Friedbert Meurer: Ich begrüße am Telefon Florian Coulmas, er ist Direktor des Instituts für Japanstudien in Tokio und Autor eines gerade neu erschienenen Buches über Hiroshima. Guten Morgen, Herr Coulmas.
Florian Coulmas: Guten Morgen, Herr Meurer.
Meurer: Sie haben ja selbst, wenn ich das richtig sehe, auch in Hiroshima gewohnt. Was bedeutet für die Einwohner dieser Stadt und für die Japaner heute noch das Ereignis vor 60 Jahren?
Coulmas: Diese Frage kann ich vielleicht am besten damit beantworten, dass gerade in diesen Tagen in der zweitgrößten japanischen Tageszeitung, "Asahi Shinbun", eine Umfrage veröffentlicht wurde unter den heute noch überlebenden Opfern von Hiroshima und Nagasaki, das sind nach 60 Jahren immerhin noch 40.000 Leute. Und sie wurden unter anderem gefragt, wie sie über die amerikanischen Lesart - über den Abwurf der Atombomben, nämlich dass damit mehr Leben gerettet wurden, als vernichtet wurden - dächten. Und die überwältigende Mehrheit dieser Menschen sagt erwartungsgemäß, dass sie das in große Wut und großen Kummer versetzt. Man kann daran vielleicht ablesen, dass die Sichtweise auf dieses geschichtlich so ungeheuer wichtige Ereignis in Japan und in Amerika heute so weit voneinander entfernt ist, wie seinerzeit.
Meurer: Beantworten Sie diese Frage denn genauso wie die Opfer?
Coulmas: Ich glaube, dass diese Lesart ausschließlich Resultat von Propaganda ist. Man muss sehen, dass sieben Jahre nach dem Abwurf der Atombomben darüber praktisch nichts veröffentlicht wurde, jedenfalls nichts, was die amerikanische Zensur durchließ. Sieben Jahre sind eine recht lange Zeit, um Schulbücher zu schreiben, die von Generation zu Generation weitertransportiert werden. Und in Amerika wird es auch heute noch so gesehen.
Meurer: Die Entscheidung über die Kapitulation ist ja damals durch den japanischen Kaiser gefällt worden, hätte der denn einer Kapitulation zugestimmt ohne Hiroshima und Nagasaki?
Coulmas: Ohne Zweifel. Seit der deutschen Kapitulation war die militärische Lage Japans vollkommen hoffnungslos. Das wussten alle. Auch innerhalb der amerikanischen militärischen Führung haben sich sehr einflussreiche Männer - zum Beispiel der Nachfolger von Truman, General Eisenhower, gegen den Einsatz der Bombe ausgesprochen, weil sie überzeugt waren, dass sie militärisch vollkommen überflüssig war. Wenn es also keine militärische Notwendigkeit gab, muss man sich fragen, was waren die Notwendigkeiten. Die waren politischer Natur. Darüber sind sich auch Historiker heute im Wesentlichen einig. Aber die Geschichte wird nach wie vor hauptsächlich so geschrieben und weitergegeben, wie sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden ist.
Meurer: Und glauben Sie, dass Harry Truman damals das Leben von US-Soldaten schützen wollte?
Coulmas: Das ist eine Rede, die nach dem Abwurf entstand. Es gab zwei Invasionspläne, einen für November 1945 und einen für März 1946. Und wie es bei solchen Plänen üblich ist, machen die Militärs dann auch Schätzungen, wie viele Gefallene, wie viele Tote und Verletzte es geben wird bei so einer Aktion. Die höchste Zahl, die dabei je genannt wurde, sind 40.000. Und Harry Truman sagte dann nach den Atombombenabwürfen, wahrscheinlich wäre damit das Leben von einer halben Million Amerikaner gerettet worden - gelegentlich sagt er auch einer Million - aber das sind vollkommen fiktive Zahlen.
Meurer: Im Gegensatz zu dem, was Sie am Anfang gesagt haben, scheinen ja viele Japaner - so liest man jedenfalls - keinen Anti-Amerikanismus zu empfinden. Woher kommt das?
