Riedel: Herr Juncker, lassen Sie uns dieses Interview der Woche nicht mit dem allgemeinen Wehklagen über die diversen Krisen der EU beginnen, sondern mit dem Blick nach vorn.
Juncker: Lieber nicht, lieber nicht.
Riedel: Eben. Ich möchte gerne von Ihnen wissen, wie muss die Struktur, wie muss die Arbeitsweise der EU nach Ihren Vorstellungen in sagen wir zehn, 15 Jahren aussehen, damit sie wieder die Handlungsfähigkeit bekommt, die die Bürger von ihr erwarten dürfen?
Juncker: Meine Vorstellungen sind Programm. Ich habe mein Mandat als Kommissionspräsident begonnen, indem ich gesagt habe, dass wir groß in großen Dingen und zurückhaltend, bescheiden in kleineren Dingen sein sollten. Das haben wir gemacht. Und ich hätte gerne, dass auch meine Nachfolger sich von diesem Motto inspiriert fühlen. Ich glaube, eines der Hauptprobleme Europas ist, was die Rezeption bei den Bürgern anbelangt, dass wir uns um zu Vieles kümmern, was eigentlich ins tägliche Leben der Menschen eingreifen kann.
Riedel: Nun wird das nicht ausreichen für die Römische Erklärung, die man machen will – beim Gipfel in Rom Ende März, anlässlich 60 Jahre Römische Verträge, also sozusagen die Geburtsstunde der EU. Man wird schon auch an Strukturen gehen müssen. Man wird reformieren müssen. Und es gibt ja diverse Vorschläge, die da schon auf dem Tisch sind. Was sind Ihre Vorstellungen, damit Sie – oder Ihre Nachfolger – besser arbeiten können?
Juncker: Ich glaube nicht, dass Rom ein Datum sein wird, wo wir über weitreichende strukturelle Reformen reden werden.
Riedel: Warum nicht?
"Wir sind nicht stolz genug auf Europa"
Juncker: Rom ist eigentlich ein Datum, das gedacht ist, um zu feiern. Und feiern heißt nicht naiv werden, aber feiern heißt auch, sich dessen zu besinnen, was wir in den vergangenen Jahrzehnten geschafft und geschaffen haben. Wir sind ja eigentlich nie stolz genug auf Europa. Wenn ich reise – ich reise nicht viel –, dann fällt mir auf – in Asien, in Afrika, sonstwo –, dass die Europäische Union sehr viel Zuspruch erlebt, größeren Zuspruch eigentlich, als die Europäische Union in Europa selbst erlebt. Weil Menschen sonstwo – eigentlich aller Orten, mit Ausnahme Europas – doch sehen, dass wir aus einem Kontinent kriegerischer Auseinandersetzungen und feindlicher Gesinnungen einen Kontinent gemacht haben, wo Friede und Eintracht einen Dauerplatz in der Geschichte erreicht haben. Und dessen sollten wir uns besinnen.
Riedel: Aber, das würde …
Juncker: Ich schließe aber nicht aus, dass wir uns auch mit Zukunftsträchtigem beschäftigen, weil es reicht ja nicht, dass man nur auf Geleistetes hinweist.
Riedel: Eben.
Juncker: Man muss auch auf zu Erbringendes hinweisen.
Riedel: Und da würde ich gerne wissen, wo Ihre Vorstellungen sind. Es sind ja diverse auf dem Tisch. Sie kommen im Moment nicht unbedingt aus den Gründungsstaaten, weil Niederlande, Frankreich, Deutschland bekanntlich wichtige Wahlen vor sich haben, also hält man sich da ein Stück zurück. Aber es kommt aus Slowenien was, es wird im EU-Parlament in der nächsten Woche Einiges diskutiert. Da geht es um ganz handfeste, grundlegende Veränderungen der Struktur der EU. Was stellen Sie sich vor?
Juncker: Wenn ich darüber nachdenke, wie ich mir das Langzeitprojekt Europas vorstelle, …
Riedel: Ja, ich sage ja zehn, 15, sagen wir 25 Jahre.
