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Kampf gegen Kurdenmiliz YPG
"Türkei führt Angriffskrieg auf syrischem Territorium"

Die Kurden im Norden Syriens verstünden sich als "sozialrevolutionäre Bewegung", die nach Autonomie von den Syrern strebe, sagte Nahost-Experte Michael Lüders im Dlf. "Sie ist liiert mit der PKK." Dennoch seien die Angriffe der Türkei auf die kurdische YPG völkerrechtswidrig.

Michael Lüders im Gespräch mit Dirk Müller |
    Türkische Panzer fahren am 21.01.2018 in der Provinz Hatay, Türkei, in der Nähe der syrischen Grenze. Die Türkei hat mit einer groß angelegten Militär-Offensive gegen kurdische Verbände in Syrien international Besorgnis ausgelöst.
    In der Operation Olivenzweig greifen türkische Soldaten Kurdenmilizen im Norden Syriens an – zum Teil mit aus Deutschland gelieferten Waffen und Panzern (picture alliance / dpa / XinHua /dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++)
    Dirk Müller: Deutsche Waffen, deutsche Waffentechnologie ist mit beteiligt an der Offensive der türkischen Militärs, direkt oder auch indirekt, je nach Perspektive. Deutsche Leopard-II-Panzer werden benutzt, um Kurden in Syrien zu töten, so der Vorwurf. Ankara spricht von Selbstverteidigung, davon, die eigenen Sicherheitsinteressen zu wahren. Wie verhält sich jetzt in dieser Situation die Bundesregierung?
    Die Türken mit deutschen Waffen, mit deutschen Panzern gegen die Kurden im Norden Syriens. Das ist der Vorwurf. Eine Offensive gegen kurdische Einheiten, die an der Seite der Amerikaner gegen den IS gekämpft haben. – Am Telefon begrüße ich nun den Nahost-Experten und Politikberater Michael Lüders. Guten Tag.
    Michael Lüders: Schönen guten Tag, Herr Müller. Hallo!
    Müller: Herr Lüders, tötet die Türkei westliche Verbündete?
    Lüders: Na ja. Wenn man es auf die Spitze treiben will, kann man in der Tat sagen, dass die Kurden jetzt einen hohen Preis bezahlen. Die Kurden haben einen wesentlichen Anteil an der Bekämpfung des Islamischen Staates in Syrien wie auch im Irak geleistet und waren enge Verbündete der USA, vor allem in Syrien.
    Und nun hat sich eine neue geopolitische Konstellation aufgetan. Das Vorgehen der türkischen Regierung ist eine unmittelbare Reaktion auf Bestrebungen der USA, im Norden Syriens, vor allem in den kurdischen Gebieten, eine sogenannte Sicherheitszone einzurichten. Die USA (Außenminister Rex Tillerson) sprachen davon, bis zu 30.000 US-Soldaten dort zu stationieren mit dem Ziel, ein Wiedererstarken des Islamischen Staates zu verhindern, vor allem aber den erstarkenden Einfluss Irans auf syrischem Gebiet zurückzudrängen.
    Und vor diesem Hintergrund ist diese türkische Offensive zu sehen. Erdogan hatte die Sorge, dass die Amerikaner hier Fakten schaffen könnten und die Zusammenarbeit mit der YPG und den USA und der amerikanischen Armee noch enger werden könnte, und nun hat er sozusagen präventiv aus seiner Sicht gehandelt, indem er jetzt der YPG den Krieg erklärt hat und nun diesen Krieg in den Norden Syriens getragen hat. Die Amerikaner haben nun einen teilweisen Rückzug angetreten, haben gesagt, na ja, das können wir gerade noch so akzeptieren. Sie versuchen zu deeskalieren. Aber jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen.
    "Kurden haben zunächst einmal keine Verbündeten"
    Müller: Ich muss noch mal auf die Ausgangsposition, die Ausgangsfrage zurückkommen, Herr Lüders. Die YPG, sagen Sie – das sind die kurdischen Einheiten, von denen wir im Moment reden und berichten, die im Norden Syriens jetzt agieren und agiert haben, gegen den IS gekämpft haben; auch Berlin sieht ja diese YPG als Verbündeten an –, die Türkei geht jetzt massiv militärisch dagegen vor. Anders herum gefragt: Kann das türkische Vorgehen unter den Gesichtspunkten, die Sie geschildert haben, legitim sein?
    Lüders: Nein, es ist nicht legitim, völkerrechtlich ganz gewiss nicht, denn die Türkei führt einen Angriffskrieg auf syrischem Territorium, und ein solcher Angriffskrieg auf fremdem Gebiet ist grundsätzlich nicht völkerrechtskonform und insofern zu verurteilen. Die Kurden im Norden Syriens haben das Problem, dass sie lange Zeit als, um es mal deutlich auszusprechen, nützliche Idioten gedient haben im Kampf gegen den Islamischen Staat und nun von ihren amerikanischen Verbündeten geopfert werden, weil natürlich aus amerikanischer Sicht der NATO-Partner Türkei ungleich gewichtiger ist als eine Kurden-Miliz im Norden Syriens.
