Darf ein Literaturkritiker ratlos sein? In diesem Fall jedenfalls bin ich es. Ratlos nicht, was die literarischen Qualitäten des zu besprechenden Buches angeht - die sind gering -, sondern wie der Erfolg dieses Autors zu erklären ist. Paulo Coelho ist nach John Grisham der erfolgreichste Schriftsteller der Gegenwart, weltweit. 67 Millionen Bücher hat er verkauft, allein den "Alchemisten" 27 Millionen mal. Vom jüngsten Roman, "Der Zahir", sind Lizenzen in 50 Länder vergeben, mit 250.000 Exemplaren ist Diogenes im deutschsprachigen Raum an den Start gegangen.
"Der Zahir" erzählt die Geschichte einer in Routine erschlafften Ehe und ihre Neubelebung durch einen spirituellen Vitaminstoss. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein Schriftsteller, der dem Autor aufs Haar ähnelt. Millionenverkäufe, Übersetzungen in alle Sprachen, Preise und Huldigungen, treue Leser und böse Kritiker und eine nie endende Inspiration: "Ich habe Hunderte, Tausende von Ideen", behauptet er. Allerdings erzählt er sie uns nicht, er redet bloß davon.
Diesem in der Sänfte des Eigenlobs ruhenden Helden kommt die Frau abhanden; Esther, eine Journalistin, flieht die eheliche Langeweile erst in die Kriegsberichterstattung, dann, indem sie verschwindet, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Der Erzähler - nennen wir ihn ruhig Paulo - lernt in Paris den Kasachen Mikhail kennen, der Esther als Übersetzer gedient hat (und nicht nur dazu). Mikhail ist Epileptiker; während der Anfälle hört er eine Stimme, die ihm befiehlt, der Menschheit die "Energie der Liebe" wiederzubringen und sie so zu erlösen.
Paulo erlöst er, indem er ihm Esthers Aufenthaltsort verrät: Sie lebt in der kasachischen Steppe, webt Teppiche und unterrichtet Französisch. Nach angemessener Zeit innerer Einkehr und Reife darf Paulo sie aufsuchen. "Ich habe gewartet wie Penelope auf Odysseus", sagt Esther, und der Erzähler besiegelt die Wiedervereinigung mit dem Satz: "Ich hielt sie bei den Schultern und segnete sie, so wie ich gesegnet worden war." Wer so weit gekommen ist, verdient Bewunderung - hat sich doch durch mehr als 300 Seiten weitschweifiger Platituden kämpfen müssen. Paulo Coelho bringt es fertig, sich auf dieser langen Strecke nicht einen einzigen eigenständigen Gedanken, keine einzige originelle Formulierung, kein ungewöhnliches Bild, geschweige denn so etwas wie eine sinnvolle Handlung einfallen zu lassen. Seine Botschaft ist von unübertrefflicher Banalität: Das Alte abstreifen, um offen für das Neue zu werden. Das magische Potenzial des eigenen Ichs entdecken. Die Leere suchen, um Fülle zu finden. Den verborgenen Sinn des Lebens aufspüren usw. usf. Es sind die Heilsverkündungen der Fünf-Cent-Esoteriker, die mit der wirklichen Esoterik - die besteht in hoch komplizierten, über Jahrhunderte gewachsenen und kulturgeschichtlich interessanten, wenn auch natürlich luftschlosshaften Gedankengebäuden - nichts zu tun haben.
Das Unangenehme an Coelho ist nicht nur die permanente Selbstbeweihräucherung (die er auf dem Umweg über seine Erzählerfigur vollzieht), nicht nur die weitschweifige Monotonie, der hochtrabende Ton, es ist die Irreführung seiner Leser. Denn die, so viel ist klar, erwarten keine Unterhaltung oder geistigen Gewinn (was Coelho beides nicht zu bieten hat), sondern Lebenshilfe. Und eben die bleibt er schuldig, weil er sich aus dem Nebel seiner Allgemeinheiten nie herauswagt ins klare Licht der Sonne. Die Chance - und die Pflicht - des Romans, konkret zu sein, vergibt er notorisch. Gegen den "Zahir" sind die Prophezeiungen der Bibel präzis wie eine Gebrauchsanweisung (von der Schönheit der Sprache ganz abgesehen).
