Lambsdorff sagte im Deutschlandfunk, zur Bekämpfung der Fluchtursachen in Syrien und im Irak gehöre auch die Bekämpfung der Terrormiliz "Islamischer Staat". Insofern begrüße er es, dass auch die Franzosen darüber nachdächten, sich an den Luftangriffen der internationalen Militärallianz zu beteiligen. "Es wird aber nicht funktionieren, ohne dass man auch am Boden Aktivitäten entfaltet", betonte der FDP-Politiker.
Mit Interesse beobachte er in diesem Zusammenhang, dass auch Russland aktiver werde und offensichtlich vorhabe, die Regierung Assad stärker zu unterstützen. "Das ist zwar unter den gegebenen Umständen keine schöne Lösung, aber das geringere Übel im Vergleich zu einer Situation, in der der IS Syrien komplett kontrolliert."
In Bezug auf die Flüchtlingspolitik der EU sprach sich Lambsdorff dafür aus, ein verbindliches System zur Verteilung der Migranten zu schaffen, dem sich andere, derzeit noch unwillige EU-Staaten später anschließen könnten. Die Dublin-Verordnung, nach der sich Flüchtlinge in dem Land registrieren müssen, in dem sie erstmals EU-Boden betreten haben, sei jedenfalls gescheitert. Lambsdorff warf der Bundesregierung vor, zu lange daran festgehalten zu haben.
Das Interview in voller Länge:
Tobias Armbrüster: 800.000 Flüchtlinge nimmt Deutschland in diesem Jahr voraussichtlich auf. Mehr als sechs Milliarden Euro stellt die Bundesregierung dafür im kommenden Jahr zusätzlich bereit. Aber Deutschland steht mit dieser Art von Hilfe ziemlich allein da in der EU. Viele Länder gewähren fast gar kein Asyl. Einige sagen sogar ganz offen, dass sie sich in dieser aktuellen Katastrophe gar nicht weiter engagieren wollen.
Am Telefon ist jetzt Alexander Graf Lambsdorff von der FDP, Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Schönen guten Morgen, Graf Lambsdorff.
Alexander Graf Lambsdorff: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
Armbrüster: Herr Graf Lambsdorff, werden wir in den kommenden Tagen jetzt den großen Stimmungsumschwung in der EU erleben? Werden dann auf einmal alle kooperativ?
Graf Lambsdorff: Kooperativ geworden ist definitiv Frankreich. Das ist ein großer Fortschritt. Es war auch richtig, dass man versucht hat, hier Deutschland und Frankreich zusammenzukoppeln. Ohne das geht es nicht in Europa. Kooperativer geworden ist Großbritannien, das ja vorher eine Little England Politik angekündigt hatte und überhaupt niemanden aufnehmen wollte. Hier hat der politische Druck Wirkung gezeigt. Völlig offen ist aber die Frage, was machen unsere Nachbarn im Osten, was machen Polen, Tschechien, die Slowakei. Bei Ungarn sehen wir, wie die Politik sich abspielt. Mit anderen Worten: Die Diskussion läuft, die Dinge sind im Fluss. Ich glaube aber, dass es noch zu früh wäre zu sagen, dass wir hier schon am Ziel sind, was eine europäische Politik insgesamt angeht.
"Länder sperren sich gegen einen verbindlichen Plan"
Armbrüster: Die EU-Kommission, wir haben es gerade gehört, will morgen einen sogenannten Notfall-Mechanismus vorlegen. 120.000 Flüchtlinge sollen damit auf die Mitgliedsländer verteilt werden. Wie sicher können wir sein, dass das angenommen wird in der EU?
Graf Lambsdorff: Ich glaube, man kann da nicht sicher sein. Die Länder sperren sich zum Teil gegen einen verbindlichen Plan. Die Korrespondentin hat das ja eben auch gesagt. Selbst im Papier der Bundesregierung ist nicht von einer Quote die Rede, obwohl die natürlich offenkundig erforderlich ist. Ich glaube, worauf es ankommen wird ist, dass man zunächst aber auf jeden Fall mal ein System schafft. Die FDP hat deswegen vorgeschlagen, dass die Länder, die bereit sind, bei einer solchen Quote mitzumachen, sich auf jeden Fall darauf verständigen, unabhängig davon, ob schon alle von Anfang an mitmachen, alle anderen Länder, damit man dann ein anschlussfähiges System hat und Länder, die es sich vielleicht später überlegen, sich dem System dann anschließen können.
Armbrüster: Das heißt, weiteren Druck müssen wir gar nicht ausüben?
