Christoph Heinemann: Aequam memento rebus in arduis servare mentem, das schrieb der Dichter Horaz. "Bedenke, auch in schwieriger Lage den Gleichmut zu bewahren." Horaz war bekanntlich kein Japaner, aber die leidgeprüften Menschen auf der ostasiatischen Insel führen die Haltung, die aus diesen Zeilen spricht, in vorbildlicher Weise vor. Man stelle sich kurz eine vergleichbare Lage in Deutschland vor, eine so disziplinierte und tapfere Fügung in das Schicksal einer Naturkatastrophe - und die steht in Japan nach wie vor im Vordergrund - wäre hierzulande vermutlich nicht zu erwarten.
Folker Streib hat lange Jahre als Chef der Commerzbank und als Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Tokio gelebt. In den 90er-Jahren schrieb er, zusammen mit dem Journalisten Meinolf Ellers ein viel beachtetes Buch, "Der Taifun. Japan und die Zukunft der deutschen Industrie", in dessen Mittelteil die Mentalität des aus westlicher Sicht rätselhaften Landes analysiert wird.
"Für den Beobachter ist Nippon wie eine Nation im Spiegelkabinett. Wenn er gerade glaubt, ein Bild fixiert zu haben, tauchen unterschiedlich verzerrte Variationen auf und machen es unmöglich, Schein und Wirklichkeit zu trennen. Statt Klarheit, statt des westlichen Entweder-oder verwirrt Japan den Suchenden mit immer neuen Widersprüchen und einem ewigen Sowohl-als-auch."
Heinemann: Folker Streib ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Folker Streib: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Streib, wie kamen Sie als Mann der Wirtschaft dazu, Antworten auf anthropologische Fragen zu suchen?
Streib: Ja nun, fast alle Mitarbeiter in Tokio in unserer Filiale sind Japaner und Voraussetzung für jedes menschliche Handeln ist ja, dass man sich versteht und dass man den anderen versteht. Und da das in Japan so schwierig ist - der ehemalige Chef der Lufthansa hat einmal gesagt, Herr Anselmino, es ist ein anderer Planet, und das stimmt -, deshalb habe ich natürlich versucht - und das war sehr spannend -, dahinter zu kommen, wie sie ticken. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Literatur, die ja Meinolf und ich auch versucht haben einzubringen, um zum Weiterlesen zu helfen, und man kann der Sache näher kommen, man muss sich aber dann auch dem Land stellen und man muss, was ganz wichtig ist, aus dieser deutschen Nabelschau, aus unserer absoluten Sicht irgendwie herauskommen.
Heinemann: Herr Streib, welche Tugenden erklären diesen aequam mentem, diesen offensichtlichen Gleichmut, mit dem die Japaner auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten reagieren?
Streib: Erstens mal ist das für uns Gleichmut, weil sie sich mimisch und weil sie sich anders artikulieren, anders kommunizieren. Im Inneren sind Japaner auch wie wir sehr, sehr engagiert und sehr, sehr betroffen, nur sie kommunizieren anders. Dass sie so ruhig sind, liegt daran, dass sie über Jahrhunderte eben ein Volk, ein hierarchisch gegliedertes Volk waren, wo jedem sein Platz zugewiesen war und wo die Erfüllung des Lebens nicht wie bei uns in der Selbstverwirklichung, sondern in der Erfüllung der Aufgabe in seiner Gruppe war.
Ein ganz kleines Beispiel: Der pater familias, der Familienvater, war bis Kriegsende, bevor die Amerikaner das geändert haben, eigentlich auch zivilrechtlich der Ansprechpartner. Das Individuum als Rechtssubjekt ist erst nach dem Krieg erfunden worden. Ein Beispiel: Ein japanischer Vater konnte seine Tochter auch per Vertrag an ein Bordell abgeben, und wenn die dann geflohen ist, dann hat die Polizei sie zur Vertragserfüllung zurückgebracht. Das heißt, dieses Land hat eine Tradition der Einhaltung von Verhaltensregeln, die bei uns - es gab sie früher auch bei uns - gar nicht mehr vorstellbar sind. Das heißt, alle unsere Begriffe treffen auf Japan - Demokratie, Rechtsstaat und alles das - eigentlich so nicht zu. Und diese Einpassung in die Gruppe, die Zurückhaltung in der eigenen Selbstdarstellung, die Aufgabenerfüllung für die anderen, das Pflichtenheft, was schon das Kind mitbekommt, das ist die Grundlage dafür, dass die Japaner, die ja gewohnt sind, wie alle Asiaten, seit Jahrtausenden mit Erdbeben, mit Monsunregen, mit den damit verbundenen Erdrutschen, mit Tsunamis und so weiter umzugehen, das ist der Grund dafür, dass sie dafür eben eine Mentalität entwickeln mussten und entwickelt haben, dieses überhaupt auszuhalten - nicht nur die Japaner.
