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Kardinal Marx
"Ostern ist ein Aufstand gegen Gewalt und Tod"

Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, hat dazu aufgerufen, angesichts von Terror und Gewalt nicht zu verzweifeln und zu resignieren. Das wäre genau das, was die Terroristen wollten, sagte Marx im DLF. Er mahnte auch, mit militärischen Mitteln sei ein Konflikt wie in Syrien nicht zu lösen. Dort müssten zunächst die Waffen schweigen.

Kardinal Reinhard Marx im Gespräch mit Andreas Main |
    Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz
    Kardinal Reinhard Marx, Erzbischof von München und Freising und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz (Arne Dedert, dpa picture-alliance)
    Andreas Main: Kardinal Marx, es geht immer weiter nach unten, es kommt zu immer neuen Tiefpunkten auf der nach unten offenen Barbarei-Skala. Terroristische Anschläge rund um den Globus, Giftgas und Gemetzel in Syrien. Inwieweit vermiest Ihnen dies das Osterfest?
    Reinhard Marx: Es vermiest nicht das Osterfest, weil es ja eigentlich in jedem Jahr schlimme Nachrichten gibt. Und wenn man die Weltgeschichte anschaut, befürchte ich, dass das auch nicht so schnell zu Ende geht. Aber es bedrückt mich, dass in diesem Jahr auch die Anzeichen, dass es unsicherer wird in der Welt, eher gestiegen sind.
    Aber Ostern ist ja gerade ein Blick darauf, dass wir nicht verzweifeln dürfen. Wenn wir auch noch angesichts solcher Bilder verzweifeln und resignieren, dann haben ja all diese schrecklichen Menschen, die mit Terror und Gewalt ihre Ziele durchsetzen wollen, gesiegt - und das darf auf keinen Fall sein!
    Das heißt, Ostern ist eigentlich – so sage ich manchmal – ein Aufstand Gottes gegen alle Mächte der Gewalt und der Finsternis und der Sünde und des Todes. Ein Aufstand gegen den Tod. Und da sollten wir als Christen nicht gerade mit Resignation das begleiten, sondern mit unserer Hoffnung, auch gegen diese Mächte der Gewalt und der Angst und der Nacht anzugehen.
    "Der militärische Einsatz selbst löst das Problem nicht"
    Main: Da hat jetzt der Theologe gesprochen. Wären Sie nicht Theologe oder Bischof, dann wären Sie wahrscheinlich Politiker geworden. Erhoffen Sie sich weitere Militärschläge seitens der USA, wie jüngst als Reaktion auf den Giftgaseinsatz?
    Marx: Ich bin ja bewusst nicht Politiker geworden, um solche Fragen nicht zu beantworten, denn das ist sehr, sehr schwierig. Und da sollte man dann, wenn man dann nicht Politiker ist, auch nicht den Politikern genau vorschreiben, was sie zu tun haben. Sie müssen den ethischen Rahmen im Blick behalten. Sind Gewaltanwendungen so wirklich gut bedacht, dass sie am Ende zu besseren Ergebnissen führen, dass sie die Gewalt langfristig mindern?
    Wenn man nur einfach davon spricht, soll man mal richtig zuschlagen, damit Ruhe ist – so kann keine Politik passieren und so kann auch keine strategische Planung passieren. Aber da bin ich nicht Politiker. Ich kann nur sagen: Die Kriterien, die ihr anwenden müsst, wenn ihr Gewalt anwendet gegen Menschen, wo auch Zivilisten zu Opfern werden, da müsst ihr sehr genau hinschauen: Was geschieht nach dem militärischen Einsatz? Der militärische Einsatz selber löst ja das Problem nicht, sondern erst wenn ich weiß, was ich denn tun will. Und das ist die Grundvoraussetzung in der christlichen Friedensethik, wenn überhaupt darüber diskutiert wird, soll man Gewalt anwenden oder nicht.
    "Es muss ein Waffenstillstand her"
    Main: Erkennen Sie Strategien? Erkennen Sie Konzepte mit Blick auf Syrien?
    Marx: Ich kann das so noch nicht erkennen. Und ich denke auch, dass die vielen politisch Engagierten oder politisch Tätigen in dem Feld auf der Suche sind. Ich war ja hier auch bei der Sicherheitskonferenz, habe einmal vorbeigeschaut. Gerade die Diskussion über Syrien hat mich natürlich sehr interessiert, weil viele Christen in Syrien leben, Bischöfe mich besuchen. Und dann sieht man, wie verworren diese Lage ist und wie schwer es ist, da ein Urteil zu fällen.
