So geht das ständig, und das Schöne und Heikle an der Sache ist, dass man es mit Lust liest. Bei der Ogawa geht es nicht um Liebe, sondern um das kaum Fassbare, das der eine Geilheit, der andere Verwirrung und der dritte Entrückung nennen mag. Ihre Texte sind so erotisch, ja, nahezu pornographisch, weil sie die Manie hat, den menschlichen Körper unter die Lupe zu nehmen, sie isoliert seine einzelnen Teile, und schon immer wirkte das Fragment, der Ausschnitt eines pulsierenden Körpers aufregender - und verbotener - als die Totale. Der Körperteil wird zum Fetisch, die Beziehungen haben eine starke sadistisch-masochistische Seite. Es ist nur konsequent, dass der Beischlaf selbst zur Nebensache wird, hier ist irgendwie alles Vorspiel, ewige Erregung.
In ihrem neuen Buch befinden wir uns in einem Hotel, das einst der Sitz einer Fürstenfamilie gewesen war. Darin findet eine Gesprächsrunde mit Gehörkranken statt, darunter die Ich-Erzählerin und ein junger Mann mit blonden Haaren, ein Eurasier, im Buch nur Y genannt. Als eine der Teilnehmerinnen zu sprechen anfängt, fällt der Erzählerin etwas auf.
Da merkte ich, dass Y Stenograph war. Sein Kugelschreiber begann sich exakt in dem Moment über den Schreibblock zu bewegen, als sie zu sprechen anfing. Die beiden Aktionen - das Ansetzen des Kugelschreibers und das Ertönen ihrer etwas nasalen, dünnen Stimme - setzten mit derart perfekter Synchronizität ein, dass es an Zauberei grenzte. Dieser Augenblick hinterließ bei mir den Eindruck einer weißen Taube, die aus einem weißen Tuch hervorgezaubert wird.
Mit solch erstaunlichen Bildern versieht Yoko Ogawa ihre scheinbar so kunstlosen Texte. Sie nannte einmal Haruki Murakami als ihr Vorbild, weil er eine Welt beschreibe, die nichts Besonderes sei, und in der es trotzdem immer etwas gebe, worüber es sich lohne zu schreiben. Auch die Gehörlosenkonstellation ist ja ziemlich unspektakulär, aber was und wie sie darüber schreibt, lohnt sich, gelesen zu werden. Sie erweist sich dabei nicht so sehr als Beobachterin (wie man Romanciers gerne bezeichnet), sondern als Lauscherin, die die ungewöhnlichsten Dinge hört. Das hat mit Beethovens Hörrohr zu tun, das die Ich-Erzählerin als 13jährige zusammen mit einem Klassenkameraden in einem Museum entdeckte.
Ich glaube, du könntest damit Töne hören, wie du sie noch nie im Leben gehört hast. In diesem Hörrohr wohnt eine Klangfee. Mit ihrer Hilfe kann man Geräusche hören, die man eigentlich gar nicht hören kann: den satten, feuchten Ton von aufschlagenden Regentropfen oder das Geräusch, mit dem meine Stimme sich in der Luft verflüchtigt.
Aus dieser Szene entsteht dann die Geschichte ihrer ersten Liebe und des Verschwindens des Jungen und am Ende seines mysteriösen Wiederauftauchens, und zwar nicht allein - aber mehr dürfen wir jetzt nicht verraten, doch an Edgar Allan Poe muss man da schon denken. Die Erzählerin sieht Beethovens Hörrohr dann noch einmal wieder, auf einer wundersamen Irrfahrt mit dem Stenographen durch eine verschneite, verwunschene Stadt, wieder so eine Ogawa'sche Reise in eine andere Welt. Dem geheimnisvollen Stenographen Y gibt sie übrigens den Auftrag, ihr Leben zu protokollieren. Das wird zur Grundidee eines großartigen Romans über die Illusion des freien Willens und über Fluch und Segen und die Täuschung der Erinnerung; man fühlt sich fast an Kurosawas "Schloß im Spinnwebwald" erinnert. "Liebe am Papierrand" ist womöglich Yoko Ogawas bislang stärkstes Buch auf deutsch.