Montagmorgen in Istanbul. Die Schüler einer Grundschule stehen aufgereiht im Hof, singen mit angestrengten Gesichtern die türkische Nationalhymne, den Blick auf eine bronzene Atatürk-Statue gerichtet. Auch die Eltern, die draußen am Zaun warten, die Passanten, die auf dem Bürgersteig vorbeikommen. Alle halten still, solange die Hymne erklingt. Ein ganz normaler Wochenbeginn an einer ganz normalen türkischen Schule, so scheint es. Und doch ist alles anders, seit Mitte September für die knapp 18 Millionen Kinder im Land das neue Schuljahr begann.
"Wir bringen unsere Kinder seitdem morgens in die Schule ohne überhaupt zu wissen, ob da noch Lehrer auf sie warten."
Klagt eine Mutter, die gerade ihren Sohn zum Unterricht gebracht hat und nun in einem nahegelegenen Café sitzt und nervös an ihrer Zigarette zieht. An fast allen türkischen Schulen wurden während der Sommerferien Lehrer gefeuert oder suspendiert, etwa 40.000 insgesamt. Sie alle sollen der kurdischen PKK oder der Gülen-Bewegung nahestehen – und damit auch den Putschversuch vom 15.Juli zumindest ideell unterstützt haben. Die junge Mutter zuckt ratlos mit den Schultern.
"Die Entlassungen gehen immer noch weiter, als Eltern wissen wir nie, was morgen ist. Es gibt Schulen im Land, an denen fast das gesamte Personal suspendiert wurde!"
Keine andere Berufsgruppe ist härter von den sogenannten Anti-Terror-Säuberungen betroffen, mit denen die türkische Regierung seit drei Monaten gegen mutmaßliche Unterstützer des Predigers Fetullah Gülen und im gleichen Zuge gegen angebliche Sympathisanten der kurdischen Terrormiliz PKK vorgeht.
"Zeigt keine Nachsicht mit Lehrerkollegen, die der Gülen-Bewegung oder der PKK helfen."
Forderte Ministerpräsident Yildirim die Türken in einer Rede zum Schulstart auf.
"Lasst sie nicht in eurer Mitte leben!"
Unterrichtsmaterialien konfisziert
Evrim Yilmaz aus Istanbul gehört zu den Tausenden Lehrbeauftragten, die am ersten Schultag plötzlich zum Rektor gerufen und mit sofortiger Wirkung vom Dienst suspendiert wurden. Seitdem sitzt die junge Geschichtslehrerin morgens nicht vor ihrer Klasse, sondern zuhause vor dem Fernseher. Damit die Nachbarn sich nicht wundern, hat sie die Vorhänge zugezogen, zeigt sich bis zum Mittag nicht auf der Straße. Als Terrorunterstützerin gebrandmarkt zu sein, ist das Schlimmste, was einem in der türkischen Gesellschaft heute passieren kann, so die 29-Jährige.
"Ich wache morgens auf – aber kann dann nicht in die Schule. Plötzlich gelte ich als ungeeignet für diesen Beruf. Und nicht nur Lehrer wurden ja aussortiert. Sogar die Bücher, die wir am ersten Tag verteilt haben, waren unvollständig, weil alle Unterrichtsmaterialien konfisziert wurden, die in Gülen-nahen Verlagen gedruckt oder von Gülen-nahen Autoren geschrieben wurden. Alles ist ein einziges Chaos."
Vollkommen überraschend kam die Suspendierung für Evrim Yilmaz dennoch nicht: Wie viele andere hat sie im vergangenen Jahr an einem eintägigen Streik teilgenommen, mit dem Tausende Lehrer für ein Ende der Gewalt zwischen türkischem Militär und militanten Kurden im Südosten der Türkei eintreten wollten. Ausgerechnet dafür wird ihnen nun Terrorpropaganda vorgeworfen. Die junge Lehrerin schnaubt.
"Sie wollen jetzt untersuchen, ob wir Beziehungen zu illegalen Organisationen haben. Sie werden meine gesamte Familie checken, mit Schülern und Eltern sprechen und meinen Unterrichtsstil überprüfen. Keiner weiß, wie lange das dauern wird. Alles ist so unklar."
Es sind diese Ungewissheit und vor allem das Fehlen klarer Kriterien und Beweise bei den Verhaftungen, Entlassungen und Suspendierungen, die Kritiker des gerade um weitere drei Monate verlängerten Ausnahmezustands in der Türkei alarmieren. Turgut Yokus von der als links und oppositionell geltenden Lehrergewerkschaft Egitim Sen ist empört.
"Ohne eine richtige Untersuchung wurden allein mehr als 11.000 unserer Mitglieder suspendiert. Es reicht schon die Mitgliedschaft in unserer Gewerkschaft oder auch ein Bankkonto bei der Gülen-nahen Bank Asya, um verdächtigt zu werden."