Juncker: ... dann bin ich in meinen Aussagen und in meinen Prognosen zurückhaltend. Die Kommission könnte jetzt sehr ambitiöse Pläne für die nächsten Jahrzehnte vorschlagen – das werden wir auch irgendwann tun –, aber in dieser Gemengelage, wie sie sich jetzt präsentiert, ist es eigentlich angebracht, Realistisches vorzutragen.
Riedel: Und die Gemengelage sind diese Wahlen, europafeindliche Kräfte?
Juncker: Da möchte ich Ihnen sehr energisch widersprechen. Mich beeindruckt immer wieder, dass in Europa Wahlen eigentlich als Krisenzeiten empfunden werden. Wieso sagt man: Wir haben Wahlen und deshalb dürfen wir jetzt nicht nachdenken und nicht handeln?
Riedel: Nachdenken schon. Aber wir wissen, dass bei diesen Wahlen die Europafeinde stark werden, vielleicht sogar sehr stark, und deshalb traut man sich vielleicht nicht, an Europas Gerüst zu arbeiten.
"Man darf den Populisten nicht nachlaufen"
Juncker: Ich bin der Meinung, dass man in Wahlzeiten, auch drei Tage vor der Wahl, beweisen muss, dass man regieren kann und dass man auch in vernünftigem Maße opponieren kann. Debatten zu vermeiden, nur weil Wahlen ins Haus stehen, ist ja ein sehr undemokratischer Reflex. Und die Europafeinde oder die Europopulisten frei schalten und walten zu lassen, ist ja vor allem vor Wahlen nicht angesagt. Man muss sich diesen Europavereinfachern resolut in den Weg stellen und nicht den Populisten nachlaufen. Wer den Populisten nachläuft, wird irgendwann selbst zum Populisten, ohne dass das den Populisten Stimmeinbußen einbringt. Die Wähler sind ja eine spezielle Klientel – im noblen Sinne des Wortes –, man darf ihnen nicht nachlaufen. Wer den Wählern nur nachläuft, sieht sie nur von hinten. Man muss mit den Menschen sprechen, und das tut man am besten, wenn man ihnen in die Augen schaut.
Riedel: Was im Parlament in Straßburg nächste Woche diskutiert wird, was auch in Teilen in der "Ljubljana-Initiative" Sloweniens vorkommt – die haben aber einen ganz kompletten, 70-seitigen Entwurf für eine Verfassung Europas vorgelegt –, was allen diesen Vorschlägen gemein ist, ist die Erkenntnis, dass die europäische Ebene Zuständigkeiten hat, komplexe Verantwortungen hat, aber gleichzeitig letztendlich von der Entscheidungsstruktur her, mit den drei Institutionen und deren Zusammenspiel, Europa das nicht leisten kann, was es leisten muss.
Juncker: Ja, das ist deshalb so, weil Europa institutionell verfasst ist, wie es eben verfasst ist. Die Vorstellung, die auch Viele in der Kommission haben und im Dienste der Kommission und auch in der veröffentlichten, öffentlichen Meinung, dass man Europa tiefer integrieren könnte, gegen die Mitgliedstaaten, ist eine völlig realitätsferne Auffassung. Ich war immer der Auffassung, auch als früherer Premierminister, dass man beides braucht: Man braucht die europäischen Institutionen, aber man braucht auch das Mitmachen, das Mitwirken, das Mitdenken der Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Riedel: Zum Beispiel in einem Zweikammersystem. Denn das ist all diesen Vorschlägen gemeinsam, dass sie sagen, wir müssen das EU-Parlament weiterentwickeln. Die EU-Länder wären eine zweite Kammer – analog ein bisschen zum Bundesrat in Deutschland – und dann wird da reguläre Gesetzgebung gemacht, wie in einem Nationalstaat.
