Die Kneipe des Nagolder Jugendclubs YOUZ, rund 50 Kilometer südwestlich von Stuttgart im Nordschwarzwald gelegen, ist für einige Tage auch ein Wahllokal. Im Unterschied zu Wahllokalen an Schulen etwa, kann hier bereits seit Mittwoch mit Genehmigung gewählt werden. Nadine, 16 Jahre alt, Berufsschülerin, kam gestern Abend hierher:
"Yannick, kannst du mir bitte einen Wahlzettel geben?"
Sie muss keinen Ausweis vorlegen, hier kennt man sie. Niederschwellig soll der Gang zur Urne sein, auch in anderen Wahllokalen vertraut man den Jugendlichen. An der Theke gibt es die DIN A4 Blätter, 21 Parteien finden sich darauf - nur eine Stimme ist zu vergeben. In vielen Fällen wird bei der U18-Wahl auf die Erststimmabgabe verzichtet. Ein paar Schritte sind es bis zur Wahlkabine, im Fall Nagold ein aus Karton gebastelter Sichtschutz, auf dem unübersehbar "Wahllokal U18 steht". Schülerin Nadine verschwindet dahinter und nichts ist mehr von ihr zu sehen. Wie sieht es dahinter aus?
"Einfach nur Pappe, damit man halt abgedichtet ist von der Außenwelt, Kugelschreiber."
Industriekauffrau möchte sie einmal werden, erzählte sie noch kurz vor der Stimmabgabe. Etwa 15 Jugendliche sind in der Kneipe, doch Nadines Wahl- Premiere stößt auf wenig Interesse: "Ich habe gewählt."
U18-Wahen seit 1996
Fragend steht die 16-Jährige mit langen blonden Haaren und einem weißen Kapuzenpullover mitten im Raum: "Was soll ich damit machen?
"Du kannst den Zettel einmal falten und dann an der Theke in unsere Wahlurne einwerfen."
Michael Ohngemach, Sozialarbeiter und Initiator der Wahl im YOUZ, ist Wahlleiter und beantwortet nahezu alle Fragen bis auf die der Wahlentscheidung.
"Ich habe immer wieder gefragt, ob jemand wählen möchte und dann eben im direkten Gespräch versucht zu erklären, wie das funktioniert und was dieser Wahlzettel da ist."
Erstmals fanden U18, unter 18 Wahlen, 1996 statt. Lehrer und Sozialarbeiter wie Michael Ohngemach nutzen nun die Gelegenheit, um mit jungen Menschen über Politik ins Gespräch zu kommen. Bei der Wahl gibt es nach unten keine Altersbeschränkung:
"Für mich war es eine interessante Möglichkeit einfach einmal auf so eine ganz einfache Art politische Bildung zu machen. Mal die Jugendlichen was ausprobieren lassen, wo sie sonst nie auf die Idee kommen würden, das zu machen, oder sich auch einfach nicht dafür interessieren."
Gute Wahlbeteiligung
Überrascht war er über die Reaktionen einiger junger Leute, nachdem verschiedene Politiker im YOUZ zu Gast waren.
"Dass die Jugendlichen auch tatsächlich hiergeblieben sind und nicht einfach fluchtartig das Haus verlassen haben. Im Vorfeld haben ganz viele gemeint, sie haben überhaupt keinen Bock auf Politiker. Erwachsene im Allgemeinen sind schon komisch und dann auch noch Politiker und mit Politik will man nichts am Hut haben. Also, es gab auch Jugendliche, die ganz klar gesagt haben: "Ich möchte nicht abstimmen, selbst wenn ich darf und wenn nichts mit der Stimme passiert, ich möchte mich da raushalten."
Die Wahlbeteiligung sei ziemlich gut, stellt der Sozialarbeiter fest. Nadine hat mittlerweile ihren Stimmzettel eingeworfen:
"Ich war mir einfach sicher, was ich wähle, weil ich da schon informiert wurde. Wir haben in der Schule halt allgemein Politik durchgenommen, auch wie die Demokratie läuft, oder Diktatur."