Eigentlich gehe es der Regierung bei ihren Säuberungen im Bildungswesen darum, AKP-kritische Lehrer durch loyale Kollegen zu ersetzen, so der Gewerkschafter. Tatsächlich kursieren im türkischen Internet bereits die Examensfragen, die beantworten muss, wer auf die frei gewordenen Lehrerstellen rutschen will: "Welche Zeitungen und Kolumnisten verfolgen Sie?", heißt eine davon. "Wie bewerten Sie die Gezi-Proteste im Jahr 2013?", eine andere. Und: "An wen denken Sie bei dem Begriff "Großer Führer?", eine dritte.
Auch in den Augen von Kadir Gökmen Ögüt von der Oppositionspartei CHP sind all das Beweise dafür, dass die Entlassungen und Suspendierungen nach dem Putschversuch nur Teil einer von langer Hand geplanten Reform des türkischen Schulsystems sind.
"Sie arbeiten seit Jahren daran, die Schulen in ihrem Sinne umzubauen. Sie haben schon versucht den Englischunterricht zu reduzieren, säkulare Lehrer zu feuern und aufmüpfige Schulrektoren kaltzustellen."
So der 57-jährige Lokalpolitiker aus Istanbul.
"Als nach dem Putschversuch der Ausnahmezustand ausgerufen wurde, hat unsere Partei das befürwortet. Wir haben klar gemacht, dass wir die Maßnahmen der Regierung gegen die Gülen-Terroristen unterstützen. Aber dann fingen sie an, ihre Dekrete zu ihrem eigenen Nutzen und gegen jede Art von Opposition anzuwenden. Die Lehrerentlassungen sind Teil davon. Und auch, dass sie ganz bewusst die besten Schulen des Landes ruinieren wollen, indem sie die Lehrer zwangsversetzen."
Politiker Ögüt würde gern noch erklären, was er damit meint. Doch eine Gruppe Jugendlicher schiebt ihn beiseite. Jetzt wollen sie reden, die Schüler des Avni Akyol Gymnasiums im asiatischen Teil Istanbuls. Einer Schule mit Kunst- und Musikschwerpunkt, dessen Kollegium das Bildungsministerium austauschen will, und vor deren eisernem Tor sich die wütenden Schüler deswegen heute zu einer Protestaktion versammelt haben. Schon am Kleidungsstil der Gymnasiasten lässt sich erkennen, welcher Teil der türkischen Gesellschaft seine Kinder hier ausbilden lässt: Strubbelhaare und Ohrringe, Hängejeans und kurze Röcke sind zu sehen. Kopftücher nicht.
"Allein dass diese Schule erfolgreich Künstler ausbildet, macht sie für die Regierung verdächtig."
Meint eine junge Musikerin, die vor 6 Jahren am Avni-Akyol-Gymnasium Abitur gemacht hat und heute gekommen ist, um gegen die Zwangsversetzung ihrer Lieblingslehrer zu demonstrieren. Kein Wunder, dass gerade hier Reformen anstehen, findet sie.
"Denn Künstler können denken, Fragen stellen und ihre Stimme erheben. Aber genau solche Leute wollen sie in diesem Land nicht haben."
Das AKP-geführte Bildungsministerium will selbstverständlich Ersatz für die zwangsversetzten Kunst-, Musik- und Gesangslehrer des Avni-Akyol-Museums einstellen. Allerdings nicht, wie bisher, durch fachliche Eignungsprüfungen, sondern durch direkte Ernennung nach nur ministeriumsintern bekannten Kriterien. "Fasst unsere Lehrer nicht an!" steht auf den Zetteln, die die Schüler für ihre Protestaktion mitgebracht haben. Ein 12.-Klässler baut sich gleich neben Lokalpolitiker Ögüt auf, in der zitternden Hand eine vorbereitete Rede.
"Wir, die Schüler dieses Gymnasiums, wollen nicht, dass unsere Lehrer gehen. Das würde die gute Ausbildung hier zerstören, unseren Unterrichtsalltag durcheinanderbringen und den Erfolg der Schule zunichtemachen. Genauso wie bei den anderen Schulen, die von diesem Plan betroffen sind. Deswegen fordern wir: Fasst unsere Lehrer nicht an!"
Insgesamt 155 türkische Schulen wurden über Nacht zu sogenannten Projektschulen erklärt, ein Großteil ihrer Lehrer wird ausgetauscht. Die Avni-Akyol-Schüler sind nicht die ersten, die sich gegen die ihrer Meinung nach zunehmende Bevormundung aus Ankara auflehnen: Bereits im vergangenen Jahr lösten die Gymnasiasten des deutschsprachigen "Istanbul Erkek Lisesi" eine regelrechte Protestwelle gegen die, Zitat, "fortschreitende Islamisierung und Erdoganisierung" des türkischen Schulsystems aus.