Coelho spricht Leser an, die den traditionellen Religionen verloren gegangen sind, deren Bedürfnis nach Transzendenz und geistiger Grundierung ihres Daseins aber irgendwo gestillt werden muss. Die moderne, alles der Effizienz und Rentabilität unterordnende Lebensweise schlägt tiefe Wunden in die Seele des Menschen. Coelho bespricht die Wunden. Das reicht, damit seine Patienten sich verstanden fühlen, und das genügt vielen offenbar. Einen Weg zur Heilung kennt er nicht, nicht einmal einen Wegweiser (wenn man nicht Leerformeln wie "alles ist miteinander verbunden und hat einen Sinn" dafür nehmen will).
Was Coelho den spirituell Bedürftigen verabreicht, sind stattdessen - und hier folgt jetzt doch ein Erklärungsversuch: Drogen. Die helfen nicht wirklich, suggerieren aber für einen Moment, das Leben könne viel reicher sein als das, was wir kennen. Da die Banalitäten, die Coelho zu bieten hat, die Leser aber unbefriedigt zurücklassen, werfen sie die nächste Droge, ziehen sich den nächsten Coelho ein.
Opium fürs Volk? Kein Grund zur Aufregung. Es sind ja harmlose Drogen. Sie schaden nicht, sie machen niemanden süchtig, und die Dosis steigern lässt sich auch nicht. Wer liest, selbst esoterischen Kitsch, sündigt nicht. Man muss Coelho-Lesern ihren Meister nicht vermiesen. Auch dem Zürcher Diogenes-Verlag darf man jeden Franken gönnen, den er mit diesen Machwerken verdient. Man darf aber vermuten, dass es in diesem wunderbaren Verlag Menschen gibt, die sich innerlich schütteln angesichts eines Erfolges, der so vielen besseren Autoren dieses Verlages und anderer Verlage eher zustünde.
Paolo Coelho: Der Zahir. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 340 Seiten. 17,90 Euro
"Der Zahir" erzählt die Geschichte einer in Routine erschlafften Ehe und ihre Neubelebung durch einen spirituellen Vitaminstoss. Hauptfigur und Ich-Erzähler ist ein Schriftsteller, der dem Autor aufs Haar ähnelt. Millionenverkäufe, Übersetzungen in alle Sprachen, Preise und Huldigungen, treue Leser und böse Kritiker und eine nie endende Inspiration: "Ich habe Hunderte, Tausende von Ideen", behauptet er. Allerdings erzählt er sie uns nicht, er redet bloß davon.
Diesem in der Sänfte des Eigenlobs ruhenden Helden kommt die Frau abhanden; Esther, eine Journalistin, flieht die eheliche Langeweile erst in die Kriegsberichterstattung, dann, indem sie verschwindet, ohne eine Nachricht zu hinterlassen. Der Erzähler - nennen wir ihn ruhig Paulo - lernt in Paris den Kasachen Mikhail kennen, der Esther als Übersetzer gedient hat (und nicht nur dazu). Mikhail ist Epileptiker; während der Anfälle hört er eine Stimme, die ihm befiehlt, der Menschheit die "Energie der Liebe" wiederzubringen und sie so zu erlösen.