Juncker: Ich kann mich mit dem Gedanken sehr gut anfreunden. Ob aber die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich mit dem Gedanken anfreunden könnten, dass ihre gesetzgeberische Kraft jetzt eingebunden wird in ein zweigefaltetes Kammersystem? Da habe ich die größten Zweifel, ob da alle mitmachen würden. Ich wünschte mir das, weil Europa braucht ein Mehr an parlamentarischem System, und dieses parlamentarische System muss beide Dimensionen begreifen: die direkt gewählten Mitglieder des Europäischen Parlamentes und dann auch die Vertreter der Mitgliedstaaten. Aber ich glaube, es gibt keinen Grundkonsens unter den Mitgliedstaaten darüber, dass sie sich jetzt in erster oder zweiter Kammer-Form zusammenschließen sollten. Da habe ich großen Zweifel, ob dem so wäre, wenn das Thema wirklich zu einem richtigen vertragsändernden Thema emporgehoben würde.
Riedel: Teil der Vorschläge ist auch, dass die EU-Kommission gestärkt würde – also, Ihr eigener Laden ganz konkret gestärkt würde, gleichzeitig aber Ihre Zuständigkeiten eingeschränkt würden. Und sie bekäme aber auch mehr Rechte, sollte sie bekommen, wenn es um die Umsetzung, die Implementierung dessen geht, was verabredet ist. Stichwort "Flüchtlingsverteilung" - da haben wir immer wieder gesehen, dass ihr letztendlich vielleicht mehr Durchsetzungskraft - um den Preis, für weniger Dinge zuständig zu sein - ganz gut bekäme.
Juncker: Also, ich gehöre nicht zu denen, die der Meinung sind, dass der Kommission zunehmende Entscheidungsbefugnisse zugeordnet werden würden. Die Kommission hat das Initiativmonopol, und kein europäisches Gesetz kann sich artikulieren, ohne dass es einen Vorschlag der Kommission gibt. Das ist ja schon ein erheblicher Unterschied zwischen nationalen parlamentarischen Systemen und dem europäischen System. Weil in unseren nationalen Systemen haben Parlamente auch das Initiativbefugnis.
Riedel: Will das Europäische Parlament ja auch haben. Auch das werden sie diskutieren mit Ihnen.
Juncker: Ja, da bin ich im Übrigen auch nicht dagegen, dass das Europäische Parlament in Maßen diese Befugnis erhalten wird. Aber ich bin nicht der Meinung, dass man der Kommission zusätzliche Kompetenzen zuordnen sollte. Ich bin eher der Auffassung, dass man immer wieder darüber nachdenken muss, welche Befugnisse eigentlich an die Nationalstaaten, an die Regionen, an die Kommunen zurückverwiesen werden können. Weil in Teilen hat die Europäische Kommission zu viele Aufgaben und in Teilen ist das so, dass man die Europäische Kommission per Vertrag oder per Gesetz zwingt, Entscheidungen zu treffen, wenn die Mitgliedstaaten dazu nicht im Stande sind. Das nennt man das Komitologieverfahren, das versteht kein Mensch.
Die institutionelle Feigheit der Regierungschefs
Riedel: Das heißt: Die schieben den schwarzen Peter nach Brüssel, wenn sie sich nicht einigen können und sagen: 'Macht ihr mal' und dann schimpfen sie.
Juncker: Ja, genau. Also, wir haben bei vielen Dingen erlebt in meinen Amtsjahren. Und das stört mich, wenn es keine Mehrheit im Rat gibt, dass man sagt: 'Kommission, entscheide du', und dann tut die Kommission das – meistens aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse, die wir erlangt haben – und dann kritisiert man in den Nationalstaaten die Kommission. So kann das nicht weitergehen, dieses ewige Theater, das wir erleben, dass man in Brüssel entscheidet und dass man zu Hause das kritisiert, was man selbst mitentschieden hat. Diesem Spektakel muss ein Ende bereitet werden. Ich finde es eigentlich institutionelle Feigheit, dass viele Regierungschefs und viele Minister in Brüssel entscheiden und zu Hause das kritisieren, was sie mitentschieden haben. Das führt dazu, dass die Bürger Europas eigentlich nicht mehr genau sehen, wer was entscheidet, weil die verschiedenen Entscheidungsebenen sich gegenseitig in Schuldzuweisungen ergehen.