Graf Lambsdorff: Doch. Natürlich müssen wir weiteren Druck ausüben. Aber es ist viel leichter, Herr Armbrüster, Druck auszuüben auf Länder, die sich ihrer Verantwortung entziehen, wenn man ein ganz konkretes System hat, dem diese Länder sich anschließen können, als wenn man eine "abstrakte, freiwillige, solidarische Verteilung“ hat, bei der die Länder nicht genau wissen, was auf sie zukommt. Hier hat die Kommission einen Vorschlag gemacht oder wird ihn machen morgen hier in Straßburg im Europäischen Parlament. 120.000 Flüchtlinge, um die geht es, und da gibt es einen ganz klaren Satz von Kriterien, nach denen die Länder verteilt werden. Sollte sich beispielsweise Polen entscheiden, doch noch in die europäische Solidarität mit einzutreten, dann weiß es ganz genau, um welche Zahl von Flüchtlingen es geht und dann ist der politische Druck erheblich leichter zu machen, als wenn das abstrakt und unkonkret ist.
"Bestimmte Länder müssen vorangehen"
Armbrüster: Aber die Polen haben ja ähnlich wie auch die Slowaken und die Ungarn bereits klar gemacht, dass sie überhaupt kein Interesse daran haben, Flüchtlinge langfristig aufzunehmen. Woher dann Ihr Optimismus mit diesem System?
Graf Lambsdorff: Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich bin nicht optimistisch oder gar naiv in dieser Frage. Ich glaube nur, dass ähnlich wie bei Schengen oder wie beim Euro Länder, die bereit sind, voranzugehen in der Europäischen Union, vorangehen müssen. So funktioniert Europa. Wir sind inzwischen eine Union aus 28 Mitgliedsstaaten. Es kann nicht erwartet werden bei so großen politischen Fragen, dass alle Länder von Anfang an sofort etwas mitmachen. Deswegen ein anschlussfähiges System zu schaffen, das macht es möglich, politischen Druck auszuüben. Diesen Druck hat die Bundesregierung in der Vergangenheit einfach nicht genug ausgeübt, das muss man deutlich sagen, sondern sie hat auf der funktionsuntauglichen Dublin-Verordnung beharrt. Sie tut das ja formell immer noch. Ich glaube, das muss sich ändern. Wir brauchen ein System mit einem richtigen Verteilungsschlüssel.
"Dublin-Verordnung ist funktionsuntauglich"
Armbrüster: Ist die Dublin-Verordnung denn überholt?
Graf Lambsdorff: Ja, und sie ist seit langem überholt. Hier ist eine Situation eingetreten, von der wir schon seit langem wissen, dass sie eines Tages kommen würde. Rom und Athen haben viele Jahre darauf hingewiesen, dass die Flüchtlingssituation, die ja vorher nicht so dramatisch war, aber durchaus auch spürbar - wir erinnern uns an die Vorfälle vor Lampedusa -, dass dieses System nicht funktionieren kann, dass Dublin abgelöst werden muss. Das ist übrigens eine Position, die auch die FDP seit vielen Jahren vertritt. Aber insbesondere die Unions-Parteien haben immer darauf beharrt, dass wir genau dieses System behalten, und dementsprechend auf Wunsch insbesondere von CDU und CSU hat Deutschland Italien und Griechenland hier die kalte Schulter gezeigt. Das System ist funktionsuntauglich. Es ist das System, das wir im Moment haben, und wir sehen, wo es hingeführt hat, nämlich in eine Situation, die absolut unhaltbar ist.
"Bewältigung der humanitären Aufgabe steht an erster Stelle"
Armbrüster: Graf Lambsdorff, wenn wir uns jetzt mal wegbewegen und mal den Blick weiten auf die ganz konkreten Umstände, da haben wir ja in den vergangenen Tagen wirklich unschöne dramatische Bilder gesehen und auch Statements gehört von vielen Flüchtlingen, die aus diesen Lagern kommen. Da ist die Rede unter anderem in Ungarn davon, dass die Menschen dort unter freiem Himmel schlafen müssen, dass sie sogar noch nicht mal genug zu essen und zu trinken bekommen, auch die kleinen Kinder nicht. Ist das nicht eher ein Fall, wo wir uns ganz aktuell drum kümmern müssen, dass zumindest die Standards in diesen Flüchtlingslagern, dass die in Europa zumindest einigermaßen angeglichen werden?
Graf Lambsdorff: Herr Armbrüster, was ich Ihnen jetzt sage, das wird vielleicht die Zuhörerinnen und Zuhörer überraschen. Wir haben diese Standards eigentlich vereinbart. Es gibt einheitliche Standards für die Anerkennung von Asylanten in der Europäischen Union. Es gibt auch einheitliche Mindeststandards bei der Versorgung. Es gibt auch ein System der Registrierung, das vereinbart ist, inklusive der Abnahme von Fingerabdrücken. Das Ganze heißt Eurodac (European Dactyloscopy). Unser Problem ist: Die Mitgliedsstaaten setzen das nicht um. Italien und Griechenland sind überfordert, schicken die Leute nach Norden. Ungarn treibt eine Politik der bewussten Härte gegenüber den Schwächsten, was ich persönlich für politisch völlig inakzeptabel halte. Das heißt, die Mitgliedsstaaten entziehen sich dem europäischen System, das sie selber mit vereinbart haben. Sie verletzen die Regeln, die sie sich selbst gegeben haben. Und Sie haben völlig Recht: In allererster Linie und vor allen anderen Dingen steht die Bewältigung der humanitären Aufgabe, das heißt eine angemessene Mindestversorgung für Flüchtlinge. Die muss jeder politischen Diskussion vorangehen.
