Wer mit dem Zug in Neapel ankommt, fährt mitten ins Elend. Der Hauptbahnhof und sein Vorplatz sind bevölkert von Bettlern, Obdachlosen, Menschen, die ihr Hab und Gut in zwei Plastiktüten mit sich herumtragen. Frauen mit Bauchläden bieten geschmuggelte Zigaretten an. Ohne Steuermarke kosten sie nur ein Drittel des normalen Verkaufspreises. Eine Frau mittleren Alters hält jedem, der an ihr vorbeikommt, hoffnungsvoll ihr Warenangebot hin. Giuseppina.
"Uns geht es wirtschaftlich richtig dreckig und die Politiker denken nur an sich und ihre Spielchen. Das macht mich wütend. Mein ältester Sohn ist seit zwei Jahren auf Arbeitssuche, dabei ist er zur Universität gegangen. Mein jüngster geht noch in die Schule, aber was soll danach werden? Mein Mann hat noch Arbeit, aber die Gehälter sind viel zu niedrig im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten."
Die Polizei drückt ein Auge zu
Die Zigaretten bringen Giuseppina einen Nebenverdienst von circa 300 Euro im Monat ein. Sie sind unverzichtbar für das Budget der Familie und die Gefahr, erwischt zu werden, ist gering. Die Polizei drücke ein Auge zu, sagt ehemalige Sozialarbeiter Antonio Alfano:
"Es wäre wie ein Stich ins Wespennest und die Leute würden auf die Barrikaden gehen. Sie würden Freunde und Bekannte zusammentrommeln und vor dem Rathaus protestieren. Es wäre eine Revolution. Tausende wütender, verzweifelter Menschen auf der Straße, das wollen die Behörden nicht."
Antonio Alfano wurde wegen Geldmangels als Sozialarbeiter von der Stadt entlassen, ist heute Krankenpfleger und dokumentiert in seiner Freizeit das Leben auf der Straße in Neapels Altstadtvierteln.
"Diese Stadt ist nicht wie andere Städte. Das Zentrum von Neapel, der Altstadtkern, ist noch immer Heimat ganz einfacher und armer Leute, verzweifelter Leute. Woanders sind die längst aus den Stadtzentren vertrieben worden, wenn ich an Florenz denke oder an Berlin."
Die Armut habe hier in den vergangenen zwei, drei Jahren stark zugenommen, sagt er und zeigt auf einen alten Mann, der leere Bierflaschen aus einem Abfalleimer klaubt, um das Pfand zu kassieren. Wenige Cents, aber immerhin. Andere verkaufen selbst geschmierte Brote zu einem Euro an Reisende auf dem Weg zum Bahngleis.
Alte Tradition geht verloren
Und in den Bars rund um den Bahnhof warten Leute um sich auf die Reste zu stürzen, die die zahlende Kundschaft zurücklässt. Das halbe Stück Pizza, zwei Bissen Brötchen mit Schinken, die angebrochene Flasche Limonade. Schnell und diskret greifen sie zu, und die Scham steht ihnen ins Gesicht geschrieben. Früher war es in Neapel nicht schändlich, arm zu sein. Wer sich keinen Kaffee in einer Bar leisten konnte, bestellte selbstbewusst einen "Cafè sospeso" so wie andere einen "Cafè macchiato" mit einem Klecks Milchschaum.
Der "Cafè sospeso" ist wörtlich genommen ein "Kaffee in der Schwebe". Es bedeutet: jemand hat einen Kaffee getrunken aber zwei bezahlt und dieser zweite Kaffee bleibt so lange in der Schwebe, bis jemand kommt, der kein Geld hat für einen Kaffee. Er kann diesen dann einfordern. Alessandra Musto, die vor 20 Jahren als Studentin in einer Bar gekellnert hat, erinnert sich gut an diesen Brauch.
"Das war eine typisch neapolitanische Tradition, die vor allem die alten Leute gepflegt haben. Diese Kultur stirbt leider mit dieser Generation aus."
Mangel an Solidarität insgesamt?
Ihr Bekannter, der Alessandra heute zum Kaffeetrinken einlädt, ist anderer Meinung. Der "Cafè sospeso" sterbe aus, weil die Solidarität allgemein sterbe:
"Solche Gesten der Solidarität gehen zurück. Nicht, dass es sie gar nicht mehr gibt, aber weniger als früher. Die Hilfsbereitschaft nimmt ab und der Grund ist einfach: wir befinden uns fast alle in finanziellen Schwierigkeiten."
Und so machen sich Obdachlose inzwischen auf Gaskochern in den öffentlichen Grünanlagen einen Kaffee. Löslichen Kaffee, den sie in kleinen Schlucken trinken. Nicht, weil er schmeckt, sondern weil er das Hungergefühl dämpft und wärmt. Oder sie stellen sich in die Schlange vor der Bahnhofsmission, wo Brot Obst und Filterkaffee in Blechkannen ausgegeben werden. Echt italienischen Espresso können sich nicht mehr alle Italiener leisten.
Programmtipp: Wird Espresso also wieder zu einem Luxusprodukt, so wie er es in seiner Anfangszeit in Europa war? Die Geschichte des italienischen Kaffees und Geschichten rund um ihn hören Sie morgen in der Sendung Gesichter Europas ab 11:05 Uhr.