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Joschka Fischer
"Marine Le Pen wäre für Deutschland der Super-GAU"

Deutschland könne Europa nicht alleine führen, sagte der ehemalige Bundesaußenminister Joschka Fischer im Deutschlandfunk. Von daher sei es für die EU und Deutschland existenziell, dass Marine Le Pen, die Frankreich aus der EU führen will, nicht französische Präsidentin werde. Ein anderer Wahlausgang wäre katastrophal.

Joschka Fischer im Gespräch mit Marcus Pindur |
    Ex-Bundesaußenminister Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) sitzt am 12.03.2015 im Rahmen des Literaturfestivals Lit.Cologne in Köln (Nordrhein-Westfalen) auf der Bühne, wo er über sein neues Buch "Scheitert Europa?" spricht.
    Der ehemalige Bundesaußenminister, Joschka Fischer. (dpa)
    Marcus Pindur: Herr Fischer, wir befinden uns gerade zwischen zwei Wahlen, die sehr wichtig sind für Deutschland, die aber nicht in Deutschland stattfinden. In Frankreich wird nächstes Wochenende die Stichwahl stattfinden, der beiden Kandidaten Macron und Le Pen. Was steht da für Deutschland und für Europa auf dem Spiel?
    Joschka Fischer: Ich denke, es wird bei den französischen Wahlen für Deutschland um extrem viel gehen. Weil Frau Le Pen Frankreich aus der EU herausführen möchte, sie möchte Frankreich aus der NATO herausführen, sie möchte den Euro verlassen. Das wäre das Ende der EU, weil Frankreich ist unverzichtbar sowohl für die Gemeinschaftswährung als auch für das gesamte europäische Projekt. Eine Annährung Frankreichs an Putin, Austritt aus der NATO, würde eine große Sicherheitskrise auslösen. Das heißt, Deutschland wäre in einer Situation, nach dem BREXIT, nach der Infragestellung der amerikanischen Sicherheitsgarantie durch den amerikanischen Präsidenten, isoliert wie noch nie, seit der Gründung der Bundesrepublik, 1949, westorientiert, ohne einen Westen, und wir wären in einer extrem schwierigen Situation - von den wirtschaftlichen Folgen ganz zu schweigen. Denn ein Kollaps des Euros hätte massive Folgen für unser Land und für andere Länder auch, ich glaube, für die gesamte Volkswirtschaft. Also, es geht bei diesen Wahlen um sehr viel. Deswegen nenne ich sie auch "Schicksalswahlen".
    Pindur: Was tut Deutschland denn oder wo ist, sagen wir, die Kanzlerin denn gut mit beraten, was sie tut, wenn es schiefgeht, wenn Marine Le Pen die Wahl gewinnt? Was wir nicht genau wissen und wir auch nicht hoffen wollen, aber was durchaus passieren kann, wie wir nach BREXIT, nach Trump und so weiter, gesehen haben.
    Fischer: Man kann es nicht ausschließen, auch wenn ich hoffe, dass es nicht soweit kommt. Denn wenn es soweit käme, wäre das eine grundsätzliche Veränderung mit fatalen Konsequenzen, wirtschaftlicher und sicherheitspolitischer Art - das muss man klar sehen - und würde Deutschland in eine fast unmögliche Position bringen. Also, ich muss Ihnen ehrlich sagen, da kann ich Ihnen keine befriedigende – auch nur in Ansätzen mich selbst befriedigende – Antwort geben. Das wäre eine völlige Umkehrung der Realitäten. Ein Verlust Europas, darunter würde Deutschland extrem leiden, weil wir als Land ... wir sind nicht England, wir leben nicht auf einer Insel, wir haben eine andere Geschichte. Das heißt, zurückgestoßen zu werden in Isolation, in eine Debatte, ob wir eine Ostverschiebung des Landes brauchen - also Annäherung an Russland oder nicht -, schon das wäre eine Katastrophe. Aber all das zusammengenommen - vor allen Dingen auch die wirtschaftlichen Konsequenzen - wären der Super-GAU. Ich kann Ihnen darauf keine befriedigende Antwort geben.
    "EU ist seit langer Zeit blockiert"
    Pindur: Das ist einerseits erschreckend, andererseits verständlich. Nehmen wir mal an, es geht weiter mit der EU und Frankreich bleibt bei Deutschland - so wie Macron das ja will. Es ist immer wieder die Rede davon, dass sich die EU besser aufstellen muss, und dann sind immer wieder neue institutionelle Arrangements im Gespräch. Aber im Prinzip kann das ja nicht die Antwort sein auf das, was wir derzeit erleben?