Riedel: Wenn Sie sagen, Sie halten es für unrealistisch, dass es so was wie einen Verfassungsprozess in absehbarer Zeit geben wird, grundlegende Veränderungen an der Architektur, dann greift aber doch etwas, was sich zunehmend abzuzeichnen scheint, was auch die Bundeskanzlerin auf Malta beim Gipfel angesprochen hat, nämlich ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Ich weiß, das gibt es schon, denn nicht alle machen beim Euro mit, nicht alle sind im Schengen-Raum und Ähnliches. Aber ist das ein Konzept, wenn sich das gesamte System der EU nicht an Haupt und Gliedern so verändern kann, dass man wirklich mehrheitlich Dinge beschließt und die werden auch gemacht? Dass man sagt, es wäre ein Europa der Projekte, die Länder machen jenes zusammen, die Länder machen jenes? Der Charme wäre, man brauchte dafür keinen Vertrag zu ändern, denn der Lissabon-Vertrag, Artikel 20, gibt das her.
Juncker: Also, es ist Vieles möglich unterhalb der Ebene der Vertragsänderung. Die bestehenden Verträge erlauben eigentlich flexibles Vorgehen. Ich bin also nicht jemand, der generell und prinzipiell dagegen wäre, dies zu tun. Ich hätte nur gerne, dass man diese Auffassungen, die das Europa mehrerer Geschwindigkeiten bezeichnet, etwas präzisiert. In welchen Bereichen wollen wir denn alle zusammen, die 27, – weil den 28. verlieren wir in den nächsten Jahren – gemeinsam agieren? Und wo ist es zulässig, ohne dass dies auf Kosten derer passiert, die nicht mitmachen wollen, wo wir dann differenzierter vorgehen sollten?
Riedel: Wo, würden Sie sagen?
Juncker: Ich glaube, in Fragen der europäischen Verteidigung wäre das beispielsweise angebracht.
Riedel: Das zeichnet sich ja auch ab.
Verteidigungspolitik der zwei Geschwindigkeiten
Juncker: Ich spüre, dass das auch so kommen wird. Die Kommission hat Vorschläge über das Europa der Verteidigung gemacht, obwohl dies nicht so sehr die Sache der Kommission, sondern die der Mitgliedstaaten ist. Und da müssen wir uns zusammenraufen – weil wir machen uns lächerlich, jeden Tag. Die Amerikaner geben 600 Milliarden Euro in Sachen Verteidigung aus, die Europäer 250 bis 300 Milliarden,– die Hälfte also –, aber wir sind nur zu 15 Prozent so effizient wie unsere amerikanischen Partner. Wenn wir synergetisch vorgehen würden und ein gemeinsames Beschaffungswesen unserer Streitkräfte herbeiführen würden, wären wir wesentlich effizienter und müssten uns auch nicht dauernd von unseren amerikanischen Freunden beschimpfen lassen, dass wir nicht genug tun. Wir können mit bestehenden Haushaltsmitteln wesentlich mehr tun, wir müssen aber allerdings auch die Haushaltsmittel sich nach oben bewegen lassen. Aber wer daran nicht mit teilhaben will, muss das ja nicht, aber die, die das wollen, sollen das tun können. Und da ist differenziertes Europa angesagt.
Riedel: Sie hören das Interview der Woche vom Deutschlandfunk, heute mit EU-Kommissionspräsident, Jean-Claude Juncker.
Ich möchte noch einen letzten Reformvorschlag – aus gegebenem Anlass sozusagen – anbringen, bevor wir zur Außenpolitik gerne noch mal kommen können. Es gibt ja auch Vorschläge, dass es einen EU-Finanzminister geben sollte oder zumindest einen Euro-Finanzminister. Es gibt Vorstellungen von einem eigenen Haushalt für die Euro-Gruppe. Wäre das nicht tatsächlich, einen Moment mal dahingestellt, ob man dafür Verträge ändern müsste, ausgesprochen sinnvoll? Wir sehen aktuell, dass Griechenland nicht wirklich in trockenen Tüchern ist. Müssen wir da nicht die Strukturen so ändern, dass ein Griechenland nicht mehr möglich ist?
