Andreas Main: "Den Islam anerkennen" – diese Forderung ist immer wieder zu hören. Auf den ersten Blick mag diese Forderung den einen plausibel erscheinen, andere wiederum skeptisch stimmen. Den Islam anerkennen, was soll damit gemeint sein? Dass Muslime als Menschen anerkannt werden, ist wohl selbstverständlich, aber "der Islam"? Wir wollen in dieser Sendung fragen, ob diese Forderung einfach zu schlicht ist, oder ob sie sich präzisieren lässt. Das machen wir mit Hartmut Zinser. Er ist Religionswissenschaftler und Professor an der Freien Universität Berlin – und das seit Jahrzehnten, in denen Hartmut Zinser sich auch auf politischer Ebene mit Ecken und Kanten eingemischt hat. Ich bin mit ihm verbunden – wir zeichnen dieses Gespräch auf –, verbunden in unserem Studio in Berlin. Guten Morgen, Herr Zinser.
Hartmut Zinser: Guten Morgen.
Main: Wenn Sie diese Forderung hören, den Islam anerkennen, was geht Ihnen als Erstes durch den Kopf?
Zinser: Also, als Erstes geht mir durch den Kopf, die Merkwürdigkeit der Formulierung, nämlich die Verwendung des militärischen Imperativs. Das ist das Erste, da frage ich mich, was das soll. Aber gut.
Als Zweites geht mir durch den Kopf: Was soll anerkannt werden? Denn es gibt viele Formen des Islam, also der sunnitische, der schiitische, dann innerhalb, also einzelnen islamischen Gruppen. Wir haben in Berlin, glaube ich, 99 verschiedene Moscheegemeinschaften. Also, welche von denen sollte anerkannt werden? Und das ist die nächste Frage, die mir durch den Kopf geht.
Und dann natürlich die Frage: Als was soll der Islam anerkannt werden, als Religion? Das ist ja wohl unbestritten, dass der Islam eine Religion ist.
Und schließlich noch die Frage: Von wem? Vom Staat? Von den Bürgern? Von der Gesellschaft? Vielleicht von den Moslems selber?
"Religion ist eine staatsfreie Angelegenheit"
Main: Von wem? Das ist eine Frage, da möchte ich anknüpfen. Was sagt denn unser Grundgesetz? Ist es überhaupt die Aufgabe von Staat und Politik, eine Religion anzuerkennen?
Zinser: Das Grundgesetz äußert sich dazu nicht und jedenfalls nicht direkt. Es sieht keinerlei Form der Anerkennung von Religion durch den Staat vor. Und das ist auch gut so. Denn Religion ist nach unserer Verfassung eine staatsfreie Angelegenheit. Der Staat gibt allenfalls die Rahmenbedingungen, innerhalb derer alle Religionsgemeinschaften ihr Wirken und ihre Tätigkeit und Leben selbstständig gestalten können. Wenn er Normen erlassen würde, der Staat, um Religionen anzuerkennen, würde er die Trennung zwischen Staat und Religion aufheben und beseitigen und damit die Religionsfreiheit. Und deswegen ist es auch gut so, dass es so was nicht gibt und auch nicht eingerichtet werden darf und kann, auch nicht an dem Beispiel der Schwierigkeiten des Islam.
Main: Also, die Forderung, den Islam als Religion anzuerkennen, ist quasi ein Anschlag auf unsere Verfassung?
Zinser: Wenn man so will, ist das ein Anschlag auf eine grundlegende Position, eine Trennung von Staat und Religion und auch auf die Religionsfreiheit.
Main: Wird da also in einer gewissen Staats- und Autoritätsgläubigkeit unterstellt, eine Kanzlerin oder ein König oder ein Sultan hätten das Judentum oder Scientology oder den Islam anzuerkennen?
Zinser: Das war früher möglich. Das hat unsere Verfassung – nicht nur unsere, genauso die französische und die meisten europäischen Verfassungen, in denen Religionsfreiheit eingerichtet worden ist – aufgehoben. Denn, wenn der Staat Religion anerkennen würde, müsste er Normen erlassen und die Normen müssten natürlich klar sagen können: Den können wir anerkennen, den können wir nicht anerkennen - und zwar aus den und den Gründen. Und damit würde er im Inneren der Religion aktiv werden müssen und damit die Religionsfreiheit und die Trennung von Staat und Religion beseitigen. Denn alles andere wäre dann nicht mehr Religion.
"Die Vereine sollten Mitgliederverbände bilden"
Main: Sie hören den Deutschlandfunk, im Gespräch mit dem Religionswissenschaftler Hartmut Zinser. Wenn der Staat also aus Ihrer Sicht keine Religionen anerkennen sollte, so braucht er dennoch einen Ansprechpartner, um mit Vertretern von Religionsgemeinschaften Rechte und Pflichten auszuhandeln. Wie muss aus Ihrer Sicht dieser Ansprechpartner aussehen?