Heinemann: Ist dieses Befolgen von Regeln ein Ersatz für Verantwortung?
Streib: Ja. Der große Maruyama-san - das ist der große politische Denker Japans nach dem Krieg -, der hat sehr klar mal ausgedrückt, dass Verantwortung und das, was wir darunter verstehen, so in Japan im Sinne von ethischen Begriffen nicht zu finden ist. Es geht hier um die Einhaltung von Verhaltensregeln. Das Ganze hat sich geändert natürlich, und ich bin jetzt ja auch schon eine ganze Weile aus Japan weg. Aber die Grundprinzipien dieser Gesellschaft, die mentalen und kulturellen, die haben sich trotz aller Verwestlichung in Äußerlichkeiten erhalten. Ich habe ja noch viel Kontakt zu Japan, bin auch öfters dort, und daran hat sich so viel, trotz dieser manchmal auch wirren Bilder aus Japan, im Grunde noch nicht so viel geändert.
Heinemann: Herr Streib, ist das Ertragen in der japanischen Kultur ein Wert an sich?
Streib: Ja, ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Ich rufe also meinen Freund an - der ist seit vielen Jahren Chef-Kameramann bei CNN -, nach dem Erdbeben, und sage: Jiro-san, wie geht's euch denn und so, wir machen uns Sorgen. Daraufhin sagt er: Streib-san, tomodachi, mein Freund, we are Japanese, ganbarimasu, wir kämpfen und wir jammern nicht. German Angst, sagt er, German Angst. Ganbaro, kämpfen heißt nicht, wie im amerikanischen Western oder amerikanischen Kriegsfilm, als Einzelkämpfer und als Gruppe zu siegen und zu gewinnen, sondern zu ertragen. Ein Beispiel: Wenn sie japanische Kriegsfilme sehen, dann sind das in unserem Sinne pazifistische Filme, weil über Stunden gezeigt wird, wie Japaner im Kampf gegen die Rote Armee in der Mandschurei oder sonst wo oder im Pazifik wie die Amerikaner leiden, leiden, leiden, hungern, frieren und so weiter. Völlig anders ist dieser Held dargestellt als bei uns, und dieses Ertragen, das ist in allen Bereichen Japans das, was einen Helden auszeichnet.
Heinemann: Herr Streib, ein Widerspruch zwischen Denken und Handeln gelte in Japan nicht als unmoralisch. Das schreiben Sie in Ihrem Buch. Sie haben eben gesagt, Japaner kommunizieren anders. Heißt das, dass Kommunikation vor allem durch Zwischentöne bestimmt wird?
Streib: Ja. Wir haben ja in Deutschland eine Diskussion darüber, warum zum Beispiel die japanische Regierung nicht mit allen Fakten auf den Tisch kommt. Ich weiß gar nicht, ob sie sie hätte. Bundeskanzler Schmidt hat ja gesagt, die Regierung muss nicht alles sagen, besonders wenn sie eine Panik verhüten will, aber was sie sagt, muss wahr sein. Tatemae und Honne heißt das auf Japanisch. Das, was man denkt und was man ehrlich meint, und das, was man sagt, kann und muss sogar manchmal auseinanderfallen. Ein offener Schlagabtausch, wie bei uns völlig üblich, dass man eine andere Meinung dem anderen ins Gesicht sagt, ist so in Japan nicht möglich. Aber die Japaner verstehen natürlich, was der andere meint, auch wenn es sehr, sehr indirekt ausgedrückt wird. Wir haben eine sehr gute und erfolgreiche Japanerin in Berlin-Brandenburg, die Deutschen und Japanern hilft, miteinander auszukommen, und die sagt, für sie ist das Schwierigste auch heute noch nach vielen Jahren in Deutschland, offen zu sein, offen in Diskussionen dem anderen zu sagen, was man meint. Das ist in Japan ein Gesichtsverlust, und deshalb diese Zurückhaltung. Die Japaner sagen - ich weiß nicht, ob ich das noch richtig zusammen kriege -, wenn sie wie wir, ein anderer Begriff, aufrichtig sind, dann sagen sie, schau den Frosch an, wie er sein Inneres zeigt, wenn er sein Maul aufreißt. Diese Zurückhaltung gehört dazu!
