Die gewaltsame Verhaftung eines 22-jährigen Fußballers in einer Pariser Banlieu sieht El Difraoui nur als Auslöser für eine schon lange andauernde Misere. "Seit mehr als 20 Jahren kommt es in den Vorstädten zu Aufständen, weil Jugendliche sich ausgeschlossen fühlen." Das gewalttätige Vorgehen des Staates verschärfe die Situation.
Als Auslöser für die Revolte sieht der Politikwissenschaftler keine islamische Komponente. Bei vielen Jugendlichen aus den rund 750 Vorstädten in ganz Frankreich handele es sich um Einwanderer aus Afrika, die Christen seien. In den betroffenen Gebieten herrsche eine Jugendarbeitslosigkeit von 30 Prozent. Hinzu kommen laut El Difraoui ein niedriges Bildungsniveau, große Armut und dadurch eine große Frustration. "Die Jugendlichen haben das Gefühl, nur wenn sie Randale machen, werden sie von der Politik wahrgenommen."
Der politische Wille, etwas an der Situation zu ändern, sei aber sehr gering. "Jedes Mal, wenn sich der Staat der Vorstädte annimmt, heißt es, man würde sich nur um Menschen mit Migrationshintergrund kümmern." Die Politik habe immer nur "Pflasterbehandlung" gemacht, kritisierte El Difraoui. Sobald es ruhiger werde, gerieten die Vorstädte wieder aus dem politischen Fokus.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: Es sind immer wieder ähnliche Bilder, die wir seit Tagen aus Frankreich bekommen: Vermummte Männer, die sich gewaltsame Straßenschlachten mit der Polizei liefern, brennende Autos, eingeschlagene Fensterscheiben, alles gehört mit dazu.
Angefangen hat das alles vor zwei Wochen. Da wurde ein junger Mann in einer französischen, in einer Pariser Vorstadt festgenommen und anschließend sollen Polizisten ihn dort misshandelt haben. Die französische Justiz ermittelt inzwischen gegen die Beamten, aber das genügt den Randalierern nicht. Mittlerweile kommt es nachts auch in anderen französischen Städten zu gewaltsamen Ausschreitungen.
Wir können darüber jetzt sprechen mit dem Publizisten, Medienwissenschaftler und Frankreich-Kenner Asiem El Difraoui. Schönen guten Morgen nach Frankreich.
Asiem El Difraoui: Ja, schönen guten Morgen!
Armbrüster: Herr El Difraoui, wer kämpft da gegen wen in den französischen Vorstädten?
El Difraoui: Das Ganze ist Ausdruck einer ganz tiefen Misere. Die Verhaftung, diese sehr gewaltsame Verhaftung des jungen Theos, dieses 22-jährigen Fußballers vor zwei Wochen, war nur der Auslöser. Seit über 20 Jahren kommt es zu solchen Übergriffen, kommt es zu Vorstadtaufständen, weil vor allen Dingen die Jugendlichen sich dort ausgeschlossen fühlen und weil die Jugendlichen ein ganz gespanntes Verhältnis zur Polizei haben, wo es immer wieder zu Übergriffen kommt, wo es zu Toten kommt.
Die bisher größten Vorstadtunruhen 2005 sind entstanden, weil etwa zwei Jugendliche vor der Polizei geflüchtet sind in ein Elektrizitäts-Transformationshaus, wie auch immer, und da durch Hochspannung getötet worden sind. Leider ist das ja auch kein Ausnahmefall mehr. Ich habe mir vorhin noch mal Statistiken angeguckt: Alle zwei Jahre kommt es zu massenhaften oder zu großen Ausschreitungen, weil die Jugendlichen in den Vorstädten - die werden auch in Frankreich sehr eloquent als sensible urbane Zonen bezeichnet; da leben 4,5 Millionen Menschen -, dort herrscht gerade unter Jugendlichen eine Arbeitslosigkeit von bis zu 30 Prozent. Das ist mehr als das Doppelte des Landesdurchschnitts. Das Bildungsniveau ist sehr niedrig, das Armutsniveau sehr groß und das Frustrationsniveau ist natürlich sehr hoch.
"Die islamische Komponente ist nicht der entscheidende Grund"
Armbrüster: Herr El Difraoui, entschuldigen Sie, wenn ich Sie unterbreche. Sprechen wir da über junge Menschen aus muslimischen Einwandererfamilien?
El Difraoui: Da würde ich jetzt nicht den Unterschied machen muslimische Einwandererfamilien oder nicht muslimische Einwandererfamilien. Es sind sehr viele Jugendliche aus Einwandererfamilien aus Afrika, auch christlichen Glaubens. Der Junge Theo, über den wir sprechen - Theo ist ja ein christlicher Name -, ist meiner Ansicht nach auch Christ.
