Leo der Große, der spätere Papst Leo I., war ein angesehener Kleriker und politischer Diplomat im Römischen Reich des 5. Jahrhunderts. Einem Reich, dem Leo in seinen Predigten göttliche Vorsehung zuwies. In seinen "Sermones" heißt es:
"Auf dass die Wirkung der unaussprechlichen Gnade über die ganze Welt verbreitet werde, hat die göttliche Vorsehung das Römische Reich bereitet. Dem göttlichen Weltplan war es am meisten gemäß, dass viele Reiche in einem Imperium verbunden würden und die allgemeine Predigt schnellen Zugang zu den Völkern habe, weil die Herrschaft einer einzigen Stadt sie alle unter sich hielt."
Dieser Text aus dem 5. Jahrhundert bringt einen entscheidenden Gedanken der frühchristlichen Interpretation des Zeitgeschehens zum Ausdruck, erklärt der emeritierte Althistoriker Werner Dahlheim von der Technischen Universität Berlin.
"Und dieser Grundgedanke lautet: Es ist ein Akt der göttlichen Vorsehung gewesen, dass der Vater seinen Sohn auf die Erde schickt und gleichzeitig Augustus das Imperium in die Hand gibt. Ein Imperium, das ein Imperium des Friedens war."
So sehen es die frühen Christen. Sie haben das Bild von Augustus über Jahrhunderte maßgeblich geprägt. Aber auch das Wirken des Augustus hat auf die Ausbreitung des Christentums erheblichen Einfluss gehabt. Das Bild, das die antiken Quellen von Augustus, geboren als Gaius Octavius, zeichnen, ist das schillernde Porträt eines Herrschers voller Widersprüche. Er war Stratege, Machtmensch und Versöhner. Friedensstifter und Kriegstreiber. Bis heute ist die historische Forschung uneins, welche Facette seines Tuns sie in den Vordergrund stellen soll.
Aus dem Lukas-Evangelium:
"In jenen Tagen erließ Kaiser Augustus den Befehl, alle Bewohner des Reiches in Steuerlisten einzutragen. Dies geschah zum ersten Mal; damals war Quirinius Statthalter von Syrien. Da ging jeder in seine Stadt, um sich eintragen zu lassen."
Als Lukas die Geburtsgeschichte etwa im Jahr 90 aufschreibt, greift er einen Grundgedanken auf, der erst sehr viel später seine eigentliche Bedeutung entfalten sollte. Althistoriker Werner Dahlheim:
"Und dieser Grundgedanke lautet: Es ist kein historischer Zufall, dass Jesus geboren wurde, als in Rom ein Reich des Friedens durch einen Mann namens Augustus begründet wurde."
Für Dahlheim ist dies die erste von vier Stufen, bei denen die christliche Überlieferung das Heilsgeschehen und die Geschichte des römischen Reiches als von Gott gewollte parallele Ereignisse zeichnet. Die zweite Stufe betrifft Pilatus, den Statthalter des Augustus. Er spricht im Prozess gegen Jesus das Todesurteil: Ein Römer, der den christlichen Messias hinrichten lässt. Doch die Evangelien zeichnen das Bild eines Mannes, der seine Hände in Unschuld wäscht und nicht für die Kreuzigung Jesu verantwortlich sein will. Denn:
"Wäre es bei diesem Gedanken geblieben, hätte es keinen Frieden mit Rom und mit Augustus geben können. Daher sprechen alle vier Evangelisten Pontius Pilatus von der Schuld am Tod Jesu frei, in vielerlei Winkelzügen erklären und füllen sie mit Anschauung, dass Pilatus allein aufgrund des jüdischen Drucks sein Urteil sprach."
Die dritte Stufe folgt Ende des 2. Jahrhunderts. Mehr und mehr Kirchenväter gehen jetzt davon aus, dass auch das römische Imperium mit dem Erscheinen Jesu angewachsen sei.