Ich will Ihnen mal ein Beispiel sagen, weil man eigentlich nur durch Geschichten das erfahren kann. Wir haben damals, wie auch unsere Nachfolger in Japan, dauernd Verhandlungen mit den Behörden gehabt und mit den japanischen Großfirmen über Marktzugang, und Japan ist ein geschlossener Markt, bei allen Verschönerungen. Wir Deutschen exportieren zum Beispiel nach Schweden und in die Schweiz mehr als nach Japan, das drittgrößte Wirtschaftsland der Welt. Und ich sitze zusammen mit meinem amerikanischen Kollegen, Engländern und Europäern, mit den Vertretern der großen Handelshäuser, mit Sumitomo, Mitsubishi und so weiter damals, und es ging um Marktzugang. Und unsere Partner, die Japaner, waren Japaner, die jahrzehntelang in Amerika gelebt haben, die auch dort Examen gemacht hatten, die auf ihren Visitenkarten neben Jiro Joshida auch noch ihren amerikanischen Spitznamen hatten wie Teddy oder so, und die haben sehr offen, fast auf europäische oder angelsächsische Art diskutiert, und zum Schluss sagt mein Bekannter - aber er ist weit über seinen Schatten gesprungen damit; er kannte mich, wir hatten auch schon zusammen ein Bier getrunken und uns unterhalten -, der Sumitomo-Chef sagt: Herr Streib, nur unter uns beiden, Sie kennen Japan, wir Japaner, die wir heute hier zusammen waren, könnten unser Leben lang nicht mehr an einem Tisch zusammensitzen, weil wir so offen gesprochen haben und im japanischen Sinn das natürlich Schläge ins Gesicht waren. Wir können es, weil es die besondere Situation war, weil wir den Meinungsaustausch kennen und weil Sie also dabei waren. - Nur mal als Beispiel, wie es funktioniert.
Heinemann: Herr Streib, erkennen Sie in der gegenwärtigen Berichterstattung aus Japan das Land, in dem Sie acht Jahre lang gelebt haben, wieder?
Streib: Ja, natürlich!
Heinemann: Sie sprachen eben von den wirren Bildern, die Sie gesehen hätten.
Streib: Das ist das, was mittlerweile auch in Deutschland als inzwischen übliche entsetzliche Event-Komik und diese furchtbare Fernsehsendungen oder diese ganze Kochkiste und so läuft - das kommt ja alles aus Japan. Das meine ich damit, dass in manchen Bereichen der unbefangene Beobachter zuerst denkt: Ja gut, die machen ja genau denselben Mist wie wir, oder haben dieselben westlichen Klamotten und alles das, und aus Japan kommt ja sogar viel in der Unterhaltungsindustrie. Aber die Grundvoraussetzungen: Wenn sie mit Japanern reden und wenn sie auch ein bisschen japanische Witze machen können und ihnen näher gekommen sind, dann kriegen sie auch mal Antworten.
Ich will Ihnen noch ein Beispiel aus Berlin sagen. Ein hoch angesehener japanischer Professor, der Deutschland liebt, hier lange lebt und gelehrt hat, der sagt mir - und der springt damit über seinen Schatten, weil er so offen ist: Herr Streib, sagen Sie mal, sind sie eigentlich alle hysterisch geworden in Deutschland. Er hat sich damals, vor ein paar Wochen oder so, den Parteitag der Grünen angeguckt und sagt: Können die sich, oder diese Roth, eigentlich nur hysterisch schreiend seit Jahren artikulieren. Die erzeugen doch eine Hysterie in Deutschland. - Das ein Japaner, der damit weit über seinen normalen Schatten gesprungen ist. Es wäre in Japan so eine Aussage überhaupt nicht möglich.
