Viele Medien hätten ihren Qualitätsanspruch während der Flüchtlingskrise über Bord geworfen - das ist das Fazit einer Studie, die die Berichterstattung deutscher Tageszeitungen wie SZ, FAZ, Welt, BILD und mehrerer Regionalzeitungen untersucht hat.
Die von der Universität Leipzig und der Hamburg Media School ausgewerteten Artikel stammen aus dem Zeitraum zwischen Februar 2015 bis März 2016.
"Der nötige Perspektivwechsel fällt den Medien heute schwer"
Michael Haller, Medienwissenschaftler und Leiter der Studie, sagte im Deutschlandfunk, dass die Studie zeige, dass sich die etablierten Medien während der Flüchtlingskrise mit den Ansichten der politischen Eliten gemein gemacht hätten.
Er sieht darüber hinaus auch abseits der Flüchtlingsthematik wenig Prespektivwechsel in der Berichterstattung - die Ansichten der Machthabenden seien dominant.
Das Interview in voller Länge:
Michael Borgers: Im November 2015 - damals war die Lügenpresse (im Jahr zuvor) bereits zum Unwort des Jahres gekürt - längst wieder für viele im allgemeinen Sprachgebrauch angelangt. Ein Vorwurf, in dem sich diese Menschen in diesen Tagen wieder einmal gestärkt sahen und zwar wegen der Art und Weise, wie Medien über die Flüchtlingskrise berichteten. Ein Vorwurf, der bis heute nachhallt und dem Wissenschaftler der Hamburg Media School und der Uni Leipzig nachgegangen sind. Leiter der Studie war Michael Haller, selbst Journalist und Medienwissenschaftler. Einen schönen guten Tag, Herr Haller!
Michael Haller: Ja, guten Tag, Herr Borgers!
Borgers: Sie haben regionale und überregionale Zeitungen untersucht, dazu einige Onlinemedien. Gut weg kommen alle nicht - auf unterschiedliche Weisen. Kann man als Ergebnis festhalten, gut und ausgewogen informiert haben alle nicht so recht?
Haller: Also die Leitmedien, das sind die großen überregionalen Tagesmedien - also wir haben nur aktuelle Tagesmedien untersucht - diese überregionalen Medien haben sich ganz auf die Szenerie der Politik in Berlin eingelassen und haben eigentlich einen internen Diskurs mit der Politik in Berlin geführt und dabei gleichsam die Bevölkerung vergessen, also die Menschen, die mit dieser Thematik unmittelbar zu tun haben und tun hatten. Die Probleme, die sich in der Alltagswelt der Menschen stellten, kommen nur ausnahmsweise vor, regelhaft aber der Streit zwischen einzelnen Köpfen in der Politik, die kamen ganz prominent weg.
Mainstreammedien und Eliten tonangebend
Borgers: Eine Kernkritik von Ihnen dabei lautet, Sie bemängeln, Redaktionen hätten sich zu sehr auf die Einordnungen aus der Politik beschränkt und dort einseitig auf die aus Regierungsparteien. Sie sprechen dabei aber auch immer wieder von der politischen Elite und sogenannten Mainstreammedien. Indem Sie solche Kampfbegriffe verwenden, leisten Sie nicht einem Politikverdruss Vorschub, wie er von Rechtspopulisten und Rechtsextremen weltweit verbreitet wird?
Haller: Na ja, Mainstreammedien ist ein auch wissenschaftlich durchdeklinierter Begriff, und das ist ziemlich genau beschrieben, was darunter zu verstehen (ist). Also das sind keine Nischenmedien, das sind keine Gruppenmedien, sondern das sind General-Interest-Medien, die von sich sagen, dass sie das aktuelle, spannende, wichtige, zu wissen wichtige Geschehen vermitteln können.
Borgers: Und der Begriff der Elite?
Haller: Der Begriff der Elite ist, sagen wir mal: in Deutschland etwas prekärer als in anderen Ländern, aber auch da ist eigentlich in der Politikforschung ziemlich klar, was mit Elite jetzt – wir reden hier von Politik –, was mit Elite gemeint ist. Das sind in erster Linie die Entscheider, das sind in erster Linie diejenigen, die auch machtvoll sind, die auch selber mitbestimmen oder mitentscheiden können, wie das, was sie beschlossen haben, umgesetzt wird.
Borgers: Und da lautet Ihr Vorwurf, da haben sich die Medien zu sehr gemein gemacht mit.
17.000 Texte wurden untersucht
Haller: Ja. Deutlich. Also das ist nicht ein Vorwurf, sondern es ist ein Befund. Wir haben ungefähr 36.000 Texte in der Hand gehabt. Wir haben 17.000 Texte mikroskopisch genau mit entsprechenden tiefergehenden Analyseinstrumenten untersucht, um zu schauen, in welchen Konnotationen über diese Thematik berichtet wurde, und daraus sind diese Ergebnisse ganz deutlich. Das sind objektive Ergebnisse. Das ist nicht eine Meinung von mir.
Borgers: Sie haben sich auf einen bestimmten Zeitraum und auf ein bestimmtes Thema beschränkt. Lassen sich davon auch allgemeine, strukturelle Probleme des Journalismus ableiten?
Haller: Man kann schon sagen, dass der große Komplex der Flüchtlingsberichterstattung wie eine große Fallstudie sich zeigt - darüber, wie der, ich sage mal hier jetzt: der etablierte Journalismus, also insbesondere derjenige der großen Mainstreammedien, wie dieser Journalismus mit dem tagtäglichen Geschehen umgeht. Und ich denke schon, dass man daran erkennen kann, dass auch jenseits der Flüchtlingsthematik, also auch heute in den Alltags-, in den relevanten Themen des Alltags die Perspektive der Machthabenden, der Entscheider dominant ist. Und der Perspektivenwechsel, auf den es so sehr ankäme in einer so ausdifferenzierten und komplex gewordenen Gesellschaft, der Perspektivenwechsel in Bezug auf die Beteiligten, die Betroffenen, die verschiedenen Einstellungen, Auffassungen, Gruppen und Haltungen, hier auch aus der Sicht derjenigen, die direkt damit zu tun haben, zu berichten, dieser Perspektivenwechsel fällt auch heute sehr schwer, obwohl viel darüber geredet wird.
Borgers: Zum Schluss noch eine Einschätzung: Sie haben den Rundfunk außen vorgelassen. Der "Zeit", die Sie auch nicht berücksichtigt haben, haben Sie einen Eindruck geschildert. Davon, wie sie berichtet hat, haben Sie auch einen Eindruck vom Deutschlandfunk?
Haller: Nein, kann ich Ihnen dazu keine sachdienlichen Angaben machen. Wir haben den Deutschlandfunk nicht untersucht.
Borgers: Okay. Dann ist das auch in Ordnung für uns.
Haller: Hoffen wir das Beste!
Borgers: Vielen Dank, Michael Haller, mit dem ich über seine heute für die Otto-Brenner-Stiftung gemachte, erschienen Studie "Die Flüchtlingskrise in den Medien" gesprochen habe!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.