in Abwägung mit der Pressefreiheit. Das ist ja auch eine Frage, die sich jetzt gerade wieder stellt. Und dieser Fall zeigt: Es geht ja oft nicht um mehr oder weniger Grundrechtsschutz.

    Jaeger: Richtig, sondern es geht um die Abwägung zwischen einander gegenüberstehenden Menschenrechten oder Grundrechten. Und die Frage, wo die Grenze der national hinnehmbaren Interpretation ist, wird jetzt Gegenstand der Entscheidung in der Großen Kammer sein.

    Geuther: Unabhängig von Caroline, ganz allgemein sagt der frühere Präsident Ihres alten Gerichts, des Bundesverfassungsgerichts, Hans Jürgen Papier, der Menschenrechtsgerichtshof sollte sich in solchen Fragen der Abwägung doch zurückhalten. Und das hieße im Ergebnis wahrscheinlich öfter auch, gegenüber Staaten wie Deutschland zurückhalten.

    Jaeger: Damit sagt er genau das, was der BGH gegenüber dem Bundesverfassungsgericht in exakt denselben Fragen immer schon vorgebracht hat.

    Geuther: Und das bedeutet?

    Jaeger: Dass diejenigen, die die Einmischung erleiden müssen, gerne zu solchen Argumenten greifen.

    Geuther: Der Verfassungsrichter Udo di Fabio ist noch etwas härter. Zumindest kann man interpretieren, eine solche Rechtsprechung schade insgesamt. Er sagt, ohne funktionsfähige Rechtsstaaten gibt es keinen Menschenrechtsschutz, und er sagt weiter: Deshalb sollte die Achtung der kulturellen, politischen und verfassungsrechtlichen Identität der jeweiligen Staaten ein besonderer Merkposten sein für richterliche Zurückhaltung. Ist das richtig?

    Jaeger: Dem ersten Satz stimme ich uneingeschränkt zu. Der Rechtsstaat ist das Fundament für den Menschenrechtsschutz, und der Menschenrechtsschutz fängt zu Hause an. Und wo es keinen Rechtsstaat gibt, kommen die Entscheidungen des Straßburger Gerichts eigentlich zu früh, weil es keine Vorprüfung auf nationaler Ebene gegeben hat. Aus diesem Grund sehen die Kontrollen von Rechtsstaaten, die ein ausgefeiltes Rechtssystem mit spezialisiertem Menschenrechtsschutz haben, ohnedies anders aus. Das ist vielleicht Herrn di Fabio nicht so bewusst, weil er im Wesentlichen die Entscheidungen gegen Deutschland, die paar Entscheidungen gegen Deutschland liest, und nicht die viel zahlreicheren gegen Frankreich, gegen Griechenland – um gar nicht erst von der Türkei, von der Ukraine, von Bulgarien oder Russland zu reden.

    Geuther: Sie sagen damit aber schon, eine gewisse richterliche Zurückhaltung ist wünschenswert. Meinen Sie, die wird am Gerichtshof immer durchgehalten?

    Jaeger: Am besten können diejenigen richterliche Zurückhaltung üben, die als Richter sozialisiert sind. Das kann man auch feststellen, das geht quer durch alle Kulturen. Da kommt es nicht darauf an, aus welchem Rechtskreis man kommt. Richter haben anders zu denken gelernt, sie nehmen prozessuale Fragen ernst, sie nehmen Kompetenzfragen ernst, denn sie wissen, dass Kompetenzregeln die Methode sind, mit der man richterliche Macht eingrenzt und auch richterliche Macht muss beschränkt sein. Und sie können sich über derartige Vorfragen relativ leicht verständigen. Und das fällt Menschen, die als Völkerrechtler glücklich darüber sind, wenn aus Soft Law durch die Anwendung im Gerichtshof auf einmal durchsetzbares Recht wird, oder Menschen, die in NGO's gearbeitet haben und die ganz stark auf die materielle Frage ausgerichtet sind, deutlich schwerer.

    Geuther: Nun hatte man sich eine solche gemischte Zusammensetzung des Gerichtshofs ja gut überlegt, wie man auch am Verfassungsgericht vorher sehr lang darüber gestritten hat und zu auch einer gemischten Lösung gekommen ist. Plädieren Sie für nur Richter am Gerichtshof?