Paulo erlöst er, indem er ihm Esthers Aufenthaltsort verrät: Sie lebt in der kasachischen Steppe, webt Teppiche und unterrichtet Französisch. Nach angemessener Zeit innerer Einkehr und Reife darf Paulo sie aufsuchen. "Ich habe gewartet wie Penelope auf Odysseus", sagt Esther, und der Erzähler besiegelt die Wiedervereinigung mit dem Satz: "Ich hielt sie bei den Schultern und segnete sie, so wie ich gesegnet worden war." Wer so weit gekommen ist, verdient Bewunderung - hat sich doch durch mehr als 300 Seiten weitschweifiger Platituden kämpfen müssen. Paulo Coelho bringt es fertig, sich auf dieser langen Strecke nicht einen einzigen eigenständigen Gedanken, keine einzige originelle Formulierung, kein ungewöhnliches Bild, geschweige denn so etwas wie eine sinnvolle Handlung einfallen zu lassen. Seine Botschaft ist von unübertrefflicher Banalität: Das Alte abstreifen, um offen für das Neue zu werden. Das magische Potenzial des eigenen Ichs entdecken. Die Leere suchen, um Fülle zu finden. Den verborgenen Sinn des Lebens aufspüren usw. usf. Es sind die Heilsverkündungen der Fünf-Cent-Esoteriker, die mit der wirklichen Esoterik - die besteht in hoch komplizierten, über Jahrhunderte gewachsenen und kulturgeschichtlich interessanten, wenn auch natürlich luftschlosshaften Gedankengebäuden - nichts zu tun haben.
Das Unangenehme an Coelho ist nicht nur die permanente Selbstbeweihräucherung (die er auf dem Umweg über seine Erzählerfigur vollzieht), nicht nur die weitschweifige Monotonie, der hochtrabende Ton, es ist die Irreführung seiner Leser. Denn die, so viel ist klar, erwarten keine Unterhaltung oder geistigen Gewinn (was Coelho beides nicht zu bieten hat), sondern Lebenshilfe. Und eben die bleibt er schuldig, weil er sich aus dem Nebel seiner Allgemeinheiten nie herauswagt ins klare Licht der Sonne. Die Chance - und die Pflicht - des Romans, konkret zu sein, vergibt er notorisch. Gegen den "Zahir" sind die Prophezeiungen der Bibel präzis wie eine Gebrauchsanweisung (von der Schönheit der Sprache ganz abgesehen).
Coelho spricht Leser an, die den traditionellen Religionen verloren gegangen sind, deren Bedürfnis nach Transzendenz und geistiger Grundierung ihres Daseins aber irgendwo gestillt werden muss. Die moderne, alles der Effizienz und Rentabilität unterordnende Lebensweise schlägt tiefe Wunden in die Seele des Menschen. Coelho bespricht die Wunden. Das reicht, damit seine Patienten sich verstanden fühlen, und das genügt vielen offenbar. Einen Weg zur Heilung kennt er nicht, nicht einmal einen Wegweiser (wenn man nicht Leerformeln wie "alles ist miteinander verbunden und hat einen Sinn" dafür nehmen will).
Was Coelho den spirituell Bedürftigen verabreicht, sind stattdessen - und hier folgt jetzt doch ein Erklärungsversuch: Drogen. Die helfen nicht wirklich, suggerieren aber für einen Moment, das Leben könne viel reicher sein als das, was wir kennen. Da die Banalitäten, die Coelho zu bieten hat, die Leser aber unbefriedigt zurücklassen, werfen sie die nächste Droge, ziehen sich den nächsten Coelho ein.
Opium fürs Volk? Kein Grund zur Aufregung. Es sind ja harmlose Drogen. Sie schaden nicht, sie machen niemanden süchtig, und die Dosis steigern lässt sich auch nicht. Wer liest, selbst esoterischen Kitsch, sündigt nicht. Man muss Coelho-Lesern ihren Meister nicht vermiesen. Auch dem Zürcher Diogenes-Verlag darf man jeden Franken gönnen, den er mit diesen Machwerken verdient. Man darf aber vermuten, dass es in diesem wunderbaren Verlag Menschen gibt, die sich innerlich schütteln angesichts eines Erfolges, der so vielen besseren Autoren dieses Verlages und anderer Verlage eher zustünde.
Paolo Coelho: Der Zahir. Roman. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Diogenes Verlag, Zürich 2005. 340 Seiten. 17,90 Euro