    Fischer: Die EU ist seit langer Zeit blockiert und definitiv seit der Wirtschafts- und Währungskrise 2008. Und diese Blockade hat dazu geführt, dass der neue Nationalismus in weiten Teilen der Europäischen Union Zulauf bekommen hat. Ich denke, man kann aus den französischen Wahlen, aus der ersten Runde, bereits heute - in Antwort auf Ihre Frage - Konsequenzen ziehen. Erstens: Deutschland kann - wie nach 2008, nach der Finanzkrise geschehen - Europa nicht alleine führen. Das funktioniert nicht. Wir werden es nur im deutsch-französischen Tandem und unter der Hilfe anderer gemeinsam machen können. Weil schlicht und einfach die Konsequenz der tatsächlichen oder auch nur angenommenen alleinigen deutschen Führung führt dazu, dass sich Frankreich, dass sich dort fast die Hälfte der zur Wahl gegangen Bevölkerung für europaskeptische oder antieuropäische Parteien entschieden hat. Das darf man nicht vergessen. Wir müssen ein Interesse an einem starken, selbstbewussten Frankreich haben und nicht an einem schwachen. Anders funktioniert dieses Europa nicht. Und es würde auch ohne Deutschland nicht funktionieren - nebenbei gesagt. Auf der anderen Seite muss man auch sehen, dass - ohne da jetzt eine ideologische Kontroverse lostreten zu wollen - das deutsche Rezept einer auf Austerität und Sparen setzenden Politik ganz offensichtlich das Wachstum jenseits unserer Grenzen nicht wirklich beflügelt hat. Auch wenn sich die Situation im Euroraum im Moment etwas aufhellt, aber es hat nicht dazu geführt, die Arbeitslosigkeit zu reduzieren. In Deutschland ist das gelungen, aber eben unter ganz spezifischen Bedingungen. In anderen Ländern nicht. Und ich denke, da wird man nach den Bundestagswahlen - wenn Frankreich gutgeht - völlig neu nachdenken müssen. Es ist auch klar, es geht nicht nur um die Entscheidung jetzt. Wenn "business as usual" das Rezept heißt, also, weiter so wie bisher, dann wird man spätestens in fünf Jahren das Problem noch massiver haben, nach dem Ablauf der Wahlperiode, die jetzt mit der Wahl des französischen Präsidenten am 7. Mai beginnt. Und insofern wird man sich da bewegen müssen, aus meiner Sicht: Stabilisierung der Eurozone, Wachstum.
    "Deutschland hat existenzielles Interesse am Gelingen der EU"
    Pindur: Das heißt aber, dass man den Deutschen wiederum sagen muss: 'Ihr müsst unter Umständen für Fehlentscheidungen in anderen Ländern geradestehen.' Das ist politisch sehr schwer zu verkaufen.
    Fischer: Es ist nicht einfach. Aber wenn wir uns die aktuelle Situation anschauen, hat Deutschland ein fast schon existenzielles Interesse am Gelingen der Europäischen Union. Und es hat seine Interessen. Und das oberste Interesse ist dieses Europa. Weil, ohne dieses Europa sind wir isoliert und in einer fast nicht zu bewältigenden Lage. Also müssen wir ein Interesse haben und unsere Stärken dafür einsetzen. Das heißt nicht, dass man anderen Blankoschecks ausschreiben soll - da verstehen Sie mich völlig miss -, sondern dass man neue Kompromisse erarbeitet. Einen Kompromiss zwischen Nord und Süd. Es kann so nicht weitergehen - oder was glauben Sie, wie lange die Europäische Union Zustände, wie wir sie in den vergangenen Jahren hatten, aushält? Es wird sich nicht nur Deutschland bewegen müssen, es werden sich alle bewegen müssen. Aber hier spielen Frankreich und Deutschland eine besondere Rolle. Deswegen glaube ich, dass sich ein Fenster der Gelegenheit öffnet nach der Bundestagswahl - vorausgesetzt, am 7. Mai erleben wir keine Katastrophe. Das immer vorausgesetzt.
    Pindur: "Ein Fenster der Möglichkeiten nach der Bundestagswahl" - was sollte denn Ihrer Ansicht nach denn passieren?
