In dem grauen Hinterhof in Bochum-Mitte fahren auf einmal eine Reihe schwerer, schwarzer Limousinen vor. Es ist Anfang Februar, Tag eins der Tour des designierten SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz durch Deutschland und der sogenannte Schulz-Zug, wie es nun seit Wochen in den Medien heißt, macht im Ruhrgebiet Station:
"Das ist Projekt, ich bin der Fan."
"Tach Axel."
Auch Axel Schäfer, der örtliche SPD-Bundestagsabgeordnete, ist gekommen, steht neben dem Haus, in dem das Fanprojekt des VfL Bochum beherbergt ist. Eine gute halbe Stunde wird Schulz sich Zeit für die engagierten Anhänger des Zweitligisten nehmen. Er hat die Verantwortlichen bereits mehrfach getroffen, auch in Straßburg:
"Was ich bei Ihnen hier gelernt habe, als ich zum ersten Mal hier war, war, dass sie Leute erreichen, wie wir vielleicht über den öffentlich-rechtlichen Bereich, den rein staatlichen oder den der gemeindlichen Selbstverwaltung alleine nicht mehr erreichen."
Die Fan-Betreuer nicken – und auch für Schulz, den Kanzlerkandidaten, ist diese Frage natürlich in den nächsten Wochen und Monaten besonders relevant, weshalb er in den nächsten Minuten auch zu einem kleinen Vortrag über die gesellschaftliche Kraft des Fußballs ansetzt, "die ich sehr intensiv mit dem 1. FC Köln diskutiert habe, der ja, wie sie wissen, mein Leib und Magen-Verein ist. Ich hoffe, ich kann das ohne physische Risiken hier sagen."
"Kein Problem."
"Wir haben besonders friedliche Fans hier."
"Genau."
Denn: Bei aller Fan-Konkurrenz liegt Schulz das Thema am Herzen – und passt geradezu ideal zu seiner politischen Agenda. Denn: Die Gesellschaft zerfasere immer mehr, hat der SPD-Spitzenkandidat beobachtet, "… mein Eindruck ist aber, eine Gesellschaft kann ohne Zusammengehörigkeitsgefühl, ohne Identitätsstiftende Zusammengehörigkeit, das war früher das Stadtviertel, das war früher die Partei, das war früher die Gewerkschaften, das war früher die Kirche, wo die Leute Ankerpunkte hatten. Das haben sie nicht mehr, es sei denn, Du gehörst zu einem Fußballklub."
Eine Biographie, die bei Fußballfans ankommt
Seien es die 80.000 Zuschauer jede zweite Woche im Stadion von Borussia Dortmund oder eben die 40.000 in Bochum oder Köln:
"Deshalb finde ich, haben die Fußball-Klubs eine gesellschaftlich viel größere Aufgabe heute, als ihnen selbst vielleicht bewusst ist."
Wieder Nicken in der Runde. Schulz Ansichten kommen an bei den Fan-Betreuern – weshalb auch wenig später finanzielle Wünsche vorgetragen werden:
"Dann könnten wir viel mehr positive Ergebnisse erzielen und unsere Arbeit wäre wahrscheinlich noch erfolgreicher."
"Ja, der nächste Bundeskanzler kümmert sich drum."
Gelächter, Händeschütteln, dann geht es weiter zum nächsten Termin. Es ist dieses Selbstbewusstsein, weshalb ihn viele mit Ex-Kanzler Gerhard Schröder vergleichen. Doch während Schröder, heute Aufsichtsratschef bei Hannover 96, sich einst auch mal mit einem Schal von Energie Cottbus oder auch Borussia Dortmund zeigte, bleibt Schulz in der Vereinsfrage authentisch. Eben beim 1. FC Köln – oder seinem Heimatklub Rhenania Würselen. Es sagt viel über den Menschen, aber auch den Kandidaten Martin Schulz aus, dass er auf seiner ersten Tour ins Land auch ein Fußball-Projekt besucht. Dabei ist es nur logisch: Es ist diese Komponente die eben zu gut zu einem Kandidaten passt, der vor allem über seine Biographie punktet: Kein Abitur, aus Würselen, also der Provinz – und eben Fußball. Wobei – bei aller authentischen Treue zum FC – in der Schulzschen Fußball-Erzählung nicht alles ganz stimmig ist: Denn, da zerstörte einst eine schwere Knieverletzung den Traum vom Profifußball, es folgten Alkoholsucht, Gedanken an einen Selbstmord. Im TV-Studio bei "Anne Will" dämpfte er dies dann auch ab.
"Ich habe aber auch in dieser Phase gelernt, dass die spinnisierten Ideen, die ich hatte, die übertriebenen Ambitionen, die ich hatte, die ich nicht erreichen konnte und die mich dann frustriert haben und mich haben…"
"Fußball-Profi?"