Coulmas: Das kann man ohne Zynismus als einen Erfolg der amerikanischen Propaganda betrachten. Abgesehen davon ist die Welt heute so organisiert, dass Amerika mittlerweile Japans zweitgrößter Handelspartner ist, lange Zeit der größte Handelspartner war, dass viele Japaner zum Studium nach Amerika gehen, dass Japan unter dem militärischen Schutz Amerikas steht, Japan selbst eine Verfassung hat, die Krieg als Mittel der politischen Konfliktlösung verbietet. Also die Beziehungen zwischen Japan und Amerika sind außerordentlich eng und werden von beiden Seiten recht pflegsam behandelt. Es sind nur immer wieder die störenden Intellektuellen, die darauf hinweisen, da ist eigentlich noch ein Kapitel, was nicht so recht abgeschlossen ist, nicht so recht aufgearbeitet, wie man in Deutschland sagen würde. Denn unsere Lesart dieser Episode ist vollkommen anders als eure. Und das ist ein großer Unterschied in der Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs in Europa und in Ostasien.
Meurer: Was ist der Kern dieses Unterschieds?
Coulmas: Der Kern dieses Unterschieds ist, dass man in Japan die Atombombe hauptsächlich als Chiffre dafür betrachtet, zum Opfer gemacht worden zu sein. Und in Amerika sieht man sie als Schlussapotheose eines gerechten Krieges. Und auf beiden Seiten ist man nicht dazu in der Lage, die Vielschichtigkeit des Ereignisses der Atombombenabwürfe, die auch Herr Fritz betonte, wirklich anzuerkennen.
Meurer: Hat dieses Ereignis auch dazu geführt, dass die japanische Gesellschaft sich schwer tut, sich die eigenen Kriegsverbrechen einzugestehen, die Aggressionskriege in der Zeit vor 1945?
Coulmas: Das ist ganz sicher der Fall. Hiroshima und Nagasaki ist so eindeutig insofern, als dass dort unschuldige Menschen auf dem Altar einer politischen Agenda geopfert wurden. Und darüber kann es gar keinen Zweifel geben. Und in der Nachkriegszeit, nach ziemlich langer Zeit allerdings, hat man das sozusagen zur nationalen Geschichte gemacht, was ganz falsch ist, denn die Opfer sind ganz lokal von diesen beiden Städten. Auf der anderen Seite stehen eben die Amerikaner und sagen, unser Krieg war gerecht und sind nicht dazu in der Lage einzugestehen, dass es innerhalb dieses gerechten Krieges eine Handlung gab, die ein schweres Verbrechen war.
Meurer: 60 Jahre nach Hiroshima. Das war der Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio, Florian Coulmas, bei uns im Deutschlandfunk. Herzlichen Dank.
Florian Coulmas: Guten Morgen, Herr Meurer.
Meurer: Sie haben ja selbst, wenn ich das richtig sehe, auch in Hiroshima gewohnt. Was bedeutet für die Einwohner dieser Stadt und für die Japaner heute noch das Ereignis vor 60 Jahren?
Coulmas: Diese Frage kann ich vielleicht am besten damit beantworten, dass gerade in diesen Tagen in der zweitgrößten japanischen Tageszeitung, "Asahi Shinbun", eine Umfrage veröffentlicht wurde unter den heute noch überlebenden Opfern von Hiroshima und Nagasaki, das sind nach 60 Jahren immerhin noch 40.000 Leute. Und sie wurden unter anderem gefragt, wie sie über die amerikanischen Lesart - über den Abwurf der Atombomben, nämlich dass damit mehr Leben gerettet wurden, als vernichtet wurden - dächten. Und die überwältigende Mehrheit dieser Menschen sagt erwartungsgemäß, dass sie das in große Wut und großen Kummer versetzt. Man kann daran vielleicht ablesen, dass die Sichtweise auf dieses geschichtlich so ungeheuer wichtige Ereignis in Japan und in Amerika heute so weit voneinander entfernt ist, wie seinerzeit.
Meurer: Beantworten Sie diese Frage denn genauso wie die Opfer?
Coulmas: Ich glaube, dass diese Lesart ausschließlich Resultat von Propaganda ist. Man muss sehen, dass sieben Jahre nach dem Abwurf der Atombomben darüber praktisch nichts veröffentlicht wurde, jedenfalls nichts, was die amerikanische Zensur durchließ. Sieben Jahre sind eine recht lange Zeit, um Schulbücher zu schreiben, die von Generation zu Generation weitertransportiert werden. Und in Amerika wird es auch heute noch so gesehen.
Meurer: Die Entscheidung über die Kapitulation ist ja damals durch den japanischen Kaiser gefällt worden, hätte der denn einer Kapitulation zugestimmt ohne Hiroshima und Nagasaki?
