Liebestod - Abendbrot: Die Spannweite der Empfindungen in Christoph Marthalers jüngster Basler Produktion könnte nicht größer sein. Und so skurril und aberwitzig wie die Kombination von großen Gefühlen und Alltäglichkeiten sind die unglaublich dichten, schillernden zwei Stunden dieser schnörkellos poetischen Abschiedssinfonie an der runden Club-Bar. Nur auf den ersten Blick mutet dort alles holzgetäfelt gediegen an. Hinter dem Tresen hantiert hoheitsvoll eine Dame mit ebenso abweisendem wie dauergekränkten Gesicht. Nicht mal die drei umständlich verdreht hereinwankenden Herren fortgeschrittenen Alters nimmt sie wahr. Reichlich skurrile Gestalten, wie aus der Zeit gefallen und definitiv frag-würdig, obwohl sie sich große Mühe geben, wie Orgelpfeifen aufgereiht auf die Clubsessel zu stolzieren. Gute Bekannte aus vielen Marthaler-Abenden: Ueli Jäggi als zerknautschter grauer Beamtentypus, Graham F. Valentine als gestylter Halbtramp und Raphael Clamer, ein gestutzer Flegel. Und dann nimmt der merkwürdige Reigen langsam Fahrt auf. Die Barhocker beginnen mitsamt ihren Besetzern karussellartig um den Tresen zu kreisen. Und wie Figuren einer großen Spieluhr erwachen alle Beteiligten im Takt und Klang von Melodien zu einem zweiten oder dritten Leben. Allen voran die Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter als grandiose Bardame, Alchimistin, Zaubertrankmixerin, Diseuse und Opernstar in einem. Beethoven oder Bach, Wagner oder Mahler, aber auch die Gréco, Léo Ferré und ein halbes Dutzend frecher französischer Chansons – das ist der Stoff, aus dem ihre Lebensträume sind, die sie aufsaugt, in denen sie aufgeht, sich auslebt, feierlich bis pompös, melancholisch oder auch fordernd, als große Liebende oder kalt lächelnde Femme fatale. Bis dann plötzlich der große Rausch verfliegt, sie verstummt und sich wieder Putzlappen, Schwammtuch oder Flaschencontainer zuwendet – als wäre nichts gewesen. Der Umgang mit ihren Gästen ist auf knappste Gesten beschränkt, ja sie unterläuft jeden Kontaktversuch bereits im Ansatz. Mit einer Ausnahme. Als sie sich dem letzten sie umkreisenden Gast – nur für ihn singend – zuwendet, ignoriert dieser die Annäherung komplett, absorbiert von den Kommunikationsmöglichkeiten seines Smartphones, geradezu verzückt von den Selbstbespiegelungen in immer neuen Selfies.
Nicht an einer Stelle kommt es auch nur zu halbwegs gelungenen Momenten der Verständigung, gar zu Dialogen zwischen den Figuren. Aber auch dieser triste Befund wird nicht ernsthaft, klagend oder gar wehleidig, sondern als melancholisch grundierter Aberwitz vermittelt: als englischsprachige Nonsens-Überlegungen zum disappearing, dem spurlosen Verschwinden und neuerlicher appearance von Personen; oder als grandioser Slapstick, wenn die beiden älteren Herren auf der immer drängender werdenden Suche nach den Labels von Jackett, Hemd und Hose sich gegenseitig bei einem atemberaubend komischen Enthüllungs- und Umstülpungsverfahren behilflich sind.
Ja, es wäre eine tiefgraue, todtraurige Geschichte von verpassten Gelegenheiten, misslungenen Auftritten und Abgängen, verfehltem Da-Sein und halbherzigem Weg-Sein, wenn das Ganze nicht so virtuos abgedreht, ungelenk arkobatisch wäre, oszillierend zwischen tiefem Gefühlsausdruck und blökendem Gewieher. Auch die drei Herren parlieren und singen in mehreren Sprachen und Stimmen, blasen, trommeln, tanzen, dass es eine Lust ist, und bald weiß man gar nicht mehr, ob es wirklich nur drei sind: Nach dem mittendrin verabreichten Gifttrunk lacht die Belle Dame sans merci nur kurz auf - schon kreiseln die Barhocker weiter. Und: neuer Hut, neuer Mut, auch die soeben ermordeten Herren drehen sich, vervielfältigt und in mancherlei wechselnden Verkleidungen und Posen, um das unerreichbare Lebenszentrum: Eine Revue ihrer halbvergessenen Lebensentwürfe und Leidenschaften – bis sich am Ende nur noch die leeren Barhocker drehen. Auf dem Boden Überbleibsel spurlos verschwundener Gäste: ein Strohhut, ein Schal, ein Sakko, eine Hose ... ein Reigen von Erinnerungen an ungelebtes Leben. Dann geht das Licht aus und eine Sternstunde des Theatererlebens, hochprofessionell und poetisch zugleich, ist zwar zu Ende. Kann aber jederzeit zu neuem Leben erwachen.