Das wichtigste Bildungsinstrument der AKP aber scheinen die religiösen Imam-Hatip-Schulen, deren Zahl sich seit einigen Jahren explosionsartig vermehrt. Präsident Erdogan höchstpersönlich zählt zu den Absolventen der einstigen Berufsschulen für Imame, deren Abschluss durch sein Einwirken inzwischen als Abitur anerkannt wird. Neben Mathe und Bio stehen auf den religiösen aber staatlichen Schulen Fächer wie Arabisch, Korankunde oder das Leben des Propheten Mohammed auf dem Stundenplan. "Hier ist der Ort, an dem Träume und Hoffnungen mit der Kraft des Glaubens zusammengeführt werden.", heißt es in einem Video, das im Internet für die ganz normal steuerfinanzierte und vom Bildungsministerium beaufsichtigte Schulform wirbt. Die Kamera begleitet Schüler im Chemieunterricht genauso wie in der Moschee und bei der Koranrezitation.
Renaissance der religiösen Mittel- und Oberschulen
Im Jahr 1997 ließ das türkische Militär die Imam-Hatip-Schulen für unter 15-Jährige verbieten. Das säkulare System der türkischen Republik sollte geschützt werden. Als jedoch drei Jahre später Erdogan und seine AKP die Macht übernahmen, begann die Renaissance der religiösen Mittel- und Oberschulen. Seit 2003 hat sich ihre Zahl mehr als verzwölffacht.
Zum Glück, finden konservative Türken, wie die muslimische Aktivistin Hülya Sekerci aus Istanbul, die sich jahrelang für die allgemeine Anerkennung des Imam-Hatip-Abiturs einsetzte.
"Wir leben in einer überwiegend religiösen Gesellschaft, in der der Islam das wichtigste Wertegerüst darstellt. Da ist es gesünder, wenn die Kinder ihre Religion nicht von unzuverlässigen Quellen und Sekten lernen, sondern von ausgebildeten Lehrern an staatlichen Schulen."
Mehrere Stunden täglich sind an den Imam-Hatip-Schulen religiösen Fächern gewidmet. Vor allem aber sind sämtliche Lehrer religiös geprägt, Lehrerinnen und Schülerinnen tragen Kopftuch. Der Anspruch einer säkularen Bildung – einst Teil des Gründungsmythos der türkischen Republik – entfällt.
"Ich finde es richtig, dass Mädchen und Jungen an Imam-Hatip-Schulen getrennt unterrichtet werden. Gerade in der Pubertät, dieser problematischen, ungefestigten Phase, beeinflusst sie das positiv beim Lernen."
So Sekerci, deren eigene Kinder Imam-Hatip-Schüler sind.
"Als jemand, der selbst auf eine Imam-Hatip-Schule gegangen ist, weiß ich die Werte zu schätzen, die ich von dort mitgenommen habe und die mich bis heute prägen. Die Ausbildung dort stützt sich auf klare moralische und religiöse Vorstellungen, mit denen die Kinder aufwachsen und die sie zu besonderen Bürgern werden lassen."
Mehr als 3.000 Imam-Hatip-Schulen gibt es heute in der Türkei. Zum Bildungsangebot gehören nicht nur religiöse Werte sondern – anders als bei den regulären Staatschulen – häufig auch kostenloses Mittagessen, Tablet-Computer und Schulbus-Transport. So werden Eltern dazu ermuntert, ihre Kinder hier anzumelden. Auch verpasst Präsident Erdogan keine Gelegenheit, um die Glaubensfestigkeit und den Erfolg von Imam-Hatip-Schülern wie ihm selbst zu betonen.
Koranlesen, Prophetenkunde und Arabisch als Pflichtfächer
Doch was gerade vielen Erdogan-Anhängern als perfekte Schulform gilt, gleicht für die Eltern in oppositionellen Kreisen einer Horrorvorstellung. Denn hinter der rasanten, von der AKP-Regierung forcierten Ausbreitung des Imam-Hatip-Systems vermuten gerade säkular eingestellte Eltern mehr als nur ein paar zusätzliche Stunden Religionsunterricht in der Woche.
"Sie versuchen damit, den Menschen einen bestimmten Lebensstil aufzudrücken. Indem man eine ganze Genration von Imam-Hatip-Schülern heranzieht, soll eine völlig neue Gesellschaft geschaffen werden."
Glaubt Bengü Bozkurt Dogan. Sie sitzt an einem kleinen Holztisch vor der Ismail-Tarman-Schule im europäischen Teil Istanbuls, blickt auf die Schüler, die sich drängelnd und lärmend aus der Tür schieben.