Juncker: Ich war Euro-Gruppen-Chef, acht oder neun Jahre lang, also so etwas wie ein Euro-Finanzminister, ohne es zu sein. Und ich habe das auch nie sein wollen, weil auch in der Euro-Gruppe, also in den 19 Staaten des Euro-Raumes, gilt die Regel, dass man versuchen muss, alle miteinander in dieselbe Richtung sich bewegen zu lassen. Ich bin überhaupt nicht gegen das Konzept eines Euro-Finanzministers. Wenn man sich auf den Weg macht, einem Mann oder einer Frau in Europa diese globale Kompetenz in Sachen Wirtschaft und Finanzen in den Handlungskorb zu legen, dann muss man genau wissen, was macht der denn. Ich habe manchmal den Eindruck, viele reden von einem Euro-Finanzminister, aber niemand beschäftigt sich mit der Frage, was der eigentlich tun soll und was der tun darf. Soll das eine Gestalt sein, die eingreifen kann in die nationale Haushaltsgestaltung? Ist das jemand, der nationale Parlamente, die einen Haushalt sich anschicken zu verabschieden oder verabschiedet haben, korrigieren kann?
Riedel: Muss das nicht vor dem Griechenland-Hintergrund mit Ja beantwortet werden?
"Die Griechen haben sehr viele Reformen vorgenommen"
Juncker: Nein, nein, nein, nein. Also, vor allem in deutschen Landen redet man über Griechenland, als ob man die griechischen Verhältnisse intimst kennte. Man kennt sie nicht. Weil die Griechen haben – bei aller Verdrießlichkeit über die Lage, doch sehr viele Struktur- und sonstige Reformen vorgenommen, mehr als die orthodoxen Nordeuropäer. Und man hat vor allem in den Jahren '14 und '15 auch in der veröffentlichten deutschen Meinung sich eine Tonlage in den Mund gelegt, die den griechischen Anstrengungen in keinerlei Weise gerecht wird. Ich bin auch der Meinung, dass Griechenland nicht am Ende seiner Mühen angekommen ist, aber so zu tun, als ob in Griechenland nichts passiert wäre, ist falsch.
Riedel: Aber Fakt ist: Das dritte Hilfspaket, was zwingend kommen muss in diesem Sommer, steht auf tönernen Füßen.
Juncker: Es steht auf wackeligen Füßen in dem Sinne, dass wir nicht richtig sehen, wie der Internationale Währungsfonds dieses Problem bewerkstelligen könnte. Kein Land hat größere Wettbewerbsfortschritte erreicht als Griechenland. Nicht in Griechenland wurde das Rentenalter gesenkt. Das war in einem anderen Land.
Riedel: Neben den mehr oder weniger weiterköchelnden Krisen der vergangenen Jahre – Griechenland hatten wir gerade, Flüchtlingskrise, Terrorismus, erstarkende anti-europäische Kräfte haben wir schon erwähnt – hat die EU zwei neue Schocks, sozusagen, zu verdauen: Brexit und Donald Trump im Weißen Haus, der nicht viel von der EU und von der Kooperation mit ihr zu halten scheint. Frei nach der Devise, Herr Juncker, "nichts schweißt mehr zusammen als jemand, über den man sich gemeinsam ärgern kann" - wird die EU27 eines Tages vielleicht sogar noch Dankesbriefe nach London und nach Washington zu schicken haben?
Juncker: Also, nicht alles, was im Privatbereich stimmig ist, ist auch in der Politik stimmig. Wir wissen aus unseren Familien- und Nachbarschaftsgeschichten, dass es manchmal Sinn macht, sich über jemanden zu ärgern, gemeinsam. Ich glaube nicht, dass das in Europa so hundertprozentig funktioniert wie privat. Brexit: Die Tatsache, dass ein Land ausscheidet, vor allem ein großes, wichtiges, einflussreiches Land ausscheidet, bleibt in meinen Augen eine kontinentale Tragödie.
Riedel: Zwingt aber zum Zusammenrücken der Übrigen.