    Jaeger: Nein, das würde ich nie tun, ich finde eine Mischung des beruflichen Herkommens sehr wünschenswert. Aber im Augenblick würde ich sagen, dass die beruflich sozialisierten Richter deutlich in der Minderheit sind. Und das könnte sich vielleicht ein bisschen ändern.

    Geuther: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit der scheidenden Richterin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, Renate Jaeger. Frau Jaeger, unterschiedliche Maßstäbe gibt es ja auch beim Verhältnis von Kirche und Staat. Im September hat der Gerichtshof entschieden, die katholische Kirche hätte einem Organisten nicht wegen Ehebruchs kündigen dürfen. Deutsche Gerichte hatten das anders gesehen, hatten der Kirche mehr Selbstbestimmungsrecht, mehr Freiraum gegeben, auch Anforderungen an das Privatleben ihrer Mitarbeiter zu stellen. Warum müssen in solchen Fragen die Straßburger Maßstäbe die nationalen Maßstäbe verdrängen?
    Jaeger: In allen Fragen verdrängen die Straßburger Maßstäbe die nationalen. Das ist der Sinn eines Europäischen Gerichts. Deutschland hat die Konvention unterzeichnet, damit nicht nur nach deutschen Maßstäben geprüft wird, sondern sich einem internationalen Gericht unterworfen, das nach internationalen Maßstäben urteilt. Deutschland will sich damit einem europäischen Rechtssystem einpassen. Das bedeutet nicht völlige Gleichschaltung, aber die Einpassung ist sicherlich der wesentliche Grund für die Ratifizierung der Konvention gewesen. Und man kann nur hoffen, dass dieser Wille der Einpassung in einen europäischen Kontext auch heute noch in Deutschland tragend ist. Um auf die Fälle zurückzukommen: Es ist schon auffällig, dass zwei deutsche Gerichte genau so entschieden haben wie Straßburg, und lediglich das Bundesarbeitsgericht hat das anders gesehen. Und das Straßburger Gericht hat eigentlich, wenn man die Entscheidung auf ihre wesentlichen Sätze herunterbricht, nur gesagt: Die Maßstäbe, die das Bundesverfassungsgericht bereits zu diesen Fragen entwickelt hat, die sollten auch wirklich angewandt werden. Das Straßburger Gericht hatte den Eindruck, dass das Bundesarbeitsgericht nicht in vollem Umfang von seiner Abwägungsfreiheit Gebrauch gemacht hat.

    Geuther: Sie haben vor kurzem in einem Interview gesagt, die Richter am Menschenrechtsgerichtshof dächten laizistischer als manche nationalen Richter. Woher kommt das?

    Jaeger: Das liegt an ihrem Herkommen. Man muss sich ja nur die Zusammensetzung im Deutschen Bundesverfassungsgericht ansehen, dann weiß man, dass christliche Prägung - zum Teil ganz ausgeprägte Prägung, wenn ich das so sagen darf - vorherrschend ist. Das können Sie doch nicht erwarten, wenn einer aus einem muslimischen Staat kommt, das können Sie schon gar nicht erwarten, wenn ein Richter aus einem laizistischen Staat wie Frankreich kommt, der völlig daran gewöhnt ist, Religion und staatliche Fragen, als auch Menschenrechtsfragen, zu trennen.

    Geuther: In Deutschland haben wir ja gerade eine ganz neue Debatte über Religion und Laizismus, unter anderem jetzt ausgelöst durch die Aussagen von Bundespräsident Christian Wulff: "Der Islam gehört zu Deutschland und das Christentum zur Türkei". Jetzt gibt es Menschen wie Necla Kelek, die beklagen, eine Rückkehr der Religion als Kategorie der Politik sei zu beobachten. Sind wir da aus Sicht des Menschenrechtsgerichtshofs mit der Diskussion einen Schritt zurück?

    Jäger: Das würde ich nicht so drastisch sagen. Man kann diese Äußerungen so verstehen. Aber wenn man in Straßburg sitzt, würde man sagen, der Islam gehört zu Europa, das Christentum gehört zu Europa, die orthodoxen Kirchen gehören zu Europa und die Nichtgläubigen gehören genauso zu Europa. Das heißt, bezogen auf Europa würden wir diese Vielfalt immer genauso bejahen, ohne dass man mit einer solchen Aussage gleichzeitig verbände, dass das Religion oder Weltanschauung im Verhältnis zu den Menschenrechten unzulässig aufwerten würde.