Ich glaube, da machen die Jugendlichen keinen großen Unterschied. Die islamische Komponente ist nicht der entscheidende Grund, oder ist keiner der Auslöser für diese Revolte. Das ist einfach diese ganz massive soziale Misere. Diese Vorstädte zum Beispiel haben mit die kreativsten französischen Jugendlichen hervorgebracht, ganz berühmte Rap-Sänger, Star-Fußballspieler, Star-Schauspieler, aber die Aussichten auf Arbeitsplätze sind gerade unter den männlichen Jugendlichen extrem gering.
Zum Beispiel unter dem letzten französischen Präsidenten Sarkozy wurde die lokale Polizei abgeschafft. Das heißt, es werden irgendwelche Polizisten mittlerweile zum Großteil hingeschickt, die sich da gar nicht auskennen, die auch sehr gereizt sind. Das ist eine Dauermisere, die in diesen Vorstädten, die in den 50er-, 60er- und 70er-Jahren gebaut worden sind, wirklich seit drei Jahrzehnten existiert.
Und ganz wichtig ist natürlich auch: Die Jugendlichen haben das Gefühl - und das sieht man auch, wenn man sich anguckt, was schon vor 20 Jahren passiert ist, vermutlich leider zurecht -, nur wenn sie Randale machen werden sie von der französischen Politik auch wahrgenommen und erst dann verändert sich was.
"Der politische Wille ist relativ gering"
Armbrüster: Aber wenn dieses Problem nun seit Jahrzehnten, wenn es so lange bekannt ist und sich ja tatsächlich auf so eine bestimmte Region auch begrenzt, wenn man es tatsächlich eingrenzen kann und sagen kann, hier, es handelt sich um diesen Ort, um diese Vorstadt oder um diese Vorstädte, was ist dann für die französische Politik so schwierig daran, in diesen Gebieten Förderprogramme auf den Weg zu bringen oder Schulen besser auszustatten oder, wie Sie gesagt haben, Sozialarbeiter oder Polizisten mit besseren Mitteln zu versorgen?
El Difraoui: Erst mal handelt es sich nicht um eine Gegend. Es handelt sich da um 750 Vorstädte, die auf das ganze Land verteilt sind, Vorstädte von Lyon, Vorstädte von Toulouse, Vorstädte von Paris und so weiter und so fort. Die Probleme wurden erkannt, zum Beispiel wurden viele von den unerträglichen Hochhäusern abgerissen, gesprengt, aber auch das hat nicht viel geholfen, weil die Familien, die dann umgezogen worden sind, sich wieder in solchen Sozialwohnungen befanden. Der politische Wille ist auch relativ gering, weil alle Politiker der großen Parteien haben Angst vor der Front National, sind quasi gelähmt. Der ehemalige französische Premierminister Valls hat sogar von Apartheid gesprochen und da hatte man das Gefühl, sie wollten was machen. Nur jedes Mal, wenn der französische Staat sich diesen Vorstädten annimmt, dann wird ihm zum Vorwurf gemacht, man würde sich nur um Leute mit Migrationshintergrund kümmern, und das ist ein hoch sensibles Thema.
"Das ist Wahlkampfmunition vor allen Dingen für die rechten Parteien"
Armbrüster: Aber sind nicht gerade die Ausschreitungen, die wir jetzt erleben, sind die nicht gerade wie gemacht, sind die nicht gerade Wahlkampfmunition für den Front National und für Marine Le Pen?
El Difraoui: Ja ganz genau. Das ist Wahlkampfmunition vor allen Dingen für die rechten Parteien und die Mitte und die linken Parteien scheinen, vor Angst gelähmt zu sein, die Probleme wirklich anzugehen, und es wird seit Jahren einfach nur noch eine Pflasterbehandlung vorgenommen. Aber man muss auch sagen, die Probleme sind hoch komplex, weil diese Vorstädte wurden nach sozialen Wohnungsbaumodellen wie gesagt in den 60er- und 70er-Jahren vor allen Dingen gebaut. Diese Städte sind zum Beispiel gar nicht infrastrukturtechnisch wirklich an die Stadtzentren angebunden. Der Norden von Marseille, wo diese Riesen-Wohnblocks stehen, es ist ganz schwer, zum Beispiel Marseille zu erreichen und da Arbeit zu finden. Das Gleiche gilt für gewisse Vorstädte um Paris und da müssen natürlich Milliarden an Infrastruktur bereitgestellt werden, die der französische Staat nicht hat.