"Die Briten werden die EU-Staaten auseinander dividieren"
Juncker: Ja. Und jetzt sagen alle sowohl in Sachen Trump, als auch in Sachen Brexit: 'Jetzt kommt die große Stunde Europas. Jetzt geht es darum, geschlossene Ränge aufmarschieren zu lassen'. Wird das denn so sein? Ich wünschte mir, dass dem so wäre, aber ob das so kommen wird? Da habe ich einige Zweifel, weil die Briten, die werden es schaffen, ohne große Anstrengung die anderen 27 Mitgliedsstaaten auseinanderzudividieren. Die anderen 27 wissen das noch nicht, aber die Briten wissen schon sehr genau, wie sie das in Angriff nehmen können: Man verspricht dem Land A dieses, und man verspricht dem Land B jenes, und man verspricht dem Land C etwas Anderes, und in der Summe entsteht daraus keine europäische Front. Ich hatte mir vorgestellt am Anfang meines Mandats, dass ich konstruktiv arbeiten könnte, die Dinge besser in den Griff zu kriegen, sodass die Menschen wieder Vertrauen fassen in Europa, das sie ja erkennbar verloren haben. Und jetzt bin ich damit beschäftigt – mehrere Stunden am Tag – mich mit der Planung des Ausscheidens eines Mitgliedslandes zu beschäftigen. Das ist keine Zukunftsaufgabe.
Riedel: Aber es zwingt die anderen, sich darauf zu verständigen: Was wollen wir eigentlich, bevor wir anschließend mit den Briten verhandeln können, was mit ihnen zusammen weiterhin möglich ist.
Juncker: Also, wir haben uns ja im September in Bratislava einen Fahrplan gegeben, der Einiges aufzeigt, was gemacht werden muss. Dieser Fahrplan beruft sich im Wesentlichen auf die Rede zur Lage der Europäischen Union, die ich im September letzten Jahres im Europäischen Parlament vorgetragen habe. Dass wir uns konzentrieren auf die Vollendung des Binnenmarktes, der digitale Binnenmarkt, die Europäische Energieunion, Europäische Verteidigungsunion, in Teilen Europäische ...- ich sage jetzt nicht, "Europäische Sozialunion", weil sonst kriegen alle deutschen Ordnungspolitiker sofort wieder Schüttelfrost, aber dass wir uns verständigen auf einen Grundpfeiler an sozialen Rechten, die überall in der Europäischen Union zu respektieren sind. Das sind also große Projekte, über die schon Einvernehmen besteht. Nicht immer inhaltlich und in allen Details, aber prinzipiell besteht der Wille der 27, in diesen Bereichen von der Stelle zu kommen und die europäische Zusammenarbeit zu verstärken. Ihre Frage war ja: Ist jetzt der Moment gekommen, wo die Europäische Union der 27 Einheit, Kohesion, Kohärenz zeigen muss? Ja. Ich sage Ja, sowohl mit Bezug auf Brexit als auch mit Bezug auf Trump und in Bezug auf Trump besonders in der Außenhandelspolitik der Europäischen Union. Ob dem aber so sein wird, da habe ich einige begründete Zweifel.
Riedel: Jetzt kommt ja nächstes Wochenende der US-Vizepräsident Pence nach Brüssel.
Juncker: Ja.
Riedel: Sie werden ihn treffen, nehme ich an.
Juncker: Ja.
Riedel: Was ist Ihnen von den diversen Themen, die es mit ihm zu besprechen geben wird, das Wichtigste?
Juncker: Mich interessieren vor allem die handelspolitischen Absichten der neuen amerikanischen Administration. Weil ich stelle fest, dass es doch so etwas wie eine Abkehr von bisherigen Verhaltensweisen gibt. Und das eröffnet eigentlich der Europäischen Union große Chancen. Weil, wenn die Amerikaner sich aus internationalen, globalen Handelsverflechtungen zurückziehen, dann entsteht ein offener Raum. Ich empfange hier Premierminister, Staatspräsidenten aus aller Herren Länder, und ich sehe den Wunsch Vieler, außerhalb Europas und jenseits der Vereinigten Staaten, die jetzt gerne ihre Beziehungen zu der Europäischen Union neu sortieren möchten in dem Sinne, dass wir zu weitreichenden und ambitiöseren Handelsverträgen kommen. Diese Chance sollten wir nutzen. Und wir sollten es den Briten eigentlich nicht erlauben, jetzt schon so zu tun, als ob sie eigenmächtig Handelsverträge mit anderen abschließen könnten, weil das dürfen sie nicht. So lange Großbritannien Mitglied der Europäischen Union ist, liegt die Außenhandelspolitik im Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union - und ergo der Kommission.
