Die erste Atombombe explodiert. Die Säule steigt hoch. Der Pilz stülpt seinen Schirm aus. Der Mensch hat die schrecklichsten aller Waffen gezündet, am 15. Juli 1945 auf dem Testgelände von Los Alamos, New Mexico. Doch noch während des Vorspiels wird der Film, den wir auf dem Bühnenvorhang sehen, zurückgedreht, der Pilz schrumpft wieder, denn John Adams Oper „Doctor Atomic“ erzählt nicht vom Ergebnis des Atombombentests, sondern von den Tagen davor, von den Skrupeln der Wissenschaftler, ihren moralischen Einwänden, ihren Diskussionen untereinander, auch mit den Militärs. Die wollen die Waffe auf Teufel komm raus haben und in Japan einsetzen.
„Der Test wird planmäßig unter voller Mitwirkung des Wetters durchgeführt“, verkündet General Leslie Groves den Physikern Oppenheimer, Teller und Wilson. Die sehen sich durchaus in der Verantwortung, da das „Volk der Vereinigten Staaten“, wie es heißt, von den Bombenplänen nichts ahnt. John Adams erkundet den Widerstreit der Argumente, der Gefühle, das Ringen um die richtige Entscheidung. Für ihn sind die Macher der Bombe keine skrupellosen Techniker.
„Dreifaltiger Gott“, lässt Adams den Chefphysiker Robert Oppenheimer singen und ihn ein Geistliches Sonett von John Donne zitieren: „Wirf mich nieder, damit ich mich aufrichte, und gebrauche deine Kraft, brenne und mache mich neu.“ Lyrisch und kraftvoll zugleich gibt der Bariton Armin Kolarczyk den Vater der Atombombe. Überhaupt sind die Hauptrollen bestens besetzt, auch der Chor und auch die beiden Frauen im Hintergrund, Oppenheimers Ehefrau Kitty und ihr indigenes Kindermädchen, gesungen von Dilara Bastar, höhen- und sehr tiefensicher.
Im Süden blüht die Wolkenblume, und jetzt leuchtet der Blitz auf“, singt das Kindermädchen vom Volk der Tewa ihr uraltes Wiegenlied. Ihre mythische Weisheit kennt die möglichen Schrecken der Menschenwelt seit je. Johannes Willig am Dirigentenpult breitet das farbenreiche Spektrum und die rhythmisch vertrackte Partitur sicher und mit symphonischer Spannkraft aus. Willig macht einmal mehr deutlich, wie weit sich John Adams von der Oberflächenästhetik der Minimalmusic eines Philipp Glas entfernt hat und wie intensiv er die musikalische Popart der USA mit den Mitteln der europäischen Tradition samt Avantgarde angereichert hat. Szenisch bedient sich die Karlsruher Aufführung wiederum bei einer Kunst, die zuerst in den USA zum Massenphänomen wurde, dem Comic.
Im ersten Teil der zweiteiligen Oper schauen wir durch einen transparenten Gazevorhang, auf den Zeichnungen von Wüstenlandschaften, Landkarten, Inneneinrichtungen und auch Schriftzüge projiziert werden. Dahinter öffnen sich für die verschiedenen Spielszenen abwechselnd oben, unten, rechts und links, groß oder klein, Fenster, wie die Bilderkästen beim Comic. Es ist, als blättere man ein altes, zerlesenes Heftchen durch. Dieser Kunstgriff rückt die Geschichte weit in die Vergangenheit zurück und zeigt sie als einen Disput aus alter Zeit, der längst entschieden ist: Die Menschen machen eh alles, was möglich ist. Der zweite Teil, die Stunden und Minuten vor dem Countdown, wenn bei Adams die Zeit sich dehnt und bald still zu stehen scheint, wie beim Anhalten den Atems in der Sekunde des Erschreckens, diesen zweiten Teil haben Regisseur Yuval Sharon und sein Team ganz anders gestaltet, wie einen Albtraum, auf einem riesigen rotgerasterten Millimeterpapier. Auf dem bewegen sich die Figuren, irritierten Elektronen gleich. Sie haben ihren Kern, ihr Zentrum verloren. So zwingend und überzeugend wie die erste Hälfte ist das nicht, die intendierte suggestive Wirkung entfaltet sich nur teilweise. Die der Musik aber dennoch, vor allem mit Katharine Tiers hinreißender Kitty Oppenheimer: „Ich höre eure Schreie, ihr wild taumelnden Kinderstimmen, nachtverloren, auf schwarzen Feldern.“