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In Formeln gedichtet

Dichterische Worte als Formeln, Zeichen und Benennungen für das Gedächtnis und die Gedanken: Mit diesem Ansatz gelingt es der dänischen Lyrikerin Inger Christensen, verborgenen Zusammenhänge der Welt aufzudecken. Das erste Gedichtband der für den Nobelpreis nominierten Autorin, erscheint nun in einer deutsch-dänischen Ausgabe: "lys / licht".

Von Cornelia Jentzsch | 17.07.2008
    Inger Christensens Langgedicht "Alphabet" beginnt mit dem vielzitierten Vers "Die Aprikosenbäume gibt es, die Aprikosenbäume gibt es". Um diesen Anfangssatz herum erschafft die dänische Dichterin, in immer größer werdenden konzentrischen Kreisen und in immer längeren Aufzählungen, die Welt noch einmal. Nur: dieses Mal mit Worten.

    Ihr Wiener Dichterkollege Peter Waterhouse sagt: "'Alphabet' ist von einer solchen Gleichmäßigkeit", von einer solchen "Balance der Energie, dass man in den Aprikosenbäumen des Anfangs alles andere entdecken könnte, die ganze ungegensätzliche Gegensätzlichkeit."

    Das magische Anfangswort Aprikosenbäume schließt wie ein Sesam-Öffne-Dich alles weitere, was danach folgt, auf. Dieses sich allmählich Zeigende umfasst die ganze belebte und unbelebte Welt, von Zikaden und Zedern über Brom und Dioxin bis hin zu den Narwalen.

    Aus dem Alphabet wird die Welt geschöpft. Diese Welt ist ungeschieden und komplex, weil alles noch mit allem verbunden steht. Ein integrer Zustand sei das, meint Waterhouse, also ein vertrauenswürdiger wie unverfälschter Zustand.

    "Ich habe kürzlich über bestimmte Legierungen gelesen", sagt Inger Christensen, Legierungen, die "sich bei bestimmten Temperaturen an die Formen 'erinnern' können, in denen sie sich früher bei anderen Temperaturen befunden haben." Die Dichterin meint, auch Menschen müsse es möglich sein, "sich bei bestimmten Temperaturen - und die Gemütsbewegungen in einer Gesellschaft haben immer eine bestimmte Temperatur" - an die früheren "Formen, Verhaltensformen und sprachlichen Räume zu erinnern".

    Die 1935 geborene Dänin Inger Christensen hat einen besonderen Blick für die verborgenen Zusammenhänge der Welt, ihren geheimnisvollen Strukturen und undurchdringlichen Gesetze. Möglicherweise trieb sie schon immer eine diesbezügliche Ahnung, denn sie schrieb sich als junge Studentin in Kopenhagen neben dem Fach Medizin auch für Chemie und Mathematik ein. Möglicherweise war sie aber auch erst durch die Naturwissenschaften auf die in Formeln fassbare logische Gesetzmäßigkeit der Welt aufmerksam geworden. Denn auch dichterische Worte sind nichts anderes als Formeln. Sie sind Zeichen und Benennungen für das Gedächtnis und die Gedanken.

    Mit 27 gab Inger Christensen ihren ersten Gedichtband "Lys", was übersetzt Licht heißt, heraus. Ein Jahr später, 1963, veröffentlichte sie ihren zweiten Gedichtband "Græs", "Gras". "Zu dieser Zeit", sagt sie heute, "schrieb ich Gedichte auf die Weise, dass die Korrespondenzen der Worte, als Ganzheit gesehen, eine Art Universum schaffen sollten, das vollkommen in Ruhe lag, wo der Wert jedes Wortes in einem Zusammenhang stehen sollte, als wäre das Ganze organisch."

    stehe ich
    alleine im schnee
    wird klar
    dass ich eine uhr bin

    wie sollte die ewigkeit
    sich sonst zurechtfinden


    "Lys", der erste Gedichtband der dänischen Nobelpreisanwärterin Inger Christensen ist ein kleines, berührendes Büchlein, ein erstes sprachliches Herantasten an die in den späteren Werken wie "Alphabet", "Das" oder "Schmetterlingstal" ausformulierten großen Themen.

    Zu Beginn eines dichterischen Werkes, und wohl eines jeden, ist das sprachliche Material noch nicht zur Gänze verfügbar und vertraut. Der Dichter ringt in den anstürmenden Wellen des Begreifens von den Abgründen der Welt, die jeden zunächst sprachlos machen, um Worte. Belastbarkeit und Tragfähigkeit des vertrauten Alphabets werden erst einmal auf verschiedene poetische Möglichkeiten hin ausprobiert und liegen noch nicht bis auf den Grund ausgelotet.

    Doch bereits in "Lys" ahnt die junge Poetin Christensen, um welchen Preis nur zu dichten ist. Dieser Grund ist erreicht, wenn "es gelingt / im wort das licht wiederzuerkennen", wie sie schreibt.

    komm kleiner glaube der glaubt
    alles sei berechenbarkeit
    deine geräumige trauerstatistik
    hat im grossen und ganzen berechnet
    ... unberechenbarkeit.


    sagt Inger Christensen.

    Schon in ihrem ersten Band "Lys" ist, bei allem sprachlichen Tasten, das Erstaunen vor der bizarren und ausgeprägten Komplexität der Welt, "in der welt wo alles gilt", rein und vollkommen vorhanden. Jenes Erstaunen, das in den späteren Werken Christensens eine so unverwechselbare sprachliche Struktur erhält. Diese Komplexität vermag in einem Atemzug das Brutale wie das Zärtliche, das Aufleben wie das Ableben zu umfassen, ohne Trennungsstrich oder Alternativmöglichkeit.

    Hinter allen Versuchen der Beschreibung lauert das Wissen um Vergeblichkeit auf eine Wahl oder einen Ausweg. Selbst der Tod bietet keinen Ausgang, sondern er gehört unabtrennbar zum Leben dazu. Alles ist mit allem verknüpft, nichts kommt ohne das andere aus. So wie in der mathematischen Fibonacci-Reihe, in der sich jede Zahl erst aus der Summe der beiden vorangegangenen ergibt, und die Inger Christensen ihrem zwanzig Jahre nach "Lys" entstandenem "Alphabet"-Gedicht als Formprinzip zugrunde legte. Keine willkürliche Spielerei, sondern nur ein aufgegriffenes Prinzip: die Fibonacci-Reihe strukturiert als geheimer innerer Bauplan viele Naturerscheinungen.

    Begreift man Sprache und Denken ebenfalls als solche, als Erscheinungen einer gesamten und unteilbaren Natur, wird die Eingebundenheit des Menschen und seiner Dichtung in eine universale Komplexität noch sinnfälliger.

    "Was Ihr gegen euch richtet", schreibt Inger Christensen in "Lys", "habt ihr gegen das Meer gerichtet / Das sieht sieht".

    Inger Christensen: "lys / licht"
    Gedichte dänisch-deutsch
    Aus dem Dänischen von Hanns Grössel
    Verlag Kleinheinrich Münster, 18 Euro