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Iran
Weiblicher als gedacht

Der Iran von heute ist pragmatischer, weiblicher, nationaler und weniger religiös, als viele im Westen glauben, schreibt die Journalistin Charlotte Wiedemann in ihrem Buch "Der neue Iran". Seit 13 Jahren bereist sie das Land immer wieder und sagt, unser Bild von der iranischen Gesellschaft ist falsch. Das Land habe sich längst verändert - und vor allem die Frauen hätten zum Wandel beigetragen.

Von Arlette-Louise Ndakoze | 15.05.2017
    Wahlkampfveranstaltung im Februar in Teheran
    Wahlkampfveranstaltung im Februar 2016 in Teheran. Auf der politisch wichtigen Teheran-Liste standen acht Frauen und nur zwei Mullahs. Die acht gehörten zu mehr als 580 Frauen, die an der Parlamentswahl teilnahmen. (picture alliance/dpa/Foto: Pantea Vasseq)
    Iran: Hochburg der Todesstrafe, Unterdrückung der Frau, altmodisches Weltbild? Welches der überlieferten Bilder, die der Westen reproduziert, passt tatsächlich auf den Iran - was ist Zuspitzung, was innerpolitische Propaganda? Die deutsche Journalistin Charlotte Wiedemann bereist das Land seit 2004, auf der Suche nach Antworten.
    "In diesen letzten 13 Jahren, innerhalb derer ich also immer wieder nach Iran gefahren bin, habe ich dann gemerkt, wie sich eigentlich zum Beispiel die stärkere Präsenz von Frauen im öffentlichen Leben, wie sich all das noch mal weiterentwickelt hat."
    Der Sturz von Schah Reza Pahlavi
    Charlotte Wiedemann lässt die Menschen zu Wort kommen, mehr als dass sie über sie spricht: Familien, Stadt- und Dorfbewohner, Hinterbliebene von Kriegsopfern, Geistliche, ehemalige Offiziere, Künstler, rebellierende Jugendliche und manche Zufallsbegegnung. Ihre Erfahrungsberichte bilden die Vielfalt in der Gesellschaft ab. Sie zeigen die Geschichte des heute mit knapp 80 Millionen Menschen bevölkerten Landes, das viermal so groß ist wie Deutschland, in dem über zehn Völker leben und es genauso viele Sprachen gibt.
    Neben dem religiösen Leben Irans, seiner Kunstszene und dem Ariermythos, der bis heute hochgehalten wird, zieht sich ein Thema wie ein roter Faden durch das Buch: die Erinnerung an die Revolution von 1978/’79, die zum Sturz von Schah Mohammad Reza Pahlavi führte und zum Ende einer über 50 Jahre währenden Dynastie. Die Kämpfe und Proteste auf den Straßen hatten alle Teile der Gesellschaft gleichermaßen mitgetragen, Jung und Alt, Männer wie Frauen, reich und arm. Sie hatten sich aufgelehnt gegen den Schah und seine zum Teil jahrzehntealten Modernisierungsvorschriften.
    "Dazu gehörte wie für Kemal Atatürk im Nachbarland Türkei das Verbot traditioneller Kleidung. 1935 wurde den Iranerinnen von einem Tag auf den anderen untersagt, in der Öffentlichkeit den Tschador zu tragen, jenes große, meist schwarze Tuch (wörtlich Zelt), das nur Gesicht und Hände sehen lässt."
    Die Revolution hatte zwei fatale Nebenwirkungen zur Folge: zum einen den Tod 200 friedlicher Demonstranten unter dem Befehl von Schah Reza Pahlavi. Zum anderen die repressive Islamische Republik.
    Mehr Frauen als Männer studieren
    Das neue Regime nahm den Frauen wieder die zu Schah-Zeiten geltenden Rechte - diesmal im Namen des Islam. Sie durften zum Beispiel fortan nicht mehr als Richterinnen arbeiten. Aber auch viele Oppositionelle, die für die Islamische Republik gekämpft hatten, wurden durch den Sicherheitsapparat seither umgebracht oder willkürlich inhaftiert. Diese repressive Politik hat nicht nur jene enttäuscht, die 1979 ihren Freiheitsruf auf die Straße getragen hatten, so die Autorin, sondern prägt auch heute noch den Blick des Westens auf den Iran.
