Das wäre vor 50 Jahren undenkbar gewesen: Auf einem kleinen Platz neben dem KaDeWE in Berlin steht eine Bühne, vor ihr hopst ein Mann mit Headset herum und versucht einer bunten Truppe israelische Volkstänze beizubringen. Immerhin: Am Ende tanzen ein paar Dutzend Menschen gemeinsam im Kreis: Schicke Damen, Frauen in Batikkleidern, Männer im Anzug, Kinder. Israelis, Deutsche, Juden und Nicht-Juden.
Es ist der Israel-Tag, der in diesen Wochen in allen großen deutschen Städten gefeiert wird. Anlass: die Unabhängigkeit vor 67 Jahren und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Deutschland vor 50 Jahren. Es herrscht Trubel, mehrere hundert Besucher schieben sich an den Ständen vorbei, sie trinken Goldstar-Bier und essen Falafel.
Und doch: Ein normales Straßenfest ist das nicht. Wer genau hinsieht, entdeckt überall Polizeibeamte und breitschultrige Männer im Anzug und mit Knopf im Ohr. Bei jüdischen oder israelischen Veranstaltungen in Deutschland ist sie immer da, diese latente Angst:
" Ich mache mir auch immer Gedanken, wenn ich alleine über die Straße laufe, ich glaube, jeder Israeli hat das immer im Hintergrund, die Geschichte und immer vorsichtig zu sein und Angst zu haben vor Anderen und vor Fremden. Wenn ich nach Brandenburg rausfahre, dann mache ich den Davisstern ab. Man hat sich einfach dran gewöhnt. Angst habe ich nicht, es ist einfach Alltag geworden."
Denn auch 70 Jahre nach dem Holocaust ist Judenfeindlichkeit in Deutschland noch ein Thema. Allein im vergangenen Jahr hat die Zahl der antisemitischen Straftaten um 25,2 Prozent zugenommen. Das geht aus der gerade erst veröffentlichten Kriminalitätsstatistik des Innenministeriums hervor. Doch Antisemitismus ist nicht mehr allein Sache einiger Neonazis, sondern er ist gewissermaßen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Wird Judenfeindlichkeit wieder gesellschaftsfähig?
"Ich würde nicht sagen, dass es gesellschaftsfähig geworden ist, sondern die Leute trauen sich mehr, zu sagen", sagt Abraham Lehrer, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. "Dieses Trauen ist wirklich das, was dahinter steht, die Meinung hat es immer schon gegeben. Diesen Bodensatz hat es immer gegeben, nur dass dieses Land, diese Gesellschaft nicht wirklich bereit war, sich dieses einzugestehen."
Grenzen zwischen Kritik an Israel und Antisemitismus verschwimmen
40 Prozent der Deutschen vergleichen heute die Politik Israels gegenüber den Palästinensern mit dem Holocaust. Die Grenzen zwischen Kritik an der Politik Israels und Antisemitismus verschwimmen. Das wurde spätestens vergangenen Sommer während des Gaza-Krieges deutlich:
"Jude, Jude, feiges Schwein...!" Dass 70 Jahre nach dem Kriegsende so etwas wieder offen auf deutschen Straßen gegrölt wird, löst vor allem bei vielen Juden und Israelis in Deutschland Beklemmung aus. Erstmals sei Auswandern in seiner Gemeinde in Köln wieder ein ernsthaftes Thema, sagt Abraham Lehrer.
"Aus der Geschichte lernen Sie. Und eine Lehre, die wir gezogen haben, ist, dass wir uns rechtzeitig mit diesem Thema beschäftigen. Wir sind im Moment zu dem Ergebnis gekommen, es gibt noch keinen Grund, wegzugehen, aber es ist schon erschreckend, wenn Sie diese Rufe hören."
In Deutschland schwindet offenbar das Bewusstsein für die eigene Geschichte. Die Mehrheit der Deutschen möchte heute laut Umfragen lieber einen Schlussstrich unter das Thema Holocaust setzen. Und jeder fünfte junge Erwachsene kann mit dem Begriff "Auschwitz" nichts mehr anfangen. Das müsse ein Warnsignal sein, findet Reinhold Robbe von der SPD, seit fünf Jahren Präsident der deutsch-israelischen Gesellschaft:
"Da haben junge Leute heute eine ganz andere Einstellung. Die haben die Nazizeit nicht mehr erlebt, die können mit der Nazi-Diktatur kaum noch etwas anfangen, weil sie es nur aus Schulbüchern kennen. Deswegen müssen heute junge Menschen heute anders angesprochen werden als in der Vergangenheit."
Robbe ist überzeugt, es sind die persönlichen Begegnungen, die solche Vorurteile abbauen können, ob beim Israel-Tag oder beim Jugendaustausch. Er findet, das Problem wurde viel zu lange kleingeredet – auch in den eigenen Reihen:
" Wenn ich mir ab und zu Vorurteile anhöre oder einfach auch Informationsdefizite zur Kenntnis nehme, auch auf politischer Ebene. Da wird oftmals genauso gesprochen wie am Stammtisch. Nach dem Motto: 'Man wird ja auch noch mal sagen dürfen ...', und dann wird mir ganz anders, um es mal ganz deutlich zu sagen."