    Geuther: Solche Fragen, Fragen der Religion im Staat, Fragen der Sicherheit gegen Freiheit, die berühren ja auch das Staatsverständnis und tiefliegende gesellschaftliche Anschauungen. Sie haben vorher die Vokabel Einbindung in Europa benutzt. Geht es beim Menschenrechtsgerichtshof auch darum, die Perspektive in Europa über solche Fragen anzunähern, sprich geht es um Rechtsvereinheitlichung, oder auch um eine europäische Einigung durch das Recht?

    Jäger: Es geht nicht um Vereinheitlichung, aber da die Menschenrechte europaweit gelten, sind die Folgen bestimmter Entscheidungen wohl unabweisbar in Richtung auf einen einheitlicheren Blickwinkel.

    Geuther: Was in Deutschland nicht ganz wahrgenommen wird: Die Entscheidungen des Gerichtshofs werden zwar immer mehr wahrgenommen, allerdings fast nur die, die Deutschland selbst betreffen, obwohl so manches dann schon längst entschieden ist, zum Beispiel die Frage, dass ein Staat ein Rechtsmittel gegen überlange Verfahren braucht und viele andere. Trotzdem ist man dann in Deutschland regelmäßig überrascht. Ein europäisches Gericht ohne europäische Öffentlichkeit, wie schlimm ist dieses Manko?

    Jäger: Ich halte das für ein gravierendes Manko und habe dieses Defizit vom ersten Tage an hier empfunden, weil es mir ja nicht anders ging als anderen Deutschen, dass nämlich dieses Gericht, bevor ich hierhin gekommen bin, mir in seinen Entscheidungen relativ fremd war. Und mir ist spontan klar geworden mit den ersten Sitzungen, wie stark man bei jeder Entscheidung, die jetzt Deutschland betrifft, zurückgreift auf ältere Entscheidungen, die Belgien, England, Frankreich betroffen haben und sie überträgt auf die deutschen Verhältnisse. Damit wurde mir klar, man muss insgesamt diese Entscheidungen zur Kenntnis nehmen. Für mich war es deshalb sehr wichtig, zu beginnen, Geld einzuwerben, Bewusstsein zu ändern, sodass also für Übersetzungen gesorgt werden kann, insbesondere der grundlegenden Entscheidungen aus den ersten 50 Jahren. Wie kann man Recht beachten, das man noch nicht mal rein wörtlich versteht, geschweige denn, wenn wir über Verständnis im weiteren Sinne reden.

    Geuther: Und das Verständnis im weiteren Sinne ist ja auch ein Problem. Die Sprache ist das eine. Die Sprachen hier sind . . .

    Jäger: Englisch und Französisch, ja.

    Geuther: . . . nur Englisch und Französisch. Das andere ist, das Verfahrensrecht ist weit weg vom deutschen Verständnis, ist auch eher englisch und französisch geprägt. Wie groß ist diese Hypothek dafür, dass ein Deutscher das verstehen soll?

    Jäger: Ja, ich halte das für eine große Hypothek, glaube aber nicht, dass es für die Deutschen schwieriger ist als für Personen, die aus Island oder aus Malta kommen, geschweige denn Aserbaidjan oder Armenien. Sie sind diesem insgesamt doch sehr westeuropäisch geprägten System noch viel ferner. Man kann damit umgehen, und je besser man damit umgehen kann, desto mehr kann man auch über einzelne Verfahren und die Argumente in den Verfahren Einfluss nehmen. Das muss man einfach beachten.

    Geuther: Jetzt hat ja das deutsche Justizministerium schon mal begonnen, mehr Acht darauf zu haben, welche Entscheidungen auch andere Länder betreffend es gibt. Was muss man sonst noch tun?

    Jäger: Ich hätte beinahe gesagt: Das Herz öffnen. Aber das ist so sehr vorweihnachtlich. Ich meine damit, eine Offenheit haben, eine Bereitschaft haben, sich wirklich auf andere Gedankengänge einzulassen. Wenn man sofort mit der Abschottung kommt: "Eigentlich machen wir das in Deutschland alles ganz prächtig, warum sollte es irgendwie anders gehen?", dann kann man schon gar nicht gut zuhören, und dann kann man die Gedankengänge schlecht nachvollziehen. Und das halte ich für etwas sehr Wichtiges.