Bedauerlicherweise muss man auch dazu sagen, dass die Terroranschläge in Paris und in Frankreich, auch vor allem von Jugendlichen gemacht wurden. Diese Mörder waren vor allem auch verarmte Vorstadtkinder oder Kinder aus verarmten Vierteln. Die haben natürlich ein Misstrauen auch von Polizeiseite gegenüber diesen Jugendlichen herbeigeführt, wo natürlich Polizeikontrollen viel intensiver bei Migrantenkindern gemacht werden als bei weißen Franzosen.
All dies hat diese Spannungen noch mal verstärkt und die Polizeiübergriffe, die man schon lange sieht, sind in den letzten Jahren durch den Ausnahmezustand und die Angst vorm Terror noch schlimmer geworden, und jetzt muss man probieren, aus diesem Spannungsfeld herauszukommen.
"Diese Menschen fühlen sich total ausgeschlossen"
Armbrüster: Herr El Difraoui, Sie beschreiben das alles jetzt als ein Problem vor allem der französischen Politik, der französischen Städteplanung, der französischen Polizei- und Sicherheitsbehörden. Könnte es denn auch sein, dass sich auch viele Menschen, auch viele junge Menschen in diesen Vorstädten ganz gut eingerichtet haben in dieser, ich sage mal, Antihaltung gegen den französischen Staat?
El Difraoui: Ja, das ist natürlich eine Gefahr. Da gibt es auch bedauerliche Statistiken. Eine Statistik des Institut Montaigne - das ist ein vom französischen Arbeitnehmerverband gefördertes Institut - zeigt zum Beispiel, dass 30 Prozent der muslimischen Jugendlichen die Werte der Französischen Republik ablehnen, wie etwa die Laizität, aber auch Demokratie im allgemeineren Sinne. Und natürlich: jahrelange Vernachlässigungen haben dafür gesorgt, dass sich natürlich auch in den Städten, nehmen wir mal Marseille als Beispiel, in diesen Vorstädten Drogendealer-Ringe ausbreiten konnten, denen nur schwer beizukommen ist, denen es natürlich auch recht ist, dass die Polizei da vertrieben wird, oder probiert wird, Spannungen mit der Polizei herbeizuführen, dass die Polizei nicht zu sehr in diesen Vierteln präsent ist.
All dies ist ein gigantisches Problem, was um die fünf Millionen Franzosen betrifft und wo wirklich die Politik immer nur diese Pflasterbehandlung gemacht hat. Sobald es mal wieder ruhiger wurde, waren die Vorstädte total aus dem Fokus. Die Vorstadt-Misere war auch bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen bis zu den letzten Ausschreitungen überhaupt kein Thema. Frankreich muss sich natürlich ganz langfristig damit auseinandersetzen, dass diese Menschen in die französische Gesellschaft eingebunden sind. Diese Menschen fühlen sich total ausgeschlossen von der französischen Gesellschaft.
"Es gibt natürlich sehr viele erfolgsversprechende Beispiele"
Armbrüster: Herr El Difraoui, ich muss ein bisschen auf die Uhr gucken, möchte aber gern noch diese eine Frage stellen mit Bitte um eine kurze Antwort. Sehen Sie irgendeinen Anlass für Hoffnung, dass eine kommende französische Regierung an dieser Misere, über die wir hier im Deutschlandfunk ja auch immer wieder berichten, dass sich daran irgendetwas ändert?
El Difraoui: Ich sehe natürlich Grund für Hoffnung. Das kommt natürlich darauf an, wer gewinnt. Wenn jetzt irgendwie rechtspopulistische Kräfte oder rechtsextreme Kräfte wie die Nationale Front gewinnen, wird sich daran kaum was verändern, weil die hat natürlich ein Klientel, was genau diese Menschen in den Vorstädten gar nicht als wirkliche Franzosen sieht.
Falls jetzt aber ein moderater Politiker aus der Mitte gewinnt, es lässt sich was machen. Es gibt natürlich sehr viele erfolgsversprechende Beispiele. Aber die französische Politik muss einfach ständig diese Vorstädte im Fokus haben und wenn das nicht geschieht, wird dieser Prozess von Randale und wieder ein bisschen Geld reinspritzen und irgendwelche oberflächlichen Maßnahmen machen noch Jahrzehnte weitergehen, mit vielleicht noch viel dramatischeren Konsequenzen.
Armbrüster: Hier bei uns im Deutschlandfunk in den "Informationen am Morgen" war das der Publizist und Medienwissenschaftler Asiem El Difraoui. Vielen Dank, Herr El Difraoui, für Ihre Zeit heute Morgen.
El Difraoui: Ich bedanke mich.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.