"Fußball-Profi zum Beispiel. Ich wäre nie so stark gewesen, um tatsächlich Profi zu werden, aber erzählen sie mal einem 17-, 18-Jährigen, sein Traum sei unrealistisch."
"Er war ein ehrgeiziger Fußballspieler"
Doch die einst offensiv vorgetragene Erzählung war in der Welt – und Journalisten, die sich im Zuge von Schulz Kandidaten-Kür auf nach Würselen machten, besuchten natürlich auch das Gelände seines Heimatvereins Rhenania:
"Er war ein ehrgeiziger Fußballspieler, ein Kämpfer, der jedes Spiel gewinnen wollte."
Sätze wie die seines ehemaligen Mitspielers Martin Zitzen pflegen das Image eines Kämpfers, eines nahbaren Menschen aus dem Volk. Dabei ist es ein Spagat: Schulz, obwohl bis vor kurzem Präsident des Europäischen Parlaments, betont in seinen jetzigen Reden vor allem seine Zeit als Bürgermeister von Würselen. Und auch im Fußball gelingt ihm die Gradwanderung zwischen einfachem Fan und Vertreter des Establishments:
"Er hilft uns in den einen oder anderen Beziehungen zu anderen Ländern. Er hilft uns natürlich auch mit der Öffentlichkeit, wir haben ihn ja in Brüssel besucht und das geht natürlich auch durch die Presse und das hilft dem 1. FC Köln schon, wenn man einen so bekannten und erfolgreichen Politiker in seinen Reihen hat."
Werner Spinner, früher im Vorstand der Bayer AG und nun Präsident des 1. FC Köln, ist stolz darauf, Schulz für den Beirat des Vereins gewonnen zu haben. In diesem hochkarätigen FC-Gremium sitzen Wirtschaftsbosse, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, aber auch Politiker, wie der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach. Und eben Schulz. Der Beirat soll den Verein beraten, wobei, so Spinner mit einem Schmunzeln, es bei Schulz auch mitunter zu Kompetenzüberschreitungen komme:
"Er sagt einem dann schon, mit welcher Taktik und wer da rechts und links und so weiter… Also, irgendwann kann es ja sein, dass er sich irgendwo nochmal als Sportdirektor betätigt."
Nun ist es erstmal die Rolle des Kanzlerkandidaten. Spinner ist, anders als vielen andere Fußball-Funktionären, sich der gesellschaftlichen Verantwortung der Klubs bewusst:
"Und mit Martin Schulz bin ich da voll und ganz einer Meinung, denn wir müssen aufstehen, wir müssen unsere Meinung äußern, denn es gibt zu viele Leute, die mit Populismus und doch sehr zweifelhaften Argumenten hier Boden gut machen."
Erst im vergangen Jahr war Schulz im Rahmen einer Anti-Rassismus-Diskussion zu Gast im Geißbockheim. Die populistische Kraft des Fußballs, für SPD-Kanzlerkandidat Schulz ist das Verpflichtung und Chance zugleich, meint auch Spinner.
"Man muss immer eine gewisse Distanz halten"
"Alle zwei Wochen haben wir 50.000 Menschen im Stadion, quer über alle Gesellschaftsschichten. Erstmal erdet das einen und zweitens bekommt man jede Bewegung der Gesellschaft mit, so dass man natürlich auch die Möglichkeit hat, sich da entsprechend zu äußern."
Auch Schulz Beirats-Kollege Jürgen Roters, einst Oberbürgermeister von Köln und ebenfalls Genosse, kennt diesen Effekt. Dennoch hat er – gerade vor dem nun anstehenden Heimspiel-Besuch des Kanzlerkandidaten gegen Schalke 04 – noch einen allgemeinen Ratschlag parat:
"Ich habe manches Mal erlebt, wenn ein Politiker glaubte, er würde groß angekündigt werden im Stadion und dann erntete er Pfiffe, weil die Leute wollen einfach nicht, dass jemand sich da präsentiert."
Richtig Sorgen macht sich Roters aber nicht:
"Ich glaube aber, bei Martin Schulz ist es etwas anderes. Er ist ein Fußballspieler von Hause aus. Ich kann mir auch gut vorstellen, ich habe ihn zwar nie gesehen, aber wie ich ihn so kenne, war er mit Sicherheit ein Beißer. Und ich kann mir vorstellen, dass das auch bei den Fußball-Fans durchaus ankommt. Aber man muss immer eine gewisse Distanz halten, nicht nur, weil der Erfolg im Sport manchmal ein bisschen flüchtig ist, sondern das auch nicht der Eindruck entsteht, man wolle sich anbiedern, sondern man ist dann unter 50.000 Besuchern einer."
Der Kanzlerkandidat als einer unter vielen: Es sind genau dieser Effekt, mit dem Schulz erfolgreich sein will. Nicht auf dem Fußballplatz, sondern im September dieses Jahres. Bei der Bundestagswahl.