    Fischer: Also, gestatten Sie mir, dass ich hier eine These wage. Ich glaube, ein Fehler, den sowohl Sarkozy als auch Hollande gemacht haben, war, dass sie im Verhältnis zu Deutschland zu nahe an der Bundeskanzlerin waren. Auch das kann man doch im Rückblick feststellen. Dieses Verhältnis - das deutsch-französische -, das so unendlich wichtig ist für das Gelingen Europas, setzt eher eine gewisse Distanz und auch eine gewisse Konfliktbereitschaft voraus. Lassen Sie mich so sagen: Eurobonds sind in Deutschland nie populär gewesen und sind es immer noch nicht, aus Gründen, die teilweise belastbar sind und teilweise aber auch aus ideologischen Gründen, die ich nicht für belastbar halte. Aber wäre Frankreich - das bezogen auf Eurobonds eine wesentlich positivere Haltung hat -, wäre Hollande hier in einen echten Konflikt mit der Bundeskanzlerin gegangen, dann, glaube ich, hätten die Anti-Europäer nicht eine so starke Position, wie sie sie heute haben. Das heißt, dieses Europa lebt auch von einer Kontroverse in der Sache, um sichtbar, um verstehbar zu werden, um auch Loyalitäten zu binden. Auch das werden wir in Zukunft, nehme ich an, stärker erleben müssen - nicht zum Schaden der deutsch-französischen Beziehung, sondern genau um sie zu stärken. Das war ja nicht ein "Gesangsverein Harmonie", sondern im Gegenteil, das war immer ein Streiten um den Kompromiss, um die richtige Fortentwicklung Europas. Und das muss es verstärkt wieder werden in Zukunft.
    "Zuchtmeister Deutschland"
    Pindur: Wenn ich das jetzt mal zuspitze, schlagen Sie vor, dass Deutschland sozusagen die Rolle der ökonomischen Vernunft, der Austerität, einer gewissen fiskalischen Strenge spielt, während Frankreich sozusagen die soziale Seite, die Ausgabenseite vertritt. Sie winken ab.
    Fischer: Nein, Exzellenz, ich schlage das überhaupt nicht vor. Sie beschreiben die Realität: dergestalt, dass die Sicht heute auf die Eurozone die ist: Da gibt es den Zuchtmeister Deutschland und die anderen. Es ist ja nicht nur Frankreich, es ist im Grunde genommen ein Konflikt zwischen Nord und Süd. Die deutsche Position ist ja auch in wesentlichen Punkten begründbar, was die Frage der Wettbewerbsfähigkeit, was die Staatsschuldenhöhe anbetrifft. Nur, ganz offensichtlich reicht diese Rezeptur nicht aus, um Wachstum zu kreieren. Insofern, das wird alles andere als einfach. Damit Sie mich nicht missverstehen: Ich bin nicht der Meinung: 'Die anderen haben Recht und Deutschland hat Unrecht', sondern es geht so nicht weiter. Das kann man feststellen - übrigens, von beiden Seiten nicht -, sonst geht Europa vor die Hunde. Das erleben wir doch jetzt! Wer hätte gedacht noch vor wenigen Jahren, dass wir in eine Situation kommen, wo die Entscheidung über die Präsidentschaft in Frankreich zu einer Existenzentscheidung für die Zukunft des europäischen Projekts wird. Es hätte doch keiner von uns - ehrlich gesagt - gedacht. Da sind wir aber hingelangt. Und so kann es demnach nicht weitergehen. Das ist alles, was ich sage. Und insofern werden alle Beteiligten hier völlig neu nachdenken müssen. Am gefährlichsten wäre, man würde einfach so weitermachen wie bisher, nach der Devise: 'Ist nochmal gutgegangen' - alte kölsche Devise. Nein, das darf es auf keinen Fall sein.
    Pindur: Die Frage nach der Rolle Deutschlands stellt sich auf jeden Fall also auch neu. Wenn man sich in den USA umhört, wird eigentlich immer mit großer Selbstverständlichkeit davon ausgegangen, dass Deutschland sich auf eine Rolle als europäische Führungsmacht einstellen müsse - wie auch immer das dann aussieht. Sie haben aber ganz konkret im Blick, dass es nur mit einem Duo geht: Deutschland und Frankreich. Heißt das aber nicht auch, dass Deutschland sich insgesamt umorientieren muss und von einer, ich sage mal, wirtschaftlichen Führungsmacht auch in die Rolle einer politischen Führungsmacht stärker wachsen muss?