Heinemann: Folker Streib, der frühere Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Tokio. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Streib: Auf Wiederhören.
Folker Streib hat lange Jahre als Chef der Commerzbank und als Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Tokio gelebt. In den 90er-Jahren schrieb er, zusammen mit dem Journalisten Meinolf Ellers ein viel beachtetes Buch, "Der Taifun. Japan und die Zukunft der deutschen Industrie", in dessen Mittelteil die Mentalität des aus westlicher Sicht rätselhaften Landes analysiert wird.
"Für den Beobachter ist Nippon wie eine Nation im Spiegelkabinett. Wenn er gerade glaubt, ein Bild fixiert zu haben, tauchen unterschiedlich verzerrte Variationen auf und machen es unmöglich, Schein und Wirklichkeit zu trennen. Statt Klarheit, statt des westlichen Entweder-oder verwirrt Japan den Suchenden mit immer neuen Widersprüchen und einem ewigen Sowohl-als-auch."
Heinemann: Folker Streib ist jetzt am Telefon. Guten Morgen!
Folker Streib: Guten Morgen, Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Streib, wie kamen Sie als Mann der Wirtschaft dazu, Antworten auf anthropologische Fragen zu suchen?
Streib: Ja nun, fast alle Mitarbeiter in Tokio in unserer Filiale sind Japaner und Voraussetzung für jedes menschliche Handeln ist ja, dass man sich versteht und dass man den anderen versteht. Und da das in Japan so schwierig ist - der ehemalige Chef der Lufthansa hat einmal gesagt, Herr Anselmino, es ist ein anderer Planet, und das stimmt -, deshalb habe ich natürlich versucht - und das war sehr spannend -, dahinter zu kommen, wie sie ticken. Es gibt inzwischen eine Vielzahl von Literatur, die ja Meinolf und ich auch versucht haben einzubringen, um zum Weiterlesen zu helfen, und man kann der Sache näher kommen, man muss sich aber dann auch dem Land stellen und man muss, was ganz wichtig ist, aus dieser deutschen Nabelschau, aus unserer absoluten Sicht irgendwie herauskommen.
Heinemann: Herr Streib, welche Tugenden erklären diesen aequam mentem, diesen offensichtlichen Gleichmut, mit dem die Japaner auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten reagieren?
Streib: Erstens mal ist das für uns Gleichmut, weil sie sich mimisch und weil sie sich anders artikulieren, anders kommunizieren. Im Inneren sind Japaner auch wie wir sehr, sehr engagiert und sehr, sehr betroffen, nur sie kommunizieren anders. Dass sie so ruhig sind, liegt daran, dass sie über Jahrhunderte eben ein Volk, ein hierarchisch gegliedertes Volk waren, wo jedem sein Platz zugewiesen war und wo die Erfüllung des Lebens nicht wie bei uns in der Selbstverwirklichung, sondern in der Erfüllung der Aufgabe in seiner Gruppe war.
Ein ganz kleines Beispiel: Der pater familias, der Familienvater, war bis Kriegsende, bevor die Amerikaner das geändert haben, eigentlich auch zivilrechtlich der Ansprechpartner. Das Individuum als Rechtssubjekt ist erst nach dem Krieg erfunden worden. Ein Beispiel: Ein japanischer Vater konnte seine Tochter auch per Vertrag an ein Bordell abgeben, und wenn die dann geflohen ist, dann hat die Polizei sie zur Vertragserfüllung zurückgebracht. Das heißt, dieses Land hat eine Tradition der Einhaltung von Verhaltensregeln, die bei uns - es gab sie früher auch bei uns - gar nicht mehr vorstellbar sind. Das heißt, alle unsere Begriffe treffen auf Japan - Demokratie, Rechtsstaat und alles das - eigentlich so nicht zu. Und diese Einpassung in die Gruppe, die Zurückhaltung in der eigenen Selbstdarstellung, die Aufgabenerfüllung für die anderen, das Pflichtenheft, was schon das Kind mitbekommt, das ist die Grundlage dafür, dass die Japaner, die ja gewohnt sind, wie alle Asiaten, seit Jahrtausenden mit Erdbeben, mit Monsunregen, mit den damit verbundenen Erdrutschen, mit Tsunamis und so weiter umzugehen, das ist der Grund dafür, dass sie dafür eben eine Mentalität entwickeln mussten und entwickelt haben, dieses überhaupt auszuhalten - nicht nur die Japaner.