Coulmas: Ohne Zweifel. Seit der deutschen Kapitulation war die militärische Lage Japans vollkommen hoffnungslos. Das wussten alle. Auch innerhalb der amerikanischen militärischen Führung haben sich sehr einflussreiche Männer - zum Beispiel der Nachfolger von Truman, General Eisenhower, gegen den Einsatz der Bombe ausgesprochen, weil sie überzeugt waren, dass sie militärisch vollkommen überflüssig war. Wenn es also keine militärische Notwendigkeit gab, muss man sich fragen, was waren die Notwendigkeiten. Die waren politischer Natur. Darüber sind sich auch Historiker heute im Wesentlichen einig. Aber die Geschichte wird nach wie vor hauptsächlich so geschrieben und weitergegeben, wie sie in der unmittelbaren Nachkriegszeit entstanden ist.
Meurer: Und glauben Sie, dass Harry Truman damals das Leben von US-Soldaten schützen wollte?
Coulmas: Das ist eine Rede, die nach dem Abwurf entstand. Es gab zwei Invasionspläne, einen für November 1945 und einen für März 1946. Und wie es bei solchen Plänen üblich ist, machen die Militärs dann auch Schätzungen, wie viele Gefallene, wie viele Tote und Verletzte es geben wird bei so einer Aktion. Die höchste Zahl, die dabei je genannt wurde, sind 40.000. Und Harry Truman sagte dann nach den Atombombenabwürfen, wahrscheinlich wäre damit das Leben von einer halben Million Amerikaner gerettet worden - gelegentlich sagt er auch einer Million - aber das sind vollkommen fiktive Zahlen.
Meurer: Im Gegensatz zu dem, was Sie am Anfang gesagt haben, scheinen ja viele Japaner - so liest man jedenfalls - keinen Anti-Amerikanismus zu empfinden. Woher kommt das?
Coulmas: Das kann man ohne Zynismus als einen Erfolg der amerikanischen Propaganda betrachten. Abgesehen davon ist die Welt heute so organisiert, dass Amerika mittlerweile Japans zweitgrößter Handelspartner ist, lange Zeit der größte Handelspartner war, dass viele Japaner zum Studium nach Amerika gehen, dass Japan unter dem militärischen Schutz Amerikas steht, Japan selbst eine Verfassung hat, die Krieg als Mittel der politischen Konfliktlösung verbietet. Also die Beziehungen zwischen Japan und Amerika sind außerordentlich eng und werden von beiden Seiten recht pflegsam behandelt. Es sind nur immer wieder die störenden Intellektuellen, die darauf hinweisen, da ist eigentlich noch ein Kapitel, was nicht so recht abgeschlossen ist, nicht so recht aufgearbeitet, wie man in Deutschland sagen würde. Denn unsere Lesart dieser Episode ist vollkommen anders als eure. Und das ist ein großer Unterschied in der Wahrnehmung des Zweiten Weltkriegs in Europa und in Ostasien.
Meurer: Was ist der Kern dieses Unterschieds?
Coulmas: Der Kern dieses Unterschieds ist, dass man in Japan die Atombombe hauptsächlich als Chiffre dafür betrachtet, zum Opfer gemacht worden zu sein. Und in Amerika sieht man sie als Schlussapotheose eines gerechten Krieges. Und auf beiden Seiten ist man nicht dazu in der Lage, die Vielschichtigkeit des Ereignisses der Atombombenabwürfe, die auch Herr Fritz betonte, wirklich anzuerkennen.
Meurer: Hat dieses Ereignis auch dazu geführt, dass die japanische Gesellschaft sich schwer tut, sich die eigenen Kriegsverbrechen einzugestehen, die Aggressionskriege in der Zeit vor 1945?
Coulmas: Das ist ganz sicher der Fall. Hiroshima und Nagasaki ist so eindeutig insofern, als dass dort unschuldige Menschen auf dem Altar einer politischen Agenda geopfert wurden. Und darüber kann es gar keinen Zweifel geben. Und in der Nachkriegszeit, nach ziemlich langer Zeit allerdings, hat man das sozusagen zur nationalen Geschichte gemacht, was ganz falsch ist, denn die Opfer sind ganz lokal von diesen beiden Städten. Auf der anderen Seite stehen eben die Amerikaner und sagen, unser Krieg war gerecht und sind nicht dazu in der Lage einzugestehen, dass es innerhalb dieses gerechten Krieges eine Handlung gab, die ein schweres Verbrechen war.
Meurer: 60 Jahre nach Hiroshima. Das war der Direktor des Deutschen Instituts für Japanstudien in Tokio, Florian Coulmas, bei uns im Deutschlandfunk. Herzlichen Dank.