    Fischer: Ich sehe zwei große Herausforderungen - jenseits dieser Frage, die Sie gerade stellen, auf die ich gleich antworten will. Das Eine ist die Stabilisierung der Eurozone. Der Kampf gegen die Arbeitslosigkeit muss Wirkung zeigen. Das geht nicht so weiter, vor allen Dingen mit der Jugendarbeitslosigkeit. Das heißt, wir brauchen Wachstum. Und nicht nur im europäischen Norden, sondern auch in den südlichen Volkswirtschaften. Innerhalb der Eurozone wird das die große Herausforderung. Und wir stehen vor einer veränderten Sicherheitslage. Wer hätte von uns gedacht, dass der amerikanische Präsident die NATO für obsolet erklärt - mittlerweile sagt er, sie ist wieder gut. Aber Sicherheitsgarantien bedeuten, dass man an sie glauben muss, damit sie wirken. Wenn dann der Hauptgarantor diese Garantie selber erschüttert, hat das natürlich Konsequenzen. Das heißt, die Europäer werden mit Trump, Putin in Osteuropa, mit dem Krieg in der Ukraine und der Entwicklung mit Erdoğan im Südosten, wir werden die Frage unserer Sicherheit sehr viel stärker in Zukunft selbst beantworten müssen. Das geht nicht mehr national, das geht nur gemeinsam. Und insofern geht es nicht hier um Führung, sondern dass wir Beiträge leisten, dass wir uns instandsetzen, für unsere Sicherheit selbst Sorge zu tragen. Das ist nicht nur militärisch, es kommen da auch neue Dimensionen, wie die ganze Frage des Cyberwars und der Gefährdung durch Internet gegenüber Infrastruktur zum Tragen. Es ist die Frage der Inneren Sicherheit, mit Terrorismus, auch hier muss man sehr viel stärker zusammenarbeiten, aus meiner Sicht. Und es ist auch die Frage natürlich der Entwicklungspolitik, das ist die Frage auch des Transfers finanzieller Ressourcen Richtung dem Süden. Hier, denke ich, wird es einen Beitrag auch zur Sicherheit, der europäischen Sicherheit sein, hier verstärkt zusammenzuarbeiten und eine abgestimmte Politik zu machen. Das ist der zweite große Schwerpunkt. Und da denke ich, dass Deutschland und Frankreich eine besondere Rolle spielen werden im Anschieben dieser Politik. Das schließt andere nicht aus, im Gegenteil, das soll sie einschließen und wird sie einschließen.
    Pindur: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk, mit Joschka Fischer, dem ehemaligen Bundesaußenminister. Sehen Sie dafür eine Perspektive? Also, ich komme jetzt mal ... ich fange jetzt mal mit den Flüchtlingen zum Beispiel an, mit der Flüchtlingskrise, bevor ich auch auf die militärischen Fähigkeiten zu sprechen komme. Bei den Flüchtlingen hat sich doch ganz klar gezeigt, dass es in Frankreich den Willen überhaupt nicht gab, Flüchtlinge aufzunehmen in nennenswertem Maße, als wir in dieser Krise uns befunden haben.
    Fischer: Das ist richtig.
    Pindur: Sehen Sie da eine Möglichkeit der Zusammenarbeit?
    Fischer: Wobei, Sie müssen sehen: Frankreich hat natürlich gegenüber Großbritannien eine große Verpflichtung übernommen. Also, Calais war eine sehr, sehr große Herausforderung. Und Frankreich ist in einer anderen Situation, ist demografisch in einer anderen Situation - was die Franzosen im Gespräch mit den Deutschen immer wieder betonen.
    Pindur: Das heißt konkret?
    Fischer: Das heißt konkret, dass Frankreich sehr viel mehr investiert hat in Kinder, in die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und deswegen eine andere demografische Entwicklung hat als Deutschland, Italien und sehr viele andere Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, auch in Osteuropa. Und Frankreich hat natürlich ein massives politisches Problem mit dem Front National - den gibt es ja nicht erst seit gestern - und der Ausbeutung, der innenpolitischen Ausbeutung der Fremdenangst. Das spielt eine Rolle. Hinzu kommt, die akute terroristische Bedrohung wird in Frankreich intensiver wahrgenommen, aufgrund der schrecklichen Terroranschläge, die es in Paris, in Nizza gegeben hat. Also, all das zusammen hat eine andere politische Konstellation geschaffen. Aber ich denke, in Zukunft wird es nicht einfach werden, aber es wird kein Weg daran vorbeiführen, weil Dublin nicht mehr funktioniert, als dass man nach und nach neue europäische Instrumente aufbaut. Und das setzt voraus: Gemeinsamer Schutz der Außengrenzen, aber auch dann die Verteilung derer, die kommen dürfen.