Seit fünf Monaten, sagt Bengü, sitzt sie jeden Vormittag hier – egal ob Sonne oder Regen, egal ob Ferien oder nicht. Denn die Schule, auf die ihr 12-jähriger Sohn geht, soll nach dem Willen der Regierung in eine Imam-Hatip-Schule umgewandelt werden. Nur durch Zufall bekamen die Eltern überhaupt von den Plänen Wind. Bengü ist wütend.
"In unserer Nachbarschaft gibt es doch schon eine Imam-Hatip-Schule. Hätte ich eine religiöse Ausbildung für meinen Sohn gewollt, hätte ich ihn dahin geschickt. Aber ich glaube daran, dass die Religion etwas ist, was ein Kind, wenn überhaupt, zuhause in der Familie lernen sollte. Der Staat ist dafür nicht zuständig!"
Günay Kara, ebenfalls Mutter eines zwölfjährigen Sohnes, sieht das ähnlich. Ganz in der Nähe gäbe es doch bereits eine Imam-Hatip-Schule. Wie viele andere Eltern auch, habe sie ihren Sohn ganz bewusst nicht dort, sondern an der regulär betriebenen Ismail-Tarman-Schule angemeldet. Es sei deren guter Ruf, der ihr nun zum Verhängnis werde.
"Unsere Schule gilt als die beste des Bezirks. In den landesweiten Vergleichsexamen schneidet sie sehr gut ab. Deswegen wollen sie jetzt, dass religiöse Familien ihre Kinder hier herschicken. Sie können dann sagen: Seht her wie erfolgreich unsere Imam-Hatip-Schulen sind. Deswegen wählen sie immer die besten Schulen, um sie umzuwandeln."
Günay und die anderen Eltern haben sich an das Ministerium und den Gouverneur, die Gewerkschaften und die Parteien gewandt. Gebracht hat es bisher nichts. Die zum Schuljahresbeginn neu aufgenommenen Fünftklässler ihrer Schule lernen nun nach Imam-Hatip-System – Mädchen und Jungen getrennt, Koranlesen, Prophetenkunde und Arabisch als Pflichtfächer. Auch von der Schulleitung können die Eltern keine Unterstützung erwarten: Rektor, Vizerektor und viele Lehrer wurden in den letzten Jahren Stück für Stück durch Imam-Hatip-Absolventen ersetzt. Selbst wenn die Elterninitiative erfolgreich sein und die Umwandlung rückgängig gemacht werden sollte: Gegen die Pläne der AKP, deren damaliger Vorsitzender Erdogan 2012 in einer Rede verkündete, er wolle eine "religiöse Generation heranziehen", fühlen sich die säkular eingestellten Eltern zunehmend machtlos.
"Ich habe das Gefühl, dass ich schon bald in einer Situation sein werde, in der ich keine Schule mehr für mein Kind finden kann, die meinen Vorstellungen entspricht. Aber wie viel Einfluss habe ich dann eigentlich noch auf seine Ausbildung und sein Heranwachsen? Sie nehmen mir die Möglichkeit, für mein Kind zu entscheiden. Sie nehmen es mir weg. Das macht mir Angst."
Boom der Privatschulen
Wie gering das Vertrauen türkischer Eltern in die staatlichen Schulen im Land ist, zeigt auch der Boom der Privatschulen am Bosporus seit einigen Jahren. Wer genug Geld hat, bezieht das staatliche Schulsystem inzwischen kaum noch in Betracht, wenn es um die Ausbildung der Kinder geht. Erst recht nicht, wenn er zum säkular geprägten Teil der Gesellschaft gehört. Immer größer wird die Zahl der Eltern, die sich gar verschulden, um die Kinder dem Einfluss des Staates zu entziehen. Und auch, weil sie auf bessere Unterrichtsqualität hoffen. Denn das katastrophale Abschneiden türkischer Schüler bei Vergleichstesten a la Pisa und Co zeigt deutlich, dass der Schwerpunkt in der Bildung am Bosporus schon lange nicht mehr auf Mathematik und Grammatik liegt.
"Auch unsere Tochter geht seit diesem Jahr auf eine Privatschule."
Sagt ein Vater, der sich dafür beinahe zu schämen scheint.
"40.000 Lira, fast 1.000 Euro im Monat, kosten die Schulgebühren. Wir arbeiten jetzt also nur noch dafür, das aufzubringen. Und das als Menschen, die die Idee von Privatschulen eigentlich ablehnen. Aber was sollen wir tun? Sie lassen nur die Rattenlöcher für uns übrig. Wer kann, schickt sein Kind jetzt schon nach der Grundschule aufs Internat ins Ausland."