Flüchtlingspolitik als zentrales Thema
Entscheidend für sie sei, welche Politiker sich um hilfsbedürftige Menschen kümmern. Als Beispiel nennt sie Flüchtlinge. Wichtig sei ihr auch, dass abgelaufene Lebensmittel bedürftige Menschen bekommen können. Den Wahlabend am übernächsten Sonntag will sie mit ihrer Familie vor dem Fernseher verbringen:
"Auf jeden Fall, weil ich will wissen, ob Frau Merkel an der Macht bleibt oder ob jemand anders dran ist."
Jetzt verschwindet die 16-jährige, dunkelhaarige Melissa in der Wahlkabine. Zurzeit macht sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in einem Krankenhaus und will im nächsten Jahr eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester beginnen. Einige Minuten vergehen, ohne dass sie wieder auftaucht.
"Liest du dir jetzt noch mal alles durch, was da drauf steht?" Melissa: "Ja!"
Lachend steckt Melissa dann nach einer Weile doch ihren Wahlzettel in die Urne. Politik interessiere sie nicht besonders, gibt sie zu. Deutschland habe sich in den letzten Jahren verändert, glaubt sie allerdings. Maßgeblich führt die 16-Jährige das auf Flüchtlinge zurück, die nun hier seien. Doch bei ihrer Wahl vor wenigen Minuten spielte das keine Rolle:
"Nein, das hat das nicht beeinflusst. Ich denke mal, jede Partei würde den Flüchtlingen helfen wollen."
Wahl-O-Mat und Parteiprogramme als Vorbereitung
Parteiprogramme kennt sie nicht und gezielt informiert hat sie sich vor ihrer Wahl auch nicht:
"Ich gucke indirekt so danach. Wenn die Schlagzeile interessant ist, dann lese ich das halt schon mal durch. Aber jetzt so, dass ich intensiv danach suche, oder Nachrichten gucke, das ist jetzt nicht so."
Anders Motte, 15 Jahre alt, im Gesicht einige eindrückliche Piercings. Die Schülerin hat auch gewählt und erklärt, sie kenne einige Wahlprogramme, ihre Erwartungen an Politiker seien ziemlich groß:
"Dass Flüchtlinge gut untergebracht werden, nicht nur Flüchtlinge, auch Obdachlose, weil ich auch in meiner Familie mal jemand hatte, der obdachlos war. Auch für Tiere, dass man sich für Tiere einsetzt, auch Natur - ohne Natur ist die Welt nichts."
Richtig gut vorbereitet auf seine Stimmabgabe bei der U18-Wahl war der 16-jährige Schüler Jakob:
"Ich habe das mit dem Wahl-O-Mat gemacht. Aber da kam CDU/ CSU raus. Aber ich habe etwas anders gewählt."
Bundesweiten Ergebnisse werden veröffentlicht
Natürlich bleibt Jakobs Wahl, wie die Wahl aller anderen Jugendlichen, geheim. Um 18 Uhr schließt auch dieses Wahllokal heute in Nagold. Gleich danach werden die Stimmen ausgezählt und auf einer Tafel veröffentlicht, erklärt Sozialarbeiter Ohngemach. Zeitgleich schickt er das Ergebnis nach Berlin:
"Jedes Wahllokal gibt nachher die ausgezählten Stimmen in eine Eingabemaske auf der U18-Seite ein und dann kann man ab morgen die bundesweiten Ergebnisse anschauen."
Bei der letzten Bundestagswahl hatten sich knapp 200.000 unter 18-Jährige an der symbolischen Wahl beteiligt. Gewonnen hat mit 27 Prozent damals die CDU, die SPD kam auf rund 20 Prozent und drittstärkste Kraft wurden die Grünen mit 17 Prozent.