    "Orientierung an eigenen Interessen"
    Pindur: Aus Deutschland kommt oft der Vorwurf an die anderen, insbesondere in der Flüchtlingsfrage, aber Sie haben auch eben die Verschuldungskrise angesprochen, da kommt oft der Vorwurf, dass sich andere nicht, ich sage mal, "europäisch genug verhalten". Wir sehen aber selber, dass wir uns sehr an unseren Interessen orientieren, wenn es uns denn nützt - Stichwort "Dublin-Abkommen".
    Fischer: Der Vorwurf geht ja an uns selbst. Ich kann mich noch an die Bilder erinnern, als Matteo Renzi, der damalige italienische Premierminister, händeringend, fast auf den Knien vor seinen europäischen Kollegen liegend, um Solidarität angesichts des Flüchtlingsdramas vor der italienischen Küste gefleht hat. Aus Berlin kam da ein: 'Nein, das ist ein italienisches Problem' - was es natürlich nicht war und nicht ist. Wir waren da sehr kurzsichtig. Dass die Bundesregierung, bevor die große Flüchtlingswelle aus Syrien begann, die Unterstützung für den Hohen Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zurückgefahren hat, war ein Auslösefaktor mit für den Beginn der Flüchtlingswelle. Das darf man auch nicht vergessen. Also, dass wir hier mit einer astreinen weißen, blütenweisen Weste dastünden, das kann ich, ehrlich gesagt, nicht nachvollziehen, angesichts der Fakten.
    Pindur: Also, wenn es Deutschland nutzt, macht es sich auch einen schlanken Fuß auf Kosten der anderen, um es mal etwas lax auszudrücken.
    Fischer: Also, wir unterscheiden uns hier nicht wirklich qualitativ von allen anderen. Was wir geleistet haben bei der Flüchtlingsaufnahme - damit Sie mich nicht missverstehen -, fand ich großartig. Die vielen Initiativen, die sich engagiert haben, die Menschen überall von Nord bis Süd, von Ost bis West, auch die Leistungen der Politik, der Bundesregierung, der Bundeskanzlerin sei hier hoch veranschlagt. Aber wir können nicht behaupten oder mit dem Finger nur auf andere zeigen, da gibt es auch Einiges bei uns, das im Argen lag.
    Pindur: Kommen wir mal zum transatlantischen Verhältnis. Sie haben das eben angesprochen, das war in der Tat ein sehr beunruhigendes Signal, das Donald Trump, der neue amerikanische Präsident, gegeben hat, zunächst einmal. Und er hat ja über ein Jahr gesagt, die NATO sei obsolet. Dann auf einmal zog so etwas wie außenpolitischer Realismus oder, sagen wir mal, Pragmatismus ins Weiße Haus ein, mit dem neuen Nationalen Sicherheitsberater McMaster. Und dann sagte Donald Trump, nein, die NATO sei doch nicht mehr obsolet. Aber es ist einmal in Frage gestellt worden und das ist ein Problem für die europäische Sicherheit. Und da sind wir bei dem militärischen Teil relativ schnell. Denn Deutschland mit seinen 200 funktionierenden Panzern kann seine konventionelle Abschreckung nicht leisten - da machen wir uns wieder einen schlanken Fuß auf Kosten zum Beispiel Polens, das 2.000 Panzer hat. Jetzt sind Panzer nicht das Maß aller Dinge, aber Abschreckung, militärische Abschreckung ist ein wichtiger Faktor. Müssen da die Deutschen auch umdenken grundsätzlich?