    "Es ist seit der Revolution von 1979 ein Bild entstanden, was auch dieser Revolution nie ganz gerecht geworden ist, nämlich, es ist ein fanatisches und von hinten bis vorne mit Religion durchtränktes Bild der Gesellschaft entstanden. Das hat schon für die Revolution und die Zeit danach nicht gestimmt, aber es stimmt gar nicht mehr eigentlich für die Gesellschaft, die heute entstanden ist und die in vieler Hinsicht sogar weltoffener ist als die Gesellschaft in den umgebenden Ländern der Region", so Wiedemann.
    Einige Beispiele: Das gesetzliche Kopftuchgebot hat konservative Familien ermutigt, ihre Töchter auf die Schule zu schicken. Heute studieren mehr Frauen als Männer im Land. Der staatliche Druck hat den Protest im Privaten wie auch in der Zivilgesellschaft gestärkt. Neue Nichtregierungsorganisationen sind im Umwelt-, im Gesundheitsschutz, oder im sozialen Bereich aktiv. Dieser "neue Iran", bemerkt die Autorin, entstand seit den 1990er Jahren.
    Keine offene Kritik am Regime
    "Er ist pragmatischer, weiblicher, nationaler und weniger religiös als der Iran der ersten Revolutionsjahre. Die Ansicht, ein neuer Iran würde erst durch die Öffnung des Landes für westliche Unternehmen entstehen, verrät nicht nur Unkenntnis, sondern ist auch verächtlich gegenüber den Menschen in Iran. Es war die stille Macht ihrer alltäglichen Ansprüche, vor allem denen der Frauen, die entscheidend zum Wandel beigetragen haben."
    Immer wieder spricht die Autorin aber auch die Widersprüchlichkeit des iranischen Alltags an, wo oft nur symbolisch die Form gewahrt wird, die im Privaten keine Bedeutung hat. Auch die Politik verhält sich widersprüchlich, indem sie Integrität predigt, selbst aber für Korruptionsfälle bekannt ist. Die Regelbrüche in der Bevölkerung werden geduldet. Sie führten zu einem Individualisierungsprozess in der Gesellschaft, stellt Charlotte Wiedemann fest. Dennoch wird Kritik am Regime nicht wie zur Schah-Zeit öffentlich gemacht. Eine Zeitzeugin der Revolution versucht, zu erklären:
    "Gegen eine irdische Herrschaft nehmen die Menschen anscheinend viel leichter den Kampf auf als gegen eine Unterdrückung, die sich der Religion ihrer Vorfahren als Legitimation bedient."
    Persönliche Sichtweisen und Interpretationen wie diese sind die Stärken des Buchs. Dazu zählen auch die unterschiedlichen Protagonisten, die zu Wort kommen: darunter ehemalige Revolutionäre, Psychologen und Imame.
    Durchwachsener Ausblick
    Auf der einen Seite wird die Autorin ihrem Anspruch damit gerecht, ein möglichst ausgewogenes Bild des Iran zu zeigen. Auf der anderen Seite sind einige Perspektiven in den Kapiteln oft überrepräsentiert: Pro Seite kommen sehr oft drei bis vier verschiedene Themen vor. Zum Beispiel wird der Chef einer bewaffneten Gruppe portraitiert, gleich darauf der Iran-Irak-Krieg erwähnt und mit dem Tabu der Revolution geschlossen. Das erzeugt eine Unruhe, die beim Lesen zur Hürde wird. Schade, da Charlotte Wiedemann Autorin besonders eingehender Reportagen ist.
    Ihr Buch endet mit einem durchwachsenen Ausblick. "Iran genießt heute mehr Unabhängigkeit und Eigenständigkeit als in den vergangenen zweihundert Jahren, und alle Iraner wollen diese Position wahren. Ein alternativer Systementwurf müsste die errungene äußere Freiheit verteidigen und sie mit mehr inneren Freiheiten und Teilhabe verknüpfen. Niemand hat dafür ein kohärentes Konzept."
    Charlotte Wiedemann: "Der neue Iran. Eine Gesellschaft tritt aus dem Schatten"
    dtv Verlagsgesellschaft, 288 Seiten, 22 Euro.