Zinser: Also, die Verfassung sieht eine Reihe von Formen vor. Das eine ist die Körperschaft des öffentlichen Rechts, das die großen Kirchen innehaben und viele andere. Das ist Ländersache. Die zweite Form ist natürlich das: nach bürgerlichem Recht, also als eingetragener Verein. Und das Dritte ist ein nicht eingetragener Verein. Und es gibt dann noch Unterschiede im Einzelnen. Auf jeden Fall käme es darauf an, dass die jeweilige Religionsgemeinschaft eine Gemeinschaft bildet. Und nach unserer Verfassung und auch nach der Rechtsprechung muss sie eine Personengemeinschaft sein, also aus natürlichen Personen, die einen Verband bilden, sich eine innere Ordnung gibt und wie eine Religion sich präsentiert.
Das ist jetzt das große Problem, dass wir eine Unzahl von Moscheegemeinden in Deutschland haben. Ich weiß gar nicht, wie viele es gibt. Die sind normalerweise nicht einmal Mitgliederverbände, sondern das sind Trägervereine. Die Menschen gehen dorthin, zu der Moscheegemeinde, deren Imam ihnen gefällt oder was weiß ich. Vielleicht aus Verwandtschaftsgründen, auch aus landsmannschaftlichen Gründen, aus welchen Gründen auch immer, weil das Gebäude hübscher ist. Und gehen auch wieder, wechseln das auch.
Sie sind also selber nicht Mitglied. Sodass diese eigentlich keine Mitgliederverbände sind im Sinne unseres Rechts. Und es käme nun darauf an, dass sie solche Mitgliederverbände bilden. Und sie könnten dann darüber hinaus Dachorganisationen bilden, die aber letztlich auf Mitgliederverbänden rekurrieren. Und damit wäre sozusagen eigentlich die Voraussetzung geschaffen für die Einrichtung auch einer Körperschaft des öffentlichen Rechts.
"Im Fall der Körperschaft hat der Staat eine Kontrollfunktion"
Main: Körperschaft öffentlichen Rechts – Sie haben das Stichwort genannt. Ein komplexer Begriff. Klingt unsexy, ist aber schwer begehrt. Sagen Sie uns bitte, warum.
Zinser: Körperschaften des öffentlichen Rechts, wie wir sie kennen, gibt es in vielen europäischen Staaten nicht. Sie ist eigentlich Resultat eines vormodernen, mittelalterlichen Systems. Und das hängt damit zusammen, dass in Deutschland die bürgerliche Revolution nie so erfolgreich war wie in Frankreich und die Kirchen ihre alten Rechte und Privilegien behalten haben, behalten konnten. Und das ist der Verfassungskompromiss der Weimarer Reichsverfassung und dann auch vom Grundgesetz. Und daran wollen wir auch nichts ändern. Man soll die Verfassung nicht infrage stellen, sodass dort ein altes Recht hereinragt.
Körperschaften des öffentlichen Rechts haben hoheitliche Aufgaben. Man kann deswegen sagen, sie sind eigentlich auch Staatsorgane. Und sie sind zur vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Staat und zur Kooperation mit dem Staat verpflichtet. Sie sind sozusagen in gewisser Weise staatstragend. Sie müssen also auf den Grundprinzipien unserer Verfassung stehen, sie müssen rechtstreu sein, während das ein privater Verein zum Beispiel nicht muss. Und die Frage ist natürlich, dass ich glaube, die Islamverbände und die das alle verlangen, machen sich nicht klar, dass natürlich der Staat, wenn man die denn als Körperschaft einsetzen würde, Kontrollregelungen auch einführen muss.
Main: Das wäre dann also ein Nachteil, wenn islamische Verbände zu Körperschaften öffentlichen Rechts würden – aus Sicht der Islamverbände. Welche konkreten Vorteile haben die, die als solche anerkannt sind?
Zinser: Also, Sie können zum Beispiel so was Ähnliches wie Kirchensteuern erheben durch Hilfe des Staats. Sie werden in vielerlei Hinsicht gefördert vom Staat. Sie sind unmittelbar Ansprechpartner des Staates, also etwa in der Frage des Religionsunterrichtes, auch was Gefängnisseelsorge, Krankenseelsorge, Militärseelsorge, also, im Baurecht gibt es eine Reihe von Vorteilen. Also, es ist ein Privilegien-Bündel. Die Imame oder die religiösen Amtsträger einer solchen Gemeinschaft werden automatisch vom Militärdienst befreit und Zahlreiches mehr. Und natürlich interessiert die Verbände wahrscheinlich in der Hauptsache das Geld.