Heinemann: Ist dieses Befolgen von Regeln ein Ersatz für Verantwortung?
Streib: Ja. Der große Maruyama-san - das ist der große politische Denker Japans nach dem Krieg -, der hat sehr klar mal ausgedrückt, dass Verantwortung und das, was wir darunter verstehen, so in Japan im Sinne von ethischen Begriffen nicht zu finden ist. Es geht hier um die Einhaltung von Verhaltensregeln. Das Ganze hat sich geändert natürlich, und ich bin jetzt ja auch schon eine ganze Weile aus Japan weg. Aber die Grundprinzipien dieser Gesellschaft, die mentalen und kulturellen, die haben sich trotz aller Verwestlichung in Äußerlichkeiten erhalten. Ich habe ja noch viel Kontakt zu Japan, bin auch öfters dort, und daran hat sich so viel, trotz dieser manchmal auch wirren Bilder aus Japan, im Grunde noch nicht so viel geändert.
Heinemann: Herr Streib, ist das Ertragen in der japanischen Kultur ein Wert an sich?
Streib: Ja, ich gebe Ihnen mal ein Beispiel: Ich rufe also meinen Freund an - der ist seit vielen Jahren Chef-Kameramann bei CNN -, nach dem Erdbeben, und sage: Jiro-san, wie geht's euch denn und so, wir machen uns Sorgen. Daraufhin sagt er: Streib-san, tomodachi, mein Freund, we are Japanese, ganbarimasu, wir kämpfen und wir jammern nicht. German Angst, sagt er, German Angst. Ganbaro, kämpfen heißt nicht, wie im amerikanischen Western oder amerikanischen Kriegsfilm, als Einzelkämpfer und als Gruppe zu siegen und zu gewinnen, sondern zu ertragen. Ein Beispiel: Wenn sie japanische Kriegsfilme sehen, dann sind das in unserem Sinne pazifistische Filme, weil über Stunden gezeigt wird, wie Japaner im Kampf gegen die Rote Armee in der Mandschurei oder sonst wo oder im Pazifik wie die Amerikaner leiden, leiden, leiden, hungern, frieren und so weiter. Völlig anders ist dieser Held dargestellt als bei uns, und dieses Ertragen, das ist in allen Bereichen Japans das, was einen Helden auszeichnet.
Heinemann: Herr Streib, ein Widerspruch zwischen Denken und Handeln gelte in Japan nicht als unmoralisch. Das schreiben Sie in Ihrem Buch. Sie haben eben gesagt, Japaner kommunizieren anders. Heißt das, dass Kommunikation vor allem durch Zwischentöne bestimmt wird?
Streib: Ja. Wir haben ja in Deutschland eine Diskussion darüber, warum zum Beispiel die japanische Regierung nicht mit allen Fakten auf den Tisch kommt. Ich weiß gar nicht, ob sie sie hätte. Bundeskanzler Schmidt hat ja gesagt, die Regierung muss nicht alles sagen, besonders wenn sie eine Panik verhüten will, aber was sie sagt, muss wahr sein. Tatemae und Honne heißt das auf Japanisch. Das, was man denkt und was man ehrlich meint, und das, was man sagt, kann und muss sogar manchmal auseinanderfallen. Ein offener Schlagabtausch, wie bei uns völlig üblich, dass man eine andere Meinung dem anderen ins Gesicht sagt, ist so in Japan nicht möglich. Aber die Japaner verstehen natürlich, was der andere meint, auch wenn es sehr, sehr indirekt ausgedrückt wird. Wir haben eine sehr gute und erfolgreiche Japanerin in Berlin-Brandenburg, die Deutschen und Japanern hilft, miteinander auszukommen, und die sagt, für sie ist das Schwierigste auch heute noch nach vielen Jahren in Deutschland, offen zu sein, offen in Diskussionen dem anderen zu sagen, was man meint. Das ist in Japan ein Gesichtsverlust, und deshalb diese Zurückhaltung. Die Japaner sagen - ich weiß nicht, ob ich das noch richtig zusammen kriege -, wenn sie wie wir, ein anderer Begriff, aufrichtig sind, dann sagen sie, schau den Frosch an, wie er sein Inneres zeigt, wenn er sein Maul aufreißt. Diese Zurückhaltung gehört dazu!