    Geuther: Nun wird das ganze System des europäischen Grundrechtsschutzes bald noch komplexer werden. Die EU möchte der Konvention beitreten. Wie wird es dann aussehen mit der Frage des einheitlichen Rechts in Europa, die wir vorhin angesprochen haben? Wird dann die Konvention nicht doch zum gemeinsamen europäischen Bürgerrechtsstatut und – so hat ein Magazin es genannt – der Menschenrechtsgerichtshof der mächtigste in Europa?

    Jäger: Ach, das halte ich noch für sehr spekulativ. Eigentlich ist der Korridor, in dem menschenrechtliche Überprüfung originärer EU-Akte stattfinden wird, relativ schmal. Und noch können wir uns nicht vorstellen, dass dies geschehen wird, ohne dass es in irgendeiner Form eine Vorprüfung durch die EU gegeben hat. Denn dieser Menschenrechtsgerichtshof arbeitet ja subsidiär und anders könnten wir überhaupt nicht überleben. Das heißt, wir erwarten ja immer, dass die Vorprüfung in den Staaten erfolgt. Wenn jetzt die EU beitritt, wird man wohl erwarten dürfen, dass eine Konstruktion gefunden wird, dass die EU auch zur Vorprüfung in der Lage ist. Das heißt, es ist ja nur das letzte Sahnehäubchen auf dem Ganzen. Wenn wir hier eine Verletzung feststellen, ist immer die öffentliche Wahrnehmung ganz anders, als würde dauernd mit dem Schwert das Recht beschnitten, verändert. In Wirklichkeit sind ja von den 35.000 Entscheidungen, die hier ergehen, nur 1.500 Urteile und Verurteilungen rund 1000. Das ist doch ein sehr geringer Prozentsatz. Das heißt, in sehr, sehr vielen Fällen wird festgestellt, dass die in den Ländern, in den Staaten gefundene Lösung mit der Konvention in Einklang steht. Ich denke immer, man muss die Kirche hier wirklich im Dorf lassen. Nur der Blick auf die Verletzungen, nur der Blick auf das eigene Land gibt ein vollkommen verzerrtes Bild.

    Geuther: Sie sagen, 35.000 Verfahren werden entschieden, gleichzeitig kommen 50.000 jedes Jahr dazu. Das heißt, der Überhang wird jedes Jahr berechenbar größer. Nun kommt auch noch die EU dazu. Kann das der Gerichtshof überhaupt stemmen?

    Jäger: Nein, der Gerichtshof ist ja im Moment nicht in der Lage, es zu stemmen. Das besagen die Zahlen klar. Nun ist nicht anzunehmen, dass die EU ein solcher Großlieferant werden wird wie beispielsweise Russland oder – bezogen auf den Kopf der Bevölkerung – Rumänien. Also, das wird keine überproportionale zusätzliche Belastung sein. Für meinen Begriff können wir diese Arbeit nur für die Zukunft erfolgreich leisten, wenn das geschieht, wie Sie Herrn Fabio zitiert haben, wenn in allen Staaten rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen und zumindest ein gutes Gerichtssystem aufgebaut wird. Dieser Gerichtshof ist subsidiär konstruiert. Er kann nur nachträglich prüfen. Wenn in den einzelnen Staaten weder eine gut funktionierende Justiz vorhanden ist noch ein Verfassungsgericht, das auf Individualbeschwerde hin Grundrechts- oder Menschenrechtsverletzungen prüfen kann, dann ist dieses Gericht schlicht überfordert, ganz gleich, welche Reformen man durchführt.

    Geuther: Jetzt waren wir bei dem Überhang und den langen Verfahren in Straßburg. Überlange Verfahren beklagt der Gerichtshof seit Jahren in Deutschland, nicht generell, aber reihenweise in Einzelfällen. Vor kurzem haben Ihre Kollegen Deutschland ein "strukturelles Problem" bescheinigt und eine Frist gesetzt, bis zu der es ein Gesetz und einen wirksamen Rechtsbehelf geben muss. Das ist ein ziemlich starker Rüffel.

    Jäger: Der Rüffel ist so zu erklären, dass erstens die Tatsache, dass es Abhilfe geben muss gegen überlange Verfahren, sich aus Artikel 13 der Konvention ergibt und dass diese Artikel 13-Verletzung in der Summe, die Entscheidung vor vier Jahren, überhaupt nicht wahrgenommen worden ist in Deutschland. Na gut: Das war überlang und man bezahlt. Aber dass da stand, es muss ein Rechtsbehelf geschaffen werden, sonst bleibt es bei einer Konventionsverletzung, wurde ignoriert. Das ist im Moment anders.

