"Es wird gar nicht anders möglich sein, als dass da sehr viele Menschen zu Tode kommen", dennoch gibt es nach Ansicht des Forschers "überhaupt keine Alternative" für den Irak. Der Staat müsse verhindern, dass der IS wieder zu einer Terrororganisation werde wie vor einigen Jahren, als er das Land mit ganzen Wellen von Autobombenanschlägen überzogen habe. Das könne ein Staat nicht aktzeptieren.
Der Politikwissenschaftler rechnet damit, dass die Kampagne sich komplizierter und langwieriger gestalten werde als im Ostteil Mossuls, da der Westen der Stadt dichter besiedelt sei. Je länger die Offensive andauere, desto größer werde auch die Gefahr von Hungerkatastrophen. Auch sei davon auszugehen, dass der IS viele der noch geschätzten 700.000 bis 800.000 Menschen, die sich noch in Mossul aufhielten, als menschliche Schutzschilde benutze.
Trotzdem, sagte Steinberg, bestehe ein wenig Hoffnung, dass eine Befriedung Mossuls gelingen könne. Die Lage im Irak sei nicht ganz so schwierig wie in Syrien, der irakische Staat kontrolliere weite Teile des Staatsgebiets und mache derzeit einiges richtig.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Am Wochenende hatte die iranische Regierung den Angriff auf den Westteil Mossuls verkündet. Schon seit Monaten läuft ja die Offensive des irakischen Militärs und seiner Verbündeten für eine Rückeroberung der von der Terrormiliz IS belagerten Gebiete. Beobachter gehen davon aus, dass die Gefechte noch heftiger werden als die um den Ostteil Mossuls.
Mitgehört hat Guido Steinberg aus dem Forschungsbereich Naher und Mittlerer Osten und Afrika der Stiftung Wissenschaft und Politik. Schönen guten Morgen.
Guido Steinberg: Guten Morgen, Frau Schulz.
Schulz: Herr Steinberg, von welchen Zahlen gehen Sie denn aus? Wie viele Zivilisten halten sich noch auf im Westen Mossuls?
Steinberg: Es ist zu befürchten, dass die Zahl wohl eher am oberen Ende liegt, dass die wirklich bei sieben bis 800.000 liegt – ganz einfach deshalb, weil das so ungefähr den Zahlen entspricht, die wir noch aus der Zeit vor der Militärkampagne kennen. Es sind nicht sehr viele Bewohner Mossuls geflüchtet. Die meisten, denen die Flucht gelungen ist, die stammen aus dem Osten der Stadt, der ja mittlerweile zumindest weitgehend befreit ist.
"Die Gefahr, dass es zu einer Hungerskatastrophe kommt"
Schulz: Um den Westen Mossuls zu erobern, vom IS zu befreien, ohne unverhältnismäßig viele Zivilisten zu gefährden oder zu töten, wie kann das gehen?
Steinberg: Ja, das wird insgesamt nicht ohne viele zivile Opfer abgehen können. Wir haben das schon im Osten der Stadt gesehen, wo noch keine offiziellen und auch keine inoffiziellen Schätzungen dafür vorliegen, wie viele Leute denn eigentlich zu Tode gekommen sind. Aber es hat wohl unter Zivilisten Opfer gegeben und es hat vor allem unter der Armee viele Opfer gegeben, und das hat dafür gesorgt, dass diese Eroberung letzten Endes etwa vier Monate gedauert hat. Der Osten der Stadt, der ist sehr viel weniger dicht besiedelt. Es war sehr viel einfacher, den einzunehmen als den Westen der Stadt. Wir müssen damit rechnen, dass es zu vielen zivilen Opfern kommt, weil ja auch der IS tatsächlich diese mehreren hunderttausend Menschen als menschliche Schutzschilde nimmt, und es wird gar nicht anders möglich sein, als dass da sehr viele Menschen zu Tode kommen, als dass sehr viele flüchten, und je länger die Kampagne dauert, desto größer ist die Gefahr, dass es auch zu einer Hungerskatastrophe kommt. Wenn wir das mal übersetzen: Die Einnahme des Ostteils hat etwa vier Monate gedauert. Wenn das ähnlich lange dauert, dann werden Menschen ganz einfach sterben, weil sie nichts mehr zu essen haben. Die Versorgungslage ist, wie wir gehört haben, ja schon jetzt sehr, sehr schlecht.
"Ein Staat kann nicht akzeptieren, dass der IS auf seinem Gebiet agiert"
Schulz: Ist es trotzdem richtig, den Westen Mossuls vom IS zu befreien?