"Das könnte zur Integration beitragen"
Main: Wie würde sich dieses Land verändern, wenn eine wie auch immer geartete Bundesregierung diesem Wunsch nachkäme? Ich meine jetzt im konkreten Alltag unserer Hörer, eines Bürgers wie Sie und ich.
Zinser: Also, ich glaube, es gäbe zahlreiche Änderungen. Es würde sicherlich dazu führen müssen, dass die Moslems zunächst einmal selber Körperschaften bilden, die den unseren Rechtsgegebenheiten entsprechen. Und sie würden vielleicht dadurch die Position, so ein merkwürdiges Zwitterding zu sein, nicht so voll angenommen zu sein – ich sage "angenommen", nicht "anerkannt" zu sein –, würde sich etwas verlieren. Und sie müssten sich natürlich auch klar zu diesem Staat bekennen. Ich glaube auch, es würde die Situation etwa an Schulen und in vielen Gelegenheiten entkrampfen, wenn also eine solche Organisation entstünde. Wobei ich gleich hinzufügen möchte, das könnte genauso gut ein Verein auf privatrechtlicher Grundlage leisten, der als Mitgliederverband organisiert ist und dem Staat genauso gegenübertreten könnte und Kooperationspartner sein kann wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts.
Und man würde auch sicherlich Regelungen finden können für einen privatrechtlichen Verein, dass er die gleichen finanziellen Vorteile bekäme wie eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Das kann man etwa im Schulwesen ja jetzt schon beobachten. Der Staat hat einen islamischen Religionsunterricht eingerichtet. Er hat Ausbildungsstudiengänge dazu eingerichtet und die bezahlt er auch und finanziert er auch. Und das ist gar keine Frage, dass sich das auch anders regeln ließe. Wir brauchen nicht die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit seinen verschiedenen Komplikationen. Aber es würde wahrscheinlich zur, wie man so sagt, Integration beitragen.
"Einheitliches EU-Recht wäre wünschenswert"
Main: Also, das heißt, Sie, wenn Sie im Innenministerium verantwortlich wären, würden sagen: 'Ja, arbeiten wir doch darauf hin, dass islamische Verbände sich so verändern, dass sie Körperschaften öffentlichen Rechts werden können.'
Zinser: Das würde ich tun und mache ich auch schon seit Jahren. Ich habe bei allen möglichen Gelegenheiten mit islamischen Verbänden, aber auch mit staatlichen Instanzen da genau für diese Position geworben. Wobei es mir, wenn Sie mich idealiter fragen, ich eigentlich etwas anderes anstreben würde, nämlich dass wir ein gemeinsames EU-Recht bekommen, wo dann auch geregelt wird, wie Religionsgemeinschaft als Ansprechpartner des Staates funktionieren kann. Denn ich finde es ziemlich skandalös, dass wir also in Deutschland andere Rechte haben als Frankreich und in England. In Schweden haben wir noch, in Dänemark haben wir noch eine Staatskirche, in den Niederlanden auch. Es ist ein solches Durcheinander.
Man kann sich da nicht mehr richtig auskennen. Und ich fände es wünschenswert, dass man dort ein einheitliches EU-Recht schafft. Das würde ich sozusagen eigentlich primär einfordern. Aber das ist vielleicht nicht zu erreichen, jedenfalls nicht kurzfristig. Deswegen müsste man jetzt die Moslems dazu anhalten, anbringen, Verbände zu bilden, die auch den Körperschaftsstatus erwerben können. Und dazu müssen sie natürlich vielleicht auch mal ihre theologischen Lehren durchdenken und vielleicht eine Reihe von Positionen, die sie haben, die aus Traditionen kommen, die zum Teil älter sind, zum Teil auch nicht so alt sind, den entsprechenden modernen Verhältnissen der Trennung von Staat und Kirche angleichen.
Ein wesentlicher Punkt muss sein, dass die Moslems selber den Islam als Religion anerkennen und sich von allen Machtfantasien, die in Formeln wie "din wa daula" und so weiter enthalten sind, verabschieden, weil diese mit dem modernen Staatsverständnis der Trennung von Staat und Kirche oder Staat und Religion nicht vereinbar sind und dem widersprechen.
Main: Und ich gehe davon aus, dass die Mehrheit der Muslime, die hier lebt, Ihren Positionen eher nahesteht, anders als womöglich der eine oder andere islamische Verband.
Zinser: Meine persönlichen Bekannten sind natürlich fast alle Menschen, die nach Deutschland gekommen sind, weil sie sich von diesem vormodernen islamischen System verabschieden wollten und bitten mich immer, ich soll doch dafür sorgen, dass bloß nicht diese uralten Vorstellungen wieder hier Platz greifen und ich soll sie davor schützen.
Main: Hartmut Zinser, Professor für Religionswissenschaft an der Freien Universität zur Frage "Islam anerkennen – ja oder nein?". Hartmut Zinser, danke Ihnen für Ihre Einschätzungen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.