    Müller: Die Kurden waren zweckdienlich und werden jetzt massakriert.
    Lüders: Zumindest stehen sie jetzt mit dem Rücken zur Wand, denn sie haben zunächst einmal keine Verbündeten. Die Amerikaner werden sie nicht unterstützen, die Europäische Union auch nicht. Russland hat signalisiert, dass man das türkische Vorgehen nicht billigt, aber man wird den Kurden im Norden Syriens nicht militärisch beistehen. Die Russen haben ihre Soldaten aus der Region Afrin abgezogen, um nicht in die Kämpfe verwickelt zu werden. Es ist also eine sehr komplexe Gemengelage.
    Vielleicht noch mal zur Erklärung: Die Kurden im Norden Syriens leben entlang eines Grenzstreifens, der sich über 30 Kilometer ins Landesinnere erstreckt. Von diesen ursprünglich drei territorialen Einheiten, die nicht miteinander verbunden waren, haben die YPG, die kurdischen Volksverteidigungskräfte, wie sie sich nennen, zwei dieser drei Enklaven territorial zusammengeführt. Lediglich die westlichste Enklave um Afrin herum steht isoliert, ist nicht Teil dieses kurdischen Korridors, und die türkische Armee versucht jetzt zu verhindern, dass ein solcher Korridor entsteht und diese nordsyrischen Kurden nun in der Lage wären, sich mit der PKK zu verbinden, die in der Türkei und anderswo als Terrororganisation gilt.
    "Ein sehr riskantes Spiel, das Erdogan hier fährt"
    Müller: Reden wir noch einmal über Verbündete, Herr Lüders, oder Ex-Verbündete. Wir haben aus Washington in den vergangenen Wochen immer wieder Signale gehört, klare Warnrufe, ich will nicht sagen Drohungen, aber doch klare Hinweise darauf, dass die Amerikaner eine mögliche Intervention nicht mittragen würden. Jetzt sagen Sie, wenn ich Sie richtig verstanden habe, die Amerikaner haben das ganze Projekt schon aufgegeben, sie werden dagegen nichts unternehmen, und haben die Kurden damit im Stich gelassen. Ist das für Sie ausgemachte Sache?
    Lüders: Ja. Die amerikanische Regierung, deren Pläne mit Blick auf Nordsyrien nie sehr konkret waren – es gab Absichtserklärungen, bis zu 30.000 Soldaten, wie gesagt, sollten dort stationiert werden. Außenminister Rex Tillerson hat aber jetzt in den letzten zwei Tagen zurückgerudert und hat der Türkei signalisiert, dass man verstehen könne, dass die Türkei aktiv den Terrorismus bekämpfe. Für die Kurden also eine unangenehme Situation. Aber nichtsdestotrotz: Man unterschätze nicht die militärischen Möglichkeiten der Kurden im Norden Syriens. Zum einen sind sie den Guerilla-Kampf gewohnt. Sie haben den erprobt in den letzten Jahren in ihrem Kampf gegen den Islamischen Staat. Zum anderen verfügen sie über beste Waffen, aus den Beständen der USA insbesondere, und sie können sich durchaus über einen längeren Zeitraum gegen die Türkei zur Wehr setzen.
    Vor allem besteht jetzt die Gefahr, dass radikalisierte Kurden in der Türkei Terroranschläge verüben, und das Ganze wird natürlich zu einer massiven Eskalation beitragen. Die türkische Regierung geht ausschließlich militärisch gegen die Kurden vor, hat aber kein politisches Angebot, weder an die Kurden im eigenen Land, in der Türkei, noch gegenüber den Kurden im Norden Syriens, und das ist ein sehr riskantes Spiel, das Erdogan hier fährt. Es kann gut gehen, wenn es ihm gelingt, innerhalb der nächsten, sagen wir, zehn bis 14 Tage einen vermeintlichen Sieg zu vermelden. Wenn sich das Ganze aber hinzieht, wenn das Ganze blutig wird und wenn es Terroranschläge gibt in der Türkei, dann hat Erdogan ein massives innenpolitisches Problem.
    Müller: Die YPG, ist das eine Terrororganisation?