Steinberg: Ich denke, dass es für den irakischen Staat da überhaupt keine Alternative gibt. Der IS hat sich in den letzten Jahren als existenzielle Gefahr erwiesen. 2014 war selbst die Lage in der Hauptstadt Bagdad bedrohlich, weil die Regierungstruppen, weil die Polizei sich vollkommen aufgelöst haben. Der irakische Staat muss diese Organisation beseitigen und er muss versuchen, auch zu verhindern, dass sie wieder zu einer Terrororganisation wird, wie sie das etwa bis 2010, 2011 war, als sie das Land ja mit ganzen Wellen von Autobomben-Anschlägen überzogen hat. Ein Staat kann nicht akzeptieren, dass eine solche Organisation auf seinem Gebiet agiert. Da bin ich, glaube ich, ganz mit den Irakern.
Schulz: Dann lieber in Syrien?
Steinberg: Na ja. Auch in Syrien wird es nicht möglich sein, eine solche Organisation zu akzeptieren. Aber in Syrien ist die Lage ja noch sehr viel schlimmer. Im Irak gibt es eine Regierung, die tatsächlich in der Lage ist, das gesamte Territorium zu kontrollieren. Sie hat eine Armee, sie hat Polizei, sie hat Geld. In Syrien ist der Staat fast vollkommen zusammengebrochen. Es scheint nun in den letzten Wochen und Monaten so, als könnte das Assad-Regime zumindest Teile des Landes wieder kontrollieren, aber wir dürfen uns da nicht täuschen. Das Assad-Regime hat große Personalnöte, und das seit dem Jahr 2012. Die Erfolge in Mossul beispielsweise, die waren nur möglich, weil es Unterstützung von Russland, Unterstützung von Iran und verschiedener schiitischer Milizen hat. Dort ist die Lage letzten Endes noch sehr viel schlimmer. Aber auch dort kann niemand akzeptieren, dass eine solche Organisation nicht nur den syrischen Staat bedroht, sondern auch die Nachbarländer wie vor allem die Türkei, aber auch uns hier in Europa. Ich halte die militärische Vorgehensweise letzten Endes für alternativlos.
"Die irakische Regierung macht im Moment einige Sachen richtig"
Schulz: Herr Steinberg, ich will hier gar nicht in die Situation kommen, zu sagen oder so verstanden zu werden, dass der IS da ruhig bleiben soll in Mossul und dass die Terrormiliz dort ihr Unwesen ruhig treiben soll. Es ist für mich nur einfach so unheimlich schwer, mir vorzustellen, wie das alles gehen soll. Wir haben es gerade gehört: Es gibt Familien, da geht der Riss durch die Familie und entzündet sich an der Frage, bist du für den IS oder gegen den IS. Wie sollen diese Menschen zukünftig friedlich zusammenleben?
Steinberg: Das wird sehr schwierig werden, aber das ist vielleicht die einzige gute Nachricht der letzten Wochen und Monate aus dem Irak. Es gibt ja nun starke schiitische Milizen, die ungeheuer gefürchtet sind in einer sunnitischen und, wie wir gehört haben, auch ehemals regimeloyalen Stadt wie Mossul. Und diese schiitischen Milizen nun, die sind zunächst einmal nicht am Kampf beteiligt. Die halten sich im Westen der Stadt auf. Die versuchen dort, die Verbindungslinien des IS nach Syrien zu kappen. Es hat bei der Eroberung von Ost-Mossul ganz wenige Übergriffe der Sicherheitskräfte gegen die lokale Bevölkerung gegeben, und das ist letzten Endes die Voraussetzung dafür, dass eine schiitisch-islamistische Regierung vielleicht dann doch am Ende in der Lage ist, eine Stadt wie Mossul zu befrieden, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass es besser ist, unter Kontrolle der irakischen Regierung als unter Kontrolle des IS zu leben. Das wird sehr schwer, ganz einfach, weil Mossul immer die Hochburg des IS im Irak war, weil Mossul die Hauptstadt der Organisation ist, aber die irakische Regierung macht im Moment einige Sachen richtig. Und wenn man da die Regierung Abadi auf Kurs halten kann, wenn es gelingt, die schiitischen Milizen vielleicht dann doch auf Dauer etwas zu schwächen, dann gibt es ein kleines bisschen Hoffnung für den Staat.
Schulz: Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk. Ihnen ganz herzlichen Dank für das Interview.
Steinberg: Danke Ihnen.
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