    Geuther: Jetzt soll es ein neues Gesetz geben. Das ist auf dem Weg. Damit soll eben nicht schneller das Recht erzwungen werden können, sondern eine Entschädigung. Das kritisieren viele als nicht wirksam. Zu Recht?

    Jäger: Das wird man abwarten müssen. Normalerweise haben solche Entschädigungsregeln eine Präventivwirkung. Kein Richter wird sich gerne sagen lassen, er hat zu irgendwelchen Entschädigungszahlungen Anlass gegeben. Und auch keine Regierung wird sich gerne vorwerfen lassen, dass sie die Gerichte so schlecht ausstattet, dass sie nun reihenweise bezahlen muss.

    Geuther: Frau Jäger, Ihre Nachfolgerin, die Völkerrechtlerin Angelika Nussberger, die wurde auf einer anderen Grundlage gewählt als Sie: Wie immer von der parlamentarischen Versammlung des Europarates aus drei Vorschlägen, aber für diese drei Vorschläge hatte die Bundesjustizministerin, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, diesmal offensiv zu Bewerbungen aufgefordert. Genügt das jetzt an Transparenz, oder bedarf es noch mehr?

    Jäger: Mehr Transparenz war ja angemahnt worden. Und Deutschland war einer der Sünderstaaten innerhalb des Europarates, sodass das immerhin ein Schritt in die richtige Richtung war. Ob man das Verfahren noch offener führen könnte und sich dabei Vorbilder andernorts suchen, wo auch die Anhörungen der Kandidaten öffentlich sind, das wird man national entscheiden müssen. Insoweit gibt es sicherlich keinen Zwang zur kompletten Vereinheitlichung. Allerdings ist Transparenz in jedem Falle wünschenswert. Nur die drei Kandidaten, die präsentiert werden, können von der parlamentarischen Versammlung – einer von ihnen – gewählt werden. Und damit ist die Kandidatenkür in der Tat ein erhebliches Instrument der Beeinflussung.

    Geuther: So viele Mankos es da geben mag, es sieht ja immer noch in Straßburg sehr gut aus verglichen mit Luxemburg. An den Europäischen Gerichtshof dort, den Gerichtshof der EU, wird gar nicht gewählt, die Regierung entsendet einen Richter. Lässt sich das rechtfertigen?

    Jäger: Ich finde das ein befremdliches Verfahren.

    Geuther: Wie sollte es sein?

    Jäger: Ich werde jetzt nicht der EU Vorschriften von hier aus machen. Das ist keine menschenrechtliche Frage. Aber ich finde es befremdlich, dass es im Entsendungswege geht. Und wir wissen ja, dass Europa zunächst wie eine hierarchische Verwaltung geführt worden ist und dass die Öffnung zu demokratischen Elementen Schritt für Schritt stattgefunden hat. Der wachsende Einfluss des Parlaments ist ja jetzt in vielen fundamentalen Fragen spürbar. Und ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass sich das auch in Bezug auf die Richterkür so verändern wird.

    Geuther: Frau Jäger, nächste Woche ist Ihre letzte am Gericht. Was wünschen Sie Ihrer Nachfolgerin, was wünschen Sie dem Gericht?

    Jäger: Dem Gericht wünsche ich, dass es überlebt. Ich halte das Gericht für wichtig.

    Geuther: Und gefährdet?

    Jäger: Und gefährdet durch die Überlast, natürlich. Denn das unterminiert Glaubwürdigkeit. Und wenn man sich bemüht, den Output noch weiter zu erhöhen, unterminiert es die Qualität. Also, diese Gefahren sehen wir auch alle ganz klar. Und deshalb wünsche ich mir, dass andernorts eben durch nationale Vorkehrungen Abhilfe geschaffen wird, damit das Gericht in der Lage ist, seine Aufgaben wahrzunehmen. Meiner Nachfolgerin wünsche ich, dass sie die Kraft mitbringt, diese Aufgabe zu bewältigen und das sie ihren – ich habe sie ja kennen gelernt – guten Mut, ihre Fantasie, ihre Fröhlichkeit über all dem nicht verliert.

    Geuther: Frau Jäger, vielen Dank für das Gespräch.
    Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in der es um die Abwägung von Pressefreiheit und Privatsphäre ging.
    Anhörung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, in der es um die Abwägung von Pressefreiheit und Privatsphäre ging. (Council of Europe Credits)
    Richterinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg
    Richterinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg (Council of Europe Credits)