    "Trump stellt Grundsäulen der Bundesrepublik in Frage"
    Fischer: Ich meine, ja. Und ich will das auch erläutern, warum. Die alte Arbeitsteilung ... und es ist ja nicht nur die militärische. Trump stellt zwei Grundsäulen, auf denen die Bundesrepublik Deutschland aufgebaut wurde, in Frage. Das Erste ist die Sicherheitsgarantie, die im NATO-Vertrag festgeschrieben wurde. Und, wie gesagt, diese Garantie ist etwas, davon muss man überzeugt sein - Freund wie Feind gleichermaßen -, damit sie funktioniert. Und da finde ich, wir wissen nicht, was die Trump-Regierung am Ende an Strategie wirklich entwickeln wird und ob überhaupt. Aber was man sagen kann ist, es gibt in der amerikanischen Bevölkerung - und zwar nicht nur bei den Trump-Anhängern, sondern ich denke, das geht tief ins Lager der Demokraten rein - einen großen Überdruss mit der traditionellen Rolle, dass die USA sich engagieren soll für die Sicherheit von Bündnispartnern und anderen mit Geld, aber auch mit dem Leben ihrer Soldaten. Und das ist nicht nur Trump. Trump ist da eher Symptom. Ich nehme an, bei Hillary Clinton, die hätte den Satz mit "NATO ist obsolet" nicht gesagt, aber den Druck, den sie gemacht hätte, der wäre nicht sehr viel anders. Das heißt, die Notwendigkeit für die eigene Sicherheit mehr zu tun, das ist die Konsequenz daraus. Es war ja sehr bequem: Wir haben sozusagen den harten Teil unserer Sicherheit an die Amerikaner delegiert. Wir waren für die guten Dinge zuständig oder zumindest haben wir es uns eingeredet und die harten, etwas böseren Dinge haben wir den Amerikanern überlassen. Wissend darum, dass wir sie gerne kritisieren, aber gleichzeitig, dass unsere Cousins von der anderen Seite des Atlantiks da sind, wenn es ernst wird. Zumindest war das die Erfahrung in der Nachkriegszeit. Und das geht zu Ende. Egal, welche Politik und welches politische Lager sich innerhalb der Trump-Regierung durchsetzen wird, das geht zu Ende. Wir werden uns verstärkt selber engagieren müssen. Und ich sehe auch nicht, dass da ein Weg dran vorbeiführt, ehrlich gesagt. Wenn Sie mich fragen: Könnten wir uns heute selbst verteidigen? Ist die klare Antwort: Nein, können wir nicht! Und es gibt Nachbarn - Sie haben Polen erwähnt -, andere, die erwarten zu Recht unsere Solidarität, wie wir deren Solidarität erwarten. Im Übrigen: Deutsche Sicherheit auch nur zu denken, ohne dabei Polen einzubeziehen, ist nicht möglich. Genauso wenig wie französische Sicherheit gedacht werden kann, ohne Deutschland einzubeziehen. In diesem kleinräumigen Europa hängen wir da voneinander ab. Und deswegen denke ich auch, man sollte das nicht auf nationaler Grundlage machen, sondern in Abstimmung mit unseren engsten europäischen Partnern die Fähigkeiten entsprechend verstärken.
    Pindur: Herr Fischer, Sie haben die deutschen Wahlen angesprochen. Bis dahin werden wir uns noch gedulden müssen, bis sich hoffentlich "das Fenster der Möglichkeiten" noch einmal öffnet. Was erhoffen Sie sich denn von den deutschen Bundestagswahlen?
    Fischer: Dass sie stattfinden.
    Pindur: Davon gehen wir aus.
    Fischer: Ich habe eine Stimme. Und ich mache keinen Wahlkampf mehr, auch keinen vorgezogenen am Mikrofon des Deutschlandfunks. Sondern ich werde meiner Bürgerpflicht nachkommen und Wählen gehen. Wen - das verbietet das Wahlgeheimnis, das öffentlich zu bekunden. Und mein eigenes Wahlgeheimnis, zu sagen, ich mache keinen Wahlkampf mehr. Ich gehe wählen. Ich wähle eine demokratische Partei. Ich hoffe, wen immer die Bürgerinnen und Bürger wählen, sie wählen demokratisch und nicht die neuen Nationalisten. Das ist das, was ich für sehr, sehr wichtig halte. Aber ich denke, die Lage in Deutschland ist stabil und wir werden da keine jetzt großen Überraschungen erleben oder ein mögliches Drama, wie es in Frankreich etwa möglich ist.
    Pindur: Also, Sie können sowohl mit Frau Merkel als auch mit Martin Schulz als Kanzler leben?
    Fischer: Ich werde weder, wenn die Eine noch der Andere gewählt wird, Selbstmord machen, das kann ich Ihnen versprechen. Insofern: Ja, ich werde hoffentlich weiterleben - wie immer das auch ausgeht.
    Pindur: Herr Fischer, herzlichen Dank für das Gespräch.
    Fischer: Ich danke Ihnen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.