    Kardinal Reinhard Marx im Gespräch mit DLF-Redakteur Andreas Main in der Bibliothek des Erzbischöflichen Palais in München.
    Kardinal Reinhard Marx im Gespräch mit Andreas Main. (Marc Hoffmann, BR)
    Ich bin erstaunt, in wie vielen Talkshows und in Artikeln alles Mögliche gesagt wird. Das mag auch alles stimmen – ich weiß es nicht. Ich spüre nur, wenn Fachleute miteinander reden, wie schwierig es ist, das zu analysieren. Und dann erst recht, wie schwierig es ist zu sagen: Was kann denn getan werden? Welche Akteure sind dort? Wer muss an einen Tisch?
    Ein klarer Punkt war für mich durch diese Diskussion, die ich miterlebt habe: Es geht nur, wenn die Großmächte wirklich versuchen, alle an einen Tisch zu zwingen und erst dann wieder vom Tisch wegzulassen, wenn Bereitschaft dazu da ist, sich Schritt für Schritt auf den Weg zu machen. Das wird nicht schnell gehen wahrscheinlich, aber eine Alternative dazu gibt es nicht. Es muss ein Waffenstillstand her, sodass zunächst einmal die Waffen schweigen. Denn mit militärischen Mitteln wird dieser Konflikt nicht zu einem Ziel geführt.
    "Von Ideologen und Fanatikern nicht unser Leben zerstören lassen"
    Main: Nizza, Brüssel, Istanbul, Berlin, Petersburg, Stockholm. Die Liste des Grauens wird womöglich noch länger werden. Die Verunsicherung wächst in der Bevölkerung einerseits. Andererseits gehen die Menschen nach wie vor in Fußballstadien, in Kinos, in Kirchen. Spüren Sie dennoch eine Veränderung in den Köpfen, in den Herzen der Menschen, seit religiös motivierter Terror immer näher kommt?
    Marx: Ja und Nein. Auf der einen Seite ist das Thema natürlich da. Wenn man mit Menschen diskutiert, das ist einfach auf der Tagesordnung, dass man darüber nachdenkt, wie kann man den Terror überwinden. Die Antwort ist gar nicht so einfach. Terrorismus, der mit Selbstmordattentätern arbeitet, der auch das Leben dieser Täter missachtet, ist sehr schwer in den Griff zu bekommen. Das Andere: Es gibt auch diese Trotzhaltung, sozusagen die Überzeugung, wir wollen uns nicht von diesen Gewalttätern, von diesen Ideologen und Fanatikern unser Leben zerstören lassen. Ich erlebe beides.
    Main: Ist Trotz gut?
    Marx: Ja, Trotz ist gut, glaube ich schon. In diesem Punkt, würde ich sagen, ist Trotz gut. Also zu sagen: Wir dürfen nicht nachgeben, das Spiel dieser Terroristen mitspielen, indem wir uns verängstigen, indem wir unsere Gesellschaft militarisieren, indem wir sozusagen psychotisch werden. Das wäre genau das, was diese Terroristen wollen.
    "Wir dürfen der Logik dieser Leute nicht folgen"
    Sie wollen natürlich auch die Religionen gegeneinander stellen. Das ist ja jetzt durch die Anschläge gegen die koptischen Christen sichtbar geworden. Ich hoffe, dass in wenigen Tagen der Papst gut in Kairo landen wird – das ist ja ein riesiges Zeichen. Das ist schon lange vorgesehen, dass der Papst also eine Friedenskonferenz mit den Muslimen zusammen in Kairo veranstaltet. Und gegen diese Friedensbemühungen sind ja diese Anschläge gerichtet, aus meiner Sicht. Dass man bewusst sagt, von diesen Terroristen her: Wir wollen das verhindern, dass Friedenstöne hörbar werden. Deswegen ist es umso schrecklicher, dass ausgerechnet, wenn der Papst kommt, ein Zeichen des Friedens setzen will, solche Anschläge gegen die Christen da sind. Aber noch einmal: Wir dürfen der Logik dieser Leute nicht folgen, sonst sind wir gefangen in deren Spiel.
    "Terroristen berufen sich auf den Islam"
    Main: Sie sprechen die Anschläge auf koptische Christen an. In Ihren Stellungnahmen zu diesen Anschlägen haben Sie im Kontext der Tat kein Mal das Wort Islam oder Muslime benutzt. Sie warnen lediglich davor, die Attentate könnten das friedliche Zusammenleben von Christen und Muslimen gefährden. Ich frage Sie jetzt erstens: Welches friedliches Zusammenleben? Und zweitens: Waren die Täter Buddhisten?
    Marx: Nein, man darf