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Islam
Radikale Religionskritik mit Tradition

Über keine Religion wird derzeit wohl so erhitzt debattiert wie über den Islam. Neu ist diese Debatte nicht, macht die Islamwissenschaftlerin Birgit Schäbler deutlich: In "Moderne Muslime" geht sie den Thesen des französischen Religionswissenschaftlers Ernest Renan nach. 1883 hatte der mit ihnen die erste Islamdebatte überhaupt ausgelöst - mit heftigen Reaktionen in der arabischen Welt.

Von Matthias Bertsch |
    Koran
    Koran: Bereits 1883 gab es die erste Islamdebatte in Europa. (picture alliance / dpa / Foto: Roos Koole)
    "Jede Person, die nur einigermaßen an dem Geistesleben unserer Zeit teilnimmt, erkennt deutlich die gegenwärtige Inferiorität der muslimischen Länder, den Niedergang der vom Islam beherrschten Staaten, die geistige Nichtigkeit der Rassen, die einzig und allein ihre Kultur und ihre Erziehung jener Religion verdanken."
    Ernest Renan war ein Mann der klaren Worte. Und seine Aussage über die muslimischen Länder, die sich gleich zu Beginn seines Vortrags über den Islam und die Wissenschaft findet - es ist nicht das einzige Zitat in diese Richtung -, dürfte bei vielen Lesern und Leserinnen spontan zwei ganz unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. "Was für ein Rassist oder Islamhasser", werden die einen denken, "hat er mit seiner Beschreibung nicht Recht" die anderen.
    Birgit Schäbler lässt in ihrem Buch keinen Zweifel daran, dass sie eher zur erst genannten Gruppe gehört, doch ihr Anliegen ist ein anderes.
    "Es ist wohl nicht anders als tragisch zu nennen, dass der Islam, wie er uns heute entgegentritt, in vielem dem Bild gleicht, das Renan von ihm hatte."
    Heute, so die Erfurter Islamwissenschaftlerin, dränge sich, finanziert durch die Petrodollars Saudi-Arabiens, eine fundamentalistische Version des Islam in den Vordergrund, die man nur als rückständig bezeichnen könne. Vor 130 Jahren dagegen, in der Hochphase von Eurozentrismus und Kolonialismus, sei das anders gewesen, doch Renan habe mit seiner radikalen Kritik am Islam die muslimische Welt aus der Moderne herausgeschrieben.
    "Im Kern geht es darum, zu sagen: Wir sind modern und Ihr nicht. Und das ist eben in einer Zeit passiert, in der die Intellektuellen der muslimischen Welt selbst im Aufbruch waren, selbst sozusagen ihre eigenen Gesellschaften reformieren wollten, aber die sehr radikalen Aussagen von Renan haben nichts davon zu Kenntnis genommen. Das hat man sehr, sehr übel genommen."
    Vor allem in den Texten des türkischen Schriftstellers Namik Kemal und des russisch-tatarischen Theologen Ataullah Bajazitov ist diese Kränkung deutlich zu spüren. Kein Wunder, Renan machte aus seiner Überzeugung keinen Hehl, dass die europäische der arabisch-muslimischen Welt grundsätzlich überlegen sei. Als Grund für die Unterlegenheit der Muslime nannte er – in überheblichem Ton – immer wieder den Islam, der mit Wissenschaft und Philosophie nicht vereinbar sei und abweichende Meinungen stets verfolge.
    Es sei wahr, dass der durch religiöse Fanatiker aufgeputschte Pöbel manchmal philosophische Werke verbrannt habe, räumte Bajazitov ein, doch nicht nur im Islam.
    "Selbstverständlich sollte man nicht behaupten, dass es unter den Muslimen keinen einzigen Fanatiker, Derwisch oder Mystiker gegeben habe, doch kann Renan seinerseits auch nicht gerade sagen, dass sich in Paris, dem Zentrum der heutigen Zivilisation, ganz zu schweigen von anderen Städten Europas, keine katholischen Mönche oder ihresgleichen fänden, die ihn und seine Art zu denken, hassen, und die es nicht ablehnen würden, noch heutzutage für ihn und seine Gleichgesinnten die Folter der Inquisition wiederzubeleben."