So richtet Melito von Sardes, Bischof und Schriftsteller, im zweiten Jahrhundert nach Christus folgende Worte an Marc Aurel:
"Es wirkte sich zum Wohl des Reiches aus, dass unsere Lehre von Anfang an mit dem Reich erblühte, das einen glücklichen Beginn erlebt hatte; der beste Beweis dafür ist, dass seit der Herrschaft des Augustus dem Reich nichts Schlimmes zustieß, sondern im Gegenteil alles glänzend und ruhmvoll verlief, wie alle es sich wünschten."
Die vierte Stufe ist durch Widerstand der Heiden gegen diese Position geprägt. Sie beginnt mit der Zerstörung Roms im Jahr 410 durch die Westgoten. Nun ist für die Christen klar: Gott schützt das Imperium und dessen Hauptstadt Rom nicht mehr.
"Mit Augustinus zerfällt im Grunde die alte Gleichung, die besagte, die Geburt des Gottessohnes und das Kaisertum des Augustus sind beides göttliche Entscheidungen. Jetzt ist klar, die reale Geschichte und die Heilsgeschichte fallen auseinander. Dies aber, und das ist gewissermaßen ein letzter Akt, hat nicht alle überzeugt, wie man an dem Beispiel Leo des Großen sieht, und das ganze Mittelalter hat an der Vorstellung festgehalten, dass Gott zwei Entscheidungen um die Zeitenwende getroffen hat: Seinen Sohn auf die Erde zu schicken, um die Menschen zu erlösen, und Augustus auf die Erde zu schicken, um der Welt den Frieden zu bringen."
Augustus schaffte ein friedvolleres Reich
Jesus konnte als Erlöser erst auf die Erde kommen, als Augustus das Reich des Friedens errichtet hatte – dieser Gedanke festigt sich nach der Christianisierung des römischen Reichs in der Spätantike. Die Pax Augusta und die Pax Christiana gehen ineinander auf.
"Die Christen sind immer wieder gefragt worden, warum hat Gott seinen Sohn so spät auf diese Welt geschickt, warum nicht 1000 Jahre früher? Der entscheidende Grund ist klar: Er konnte erst dann kommen, als Augustus das Reich des Friedens aufrichtete, denn erst dann war die Ausbreitung des Glaubens möglich."
Dass es überhaupt zu einer so engen Verbindung zwischen der historischen Figur des Augustus und dem Christentum kommen konnte, liegt – so Werner Dahlheim – an dem Kult um den römischen Herrscher, den dieser selber eingeleitet hat - dem so genannten Kaiserkult. Augustus' Herrschaft musste durch die Entscheidung der Götter, dass er der von ihnen Erwählte ist, gefestigt werden.
"Das heißt wiederum, von Britannien bis nach Syrien beteten Millionen von Menschen dasselbe Gebet für das Wohl des einen Kaisers, des Augustus, und für den Erhalt seiner Herrschaft, für seine Gesundheit und den Frieden, den er hergestellt hatte. Zum ersten Mal in der antiken Welt gibt es einen Gott für alle, und dieser Gott ist der römische Kaiser. Insofern wetterleuchtet durch den Kaiserkult bereits die Verehrung des einen christlichen Gottes, der seit dem 4. Jahrhundert das Zepter übernimmt."
Augustus schaffte ein Reich, in dem nicht ständig mit Krieg gerechnet werden musste. Das Reisen wurde leichter - auch für jene, die auszogen, um die Botschaft eines gekreuzigten und auferstandenen Nazareners zu verbreiten.
Erst später, unter Kaiser Decius, begann die römische Obrigkeit systematisch die Christen zu verfolgen. Aber, so erklärt der Historiker Werner Dahlheim:
"Die ersten drei Jahrhunderte lebten die Christen in Frieden, weil sie den Frieden mit Rom geschlossen hatten. Hätten die Christen ihren Frieden mit Rom nicht gemacht, gäbe es sie heute nicht."