Kritik am Kandidaten der USA als Botschafter bei der EU
Riedel: Werden Sie dem US-Vizepräsidenten auch mit auf den Weg zurück nach Washington geben, dass sich doch die US-Regierung überlegen sollte, einen Botschafter bei der EU vorzuschlagen zur Akkreditierung hier, der nicht unbedingt davon gesprochen hat, dass der Euro sich im Niedergang befindet, der nicht unbedingt sagt, dass es auch ganz gut ist, wenn die EU möglicherweise keinen Bestand hat oder zumindest keine starke Union ist? Ted Malloch ist im Gespräch für diesen Posten, er ist nicht nominiert. Aber werden Sie dem Vizepräsidenten da schon ein paar Wünsche mit auf den Weg geben?
Juncker: Das gehört sich nicht, dass vermeintliche zukünftige amerikanische Botschafter, die bei der Europäischen Kommission und bei der Europäischen Union akkreditiert werden, sich über Verhältnisse äußern, von denen klar erkennbar ist, dass sie sie nicht kennen. Und manchmal ist es gut für zukünftige Diplomaten, dass sie, bevor sie reden, sich mit dem Thema, über das sie reden, intimer bekannt machen.
Riedel: Ist das schon mal vorgekommen, dass eine Akkreditierung für ein Drittland bei der EU abgelehnt wurde?
Juncker: Ich habe keine Kenntnis davon, dass das vorgekommen wäre. Aber ich schließe das für die allernächste Zukunft nicht aus.
Riedel: Als Sie angetreten sind, haben Sie von der "EU-Kommission der letzten Chance" gesprochen. Angesichts der ja schon damals, 2014, deutlich spürbaren und wachsenden, sagen wir mal, Skepsis gegenüber der EU. Würden Sie das heute noch mal so sagen? Sind Sie die "Kommission der letzten Chance"?
"Ich werde nicht mehr antreten"
Juncker: Also, ich habe in einem autobiographisch schwachen Moment die Kommission als die "Kommission der letzten Chance" begriffen. Ich wollte damit eigentlich sagen, dass Europa in den nächsten Jahren die letzte Chance hat. Ich habe Wahlkampf geführt in vielen europäischen Ländern und habe mich dann auch wieder neu in Europa verliebt, weil ich dann diesen Farbenreichtum der Europäischen Union wiederentdeckt habe, die Stimmungen, die nationalen Traditionen, das regionale Miteinander und Durcheinander. Ein schöner Wahlkampf war das. Es wird aber keinen zweiten in der Form geben, weil ich nicht noch einmal antreten werde. Und ich habe damals gemerkt, dass es an dem Grundeinverständnis fehlt, über die Dinge, die in Europa zu leisten sind. Einige Länder hätten gerne mehr Europa. Andere finden, dass wir schon zu viel Europa haben. Es gibt jene - zu denen gehöre ich - die hätten gerne ein sozialeres Europa, weil die soziale Dimension des Binnenmarktes und der Währungsunion untermöbliert sind. Andere finden, dass die Europäische Union nie eine Sozialunion werden darf, und die werden nervös bei dem Gedanken, dass dem so kommen könnte. Ich denke, wir bewegen uns in vielen Quartieren unserer öffentlichen Meinungen, auch der parlamentarischen Meinungen, in unterschiedliche Richtungen, die nicht unbedingt miteinander vereinbar sind - also, zum Beispiel Ungarn oder Polen. Wollen die Ungarn und die Polen genau das Gleiche wie die Deutschen und wie die Franzosen? Da habe ich erhebliche Zweifel. Also muss man irgendwo wieder den Grundkonsens herstellen. Das ist eigentlich eine Aufgabe für die nächsten zwei, drei Jahre: Während wir mit den Briten verhandeln, müssen wir uns, wenn wir Endzeitstimmung vermeiden möchten, über die endgültigen Vorstellungen des Kontinentes über sich selbst verständigen.
Riedel: Herr Juncker, herzlichen Dank für das Gespräch.
Juncker: Ich bedanke mich.