    Renan hielt Muslime unfähig für die Vernunft
    Für Renan dagegen war die Inquisition Vergangenheit. Europa hätte sich von den Fesseln der Religion befreit, wohingegen die gläubigen Muslime nach wie vor einen "eisernen Reifen um ihr Haupt" hätten, der sie unfähig machte, sich neuen Ideen oder der Vernunft zu öffnen. Die Versuche einzelner wie des arabischen Aristoteles-Interpreten Averoes, die Bedeutung der Vernunft zu betonen, hätte stets zu Konflikten mit der islamischen Orthodoxie geführt.
    Das ist insofern wichtig, als das Denken der griechischen Antike für Renan der Referenzpunkt schlechthin war. In Europa werde dieses Denken seit Beginn der Neuzeit weiterentwickelt, betont er, wohingegen die islamische Welt Aristoteles zwar ins Arabische übersetzt, seine Philosophie damit aber nicht weiterentwickelt, sondern nur aufbewahrt habe. Doch genau das sei falsch, sagt Birgit Schäbler.
    "In der islamischen Welt musste man mit dem griechischen Denken sich das genauso aneignen, wie man das in Europa musste. Also Al-Afghani ist da ein gutes Beispiel, der war sehr, sehr stark von Ibn Rush, also Averoes, beeinflusst, deswegen hat er auch die Vernunft so stark gemacht, die es im Islam gebe. Und das ist auch nicht einfach nur eine Tradierungsleistung, das ist eine Aneignungsleistung gewesen. Und das bestreitet auch Renan."
    Der aus dem Iran stammende Reformtheologe Dschamal al-Din al-Afghani ist der spannendste Kritiker Renans und eine schillernde Figur: Schäbler, die jedem der Kontrahenten ein historisch-biografisches Kapitel gewidmet hat, bezeichnet ihn als "Wanderprediger der Umma", der Gemeinschaft der Muslime. Andere sehen ihn als Vordenker des politischen Islam und des Salafismus. Sicher ist, dass er gegen den Kolonialismus und festgefahrenes Denken in der muslimischen Welt kämpfte.
    Generelle Religionskritik
    Al Afghani war der einzige in der Debatte, der in direktem Kontakt mit Renan stand. Seine Kritik wurde wenige Wochen nach Renans Vortrag im "Journal des débats" abgedruckt. Das Überraschende daran: Er stimmte Renan im Wesentlichen zu. Die Bevormundung durch die Religion sei allerdings kein Spezifikum des Islam:
    "Wenn ich bedenke, dass die christliche Religion um mehrere Jahrhunderte früher in der Welt aufgetreten ist als die muslimische, dann kann ich mich der Hoffnung nicht entschlagen, dass auch die muslimische Gesellschaft eines Tages dazu gelangen wird, ihre Fesseln zu brechen und entschlossen auf der Bahn der Zivilisation fortzuschreiten nach dem Beispiel der abendländischen Gesellschaft, für welche der christliche Glaube trotz seiner strengen Gesetze und seiner Intoleranz kein unüberwindliches Hindernis gewesen ist."
    Al Afghani ging in seiner Religionskritik sogar noch einen Schritt weiter: Die muslimische Religion hätte die Wissenschaft zu ersticken versucht, schrieb er damals. Eine Aussage, die für manch islamischen Wissenschaftler noch heute so ungeheuerlich ist, dass sie schlicht geleugnet wird - so etwas könne Al Afghani gar nicht geschrieben haben. Renan dagegen sah sich bestätigt: In seiner Erwiderung machte er deutlich, dass auch er kein Atheist gewesen ist:
    "Die Religionen nicht zerstören, sie sogar mit Wohlwollen behandeln als freie Offenbarungen der menschlichen Natur, sie aber nicht garantieren, namentlich sie nicht gegen ihre eigenen Angehörigen, die sich von ihnen lossagen möchten, verteidigen, das ist die Pflicht der bürgerlichen Gesellschaften. Solcher Weise zu etwas Freiem, Individuellem gestempelt, wie die Literatur, der Geschmack, werden die Religionen sich gänzlich umbilden."
    Davon aber sind wir heute weit entfernt. Religion ist längst wieder zu einer Art Identitätspanzer geworden, der gegen andere in Stellung gebracht wird. Renan hat mit seiner Überheblichkeit und Ignoranz gegenüber der islamisch-arabischen Welt seinen Anteil daran, doch seine Kritik an der Bevormundung durch die Religion – der Religion im Allgemeinen und des Islam im Besonderen – ist heute noch legitim.
    Buchinfos:
    Birgit Schäbler: "Moderne Muslime. Ernest Renan und die Geschichte der ersten Islamdebatte 1883", Schöningh, 286 Seiten, Preis: 29,90 Euro