Armbrüster: Wie macht sich dieser Konflikt eigentlich bei Ihnen im Europaparlament bemerkbar? Hat sich da atmosphärisch was geändert, wenn jetzt zwischen die Länder so große, ich sage mal, Gräben gerissen werden, wenn die sich so verhalten, dass sie sich nicht gegenseitig an Regeln halten, sich beschuldigen und beschreiben, dass sie solche Standards verletzen? Macht sich das in der Zusammenarbeit unter den Abgeordneten bemerkbar?
Graf Lambsdorff: Bisher kann ich berichten, hier im Europäischen Parlament ist das kein großes Thema, weil die großen Länder, Spanien, Italien, Deutschland, Frankreich, aber auch unsere britischen Kollegen parteiübergreifend, fraktionsübergreifend der Meinung sind, dass hier die Regeln einzuhalten sind. Das heißt diejenigen, die aus den Ländern kommen, die das eben nicht tun, insbesondere Ungarn, sind eine so kleine Minderheit, dass die Atmosphäre insgesamt sich hier nicht geändert hat. Im Gegenteil: Das Europäische Parlament wird den Vorschlag der europäischen Kommission mit Sicherheit mit breiter Mehrheit unterstützen, und ich hoffe, dass dann die Mitgliedsstaaten sich endlich auch in die richtige Richtung bewegen werden.
"Bekämpfung der Fluchtursachen gehört mit dazu"
Armbrüster: Jetzt hören wir aus Großbritannien und Frankreich außerdem die Nachricht, dass sich beide Länder künftig an den Luftschlägen gegen Syrien beteiligen wollen, gegen den IS in Syrien. Können wir da sagen, werden die Europäer langsam mit reingezogen in die Ursache dieser Krise?
Graf Lambsdorff: Es ist ja so, dass die Bekämpfung der Fluchtursachen mit eines der großen Pakete ist, das in der gesamten Situation hier mit bedacht werden muss, und zur Bekämpfung der Fluchtursachen gehört selbstverständlich auch, dass man den sogenannten Islamischen Staat bekämpfen muss. Frankreich und England schließen sich jetzt dieser Allianz der Länder an, die das bereits tun. Auch die USA sind ja im Norden des Irak aktiv, andere Länder - es sind insgesamt 60 Länder in dieser Allianz. Ich halte das persönlich für richtig. Allerdings wird das Ganze nicht funktionieren, ohne dass man auch auf dem Boden Aktivitäten entfaltet. Ich sehe mit Interesse, dass ausgerechnet Russland, das ja im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen alle Maßnahmen in Syrien bisher blockiert hat, dort jetzt offenbar aktiver wird. Mit anderen Worten: Hier kommt auch außen-, sicherheits- und militärpolitisch Bewegung in die Sache. Alles was dazu beitragen kann, den Islamischen Staat zu besiegen und die staatliche Stabilität in Syrien wiederherzustellen, ist eine Bekämpfung der Fluchtursachen. Insofern sollten wir das begrüßen, was Franzosen und Engländer hier tun.
Armbrüster: Habe ich Sie da jetzt richtig verstanden, dass Sie für einen Einsatz von Bodentruppen in diesem Konflikt plädieren?
Graf Lambsdorff: Nein. Ich habe gesagt, dass ich feststelle, und wenn Sie verschiedene Nachrichtenportale sehen, zeigt sich auch, dass offensichtlich Russland stärker Unterstützung gewährt in Syrien der Regierung Assad. Wir haben eine Situation in Syrien, in der es verschiedene Szenarien gibt, wie es weitergehen kann. Ein Szenario sieht so aus, dass der Islamische Staat das Land komplett unter seine Kontrolle bringt. Ein anderes Szenario ist die Fortsetzung des Bürgerkrieges mit der Flucht, die wir jetzt im Moment sehen. Und ein drittes Szenario ist die Wiederherstellung der staatlichen Kontrolle über große Teile oder die größten Teile des Staates Syrien durch die Regierung Assad. Ich glaube, dass die Politik Russlands darauf abzielt, dieses dritte Szenario herbeizuführen, die Regierung Assad zu stabilisieren und militärisch stärker zu unterstützen. Ich glaube, dass das unter den gegebenen Umständen keine schöne Lösung ist, aber das geringere Übel im Vergleich zu einer Situation, in der der Islamische Staat Syrien komplett kontrolliert.
Armbrüster: … sagt hier bei uns im Deutschlandfunk Alexander Graf Lambsdorff, der Vizepräsident des Europäischen Parlaments. Vielen Dank für Ihre Zeit heute Morgen.
Graf Lambsdorff: Ich danke Ihnen, Herr Armbrüster.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.