Ich will Ihnen mal ein Beispiel sagen, weil man eigentlich nur durch Geschichten das erfahren kann. Wir haben damals, wie auch unsere Nachfolger in Japan, dauernd Verhandlungen mit den Behörden gehabt und mit den japanischen Großfirmen über Marktzugang, und Japan ist ein geschlossener Markt, bei allen Verschönerungen. Wir Deutschen exportieren zum Beispiel nach Schweden und in die Schweiz mehr als nach Japan, das drittgrößte Wirtschaftsland der Welt. Und ich sitze zusammen mit meinem amerikanischen Kollegen, Engländern und Europäern, mit den Vertretern der großen Handelshäuser, mit Sumitomo, Mitsubishi und so weiter damals, und es ging um Marktzugang. Und unsere Partner, die Japaner, waren Japaner, die jahrzehntelang in Amerika gelebt haben, die auch dort Examen gemacht hatten, die auf ihren Visitenkarten neben Jiro Joshida auch noch ihren amerikanischen Spitznamen hatten wie Teddy oder so, und die haben sehr offen, fast auf europäische oder angelsächsische Art diskutiert, und zum Schluss sagt mein Bekannter - aber er ist weit über seinen Schatten gesprungen damit; er kannte mich, wir hatten auch schon zusammen ein Bier getrunken und uns unterhalten -, der Sumitomo-Chef sagt: Herr Streib, nur unter uns beiden, Sie kennen Japan, wir Japaner, die wir heute hier zusammen waren, könnten unser Leben lang nicht mehr an einem Tisch zusammensitzen, weil wir so offen gesprochen haben und im japanischen Sinn das natürlich Schläge ins Gesicht waren. Wir können es, weil es die besondere Situation war, weil wir den Meinungsaustausch kennen und weil Sie also dabei waren. - Nur mal als Beispiel, wie es funktioniert.
Heinemann: Herr Streib, erkennen Sie in der gegenwärtigen Berichterstattung aus Japan das Land, in dem Sie acht Jahre lang gelebt haben, wieder?
Streib: Ja, natürlich!
Heinemann: Sie sprachen eben von den wirren Bildern, die Sie gesehen hätten.
Streib: Das ist das, was mittlerweile auch in Deutschland als inzwischen übliche entsetzliche Event-Komik und diese furchtbare Fernsehsendungen oder diese ganze Kochkiste und so läuft - das kommt ja alles aus Japan. Das meine ich damit, dass in manchen Bereichen der unbefangene Beobachter zuerst denkt: Ja gut, die machen ja genau denselben Mist wie wir, oder haben dieselben westlichen Klamotten und alles das, und aus Japan kommt ja sogar viel in der Unterhaltungsindustrie. Aber die Grundvoraussetzungen: Wenn sie mit Japanern reden und wenn sie auch ein bisschen japanische Witze machen können und ihnen näher gekommen sind, dann kriegen sie auch mal Antworten.
Ich will Ihnen noch ein Beispiel aus Berlin sagen. Ein hoch angesehener japanischer Professor, der Deutschland liebt, hier lange lebt und gelehrt hat, der sagt mir - und der springt damit über seinen Schatten, weil er so offen ist: Herr Streib, sagen Sie mal, sind sie eigentlich alle hysterisch geworden in Deutschland. Er hat sich damals, vor ein paar Wochen oder so, den Parteitag der Grünen angeguckt und sagt: Können die sich, oder diese Roth, eigentlich nur hysterisch schreiend seit Jahren artikulieren. Die erzeugen doch eine Hysterie in Deutschland. - Das ein Japaner, der damit weit über seinen normalen Schatten gesprungen ist. Es wäre in Japan so eine Aussage überhaupt nicht möglich.
Heinemann: Folker Streib, der frühere Präsident der Deutschen Industrie- und Handelskammer in Tokio. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Streib: Auf Wiederhören.