    Lüders: Das ist eine Frage der Perspektive. Sie ist in der Tat liiert mit der PKK und aus türkischer Sicht eine Terrororganisation. Das sieht auch die Europäische Union so, ebenso die USA. Wenn man sich die Hintergründe genau betrachtet, dann versuchen die Kurden im Norden Syriens und auch die Kurden in der Türkei einen anderen Weg zu gehen als die Kurden im Norden des Iraks. Es gibt ja keinen kurdischen Staat und geschichtlich gesehen sind die Kurden im Norden des Iraks eigentlich die konservativsten. Sie haben sich entlang alter Clan- und Stammesstrukturen organisiert und der Bersani- und der Talabani-Clan, die sind die jeweiligen Herrscher im Norden des Iraks und sie haben gute Beziehungen zur Türkei, während aber die Kurden im Norden Syriens und die Kurden in der Türkei sich von diesen Stammes- und Clan-Allianzen versuchen zu lösen. Sie verstehen sich als eine "sozialrevolutionäre" Bewegung. Für sie spielt Religion keine Rolle und sie sehen Frauen als gleichberechtigt an mit den Männern.
    Nordsyrische Kurden wollen "regionale Eigenstaatlichkeit"
    Müller: Das heißt, eigener kurdischer Staat, Nationalismus?
    Lüders: Nicht unbedingt. Die Kurden im Norden Syriens wollen vor allem Autonomie von den Syrern und sie wollen natürlich auch eine regionale Eigenstaatlichkeit, aber möglicherweise im Zusammenwirken mit der syrischen Regierung. Die Verhältnisse sind hier nicht klar geklärt. Aber die Kurden in Syrien wissen natürlich genau, dass sie auf Dauer nicht als Binnenstaat ohne Zugang zum Meer, ohne Zugang zu internationalen Verkehrswegen agieren können, und da die Türkei ein Feind ist, bleibt eigentlich nur die syrische Regierung, das syrische Regime als Ansprechpartner.
    Müller: Herr Lüders, wenn wir noch ein bisschen sortieren. Sie haben eben gesagt, die arbeiten zusammen, diese YPG mit der PKK. Die PKK ist offiziell nicht nur in der Türkei, sondern auch von der Europäischen Union als Terrororganisation angesehen. Ich muss jetzt noch einmal fragen. Heißt das jetzt automatisch auch, dass die YPG, obwohl sie ja Verbündeter der Amerikaner war und die Berliner sie auch im Kampf gegen den IS als Verbündete angesehen haben, dann doch in ihrem Kern und vor allen Dingen, wenn sie ausgedient haben in dieser IS-Bekämpfungsfunktion, eine Terrororganisation sind?
    Lüders: Aus türkischer Sicht ist das in der Tat so und die westlichen Staaten müssen sich natürlich fragen, die USA, die Europäer, auch die Deutschen, welche Politik sie jetzt fahren wollen, ob sie sich der türkischen Sichtweise anschließen wollen, oder ob sie die YPG weiterhin als einen wichtigen Bestandteil im Kampf gegen den Islamischen Staat ansehen.
    Die komplexe Gemengelage zeigt nur, wie schwierig es ist, in einem Kriegsgebiet wie Syrien zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Die vermeintlichen Verbündeten von heute können die Widersacher und Gegner von morgen sein und umgekehrt.
    Müller: Wie in Afghanistan damals?
    Lüders: Wie in Afghanistan. Und das macht es eben so gefährlich. Dieser Krieg in Syrien ist in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend verschwunden, aber er ist nach wie vor virulent da. Das sehen wir jetzt bei diesen Kämpfen in den Kurden-Gebieten. Aber auch eine weitere Konfrontation zeichnet sich ab, denn der Iran ist mit seinen Milizen massiv präsent in Syrien. Das gefällt der israelischen Führung gar nicht. Auch hier zeichnen sich möglicherweise Zusammenstöße ab. Und vergessen wir nicht, dass auch die USA und Russland, beide ihre eigenen Milizen unterstützen und bewaffnen in Syrien. Dieser Konflikt bleibt brandgefährlich, auch wenn er in unserer Wahrnehmung weitgehend verschwunden ist.
    "Schwieriger Spagat für die Deutschen"
    Müller: Wir haben noch eine knappe Minute. Jetzt noch einmal die deutsche Rolle, deutsche Waffen, die dabei involviert sein sollen. Kann die Politik der Bundesregierung im Grunde nur zweischneidig sein?
    Lüders: Letztendlich ja, weil ja die Türkei ein Bündnispartner der NATO ist, und man kann natürlich einem NATO-Verbündeten, so fragwürdig die Politik Erdogans auch ist oder sein mag, nicht einfach die Lieferung von Waffen untersagen. Es ist also ein ganz schwieriger Spagat, den die Deutschen hier gehen müssen, und sie können das natürlich nur tun im Windschatten der USA. Eine eigenständige Politik der EU gegenüber der Türkei ist noch nicht abzusehen, oder ist bestenfalls im Prozess zu entstehen. Aber es ist wirklich eine Gratwanderung. Man sollte mit Waffenexporten sehr vorsichtig sein, denn diese Waffen können überall eingesetzt werden, auch dort, wo es aus deutscher Sicht nicht zweckdienlich ist.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Nahost-Experte und Politikberater Michael Lüders. Vielen Dank für das Gespräch. Ihnen noch einen schönen Tag.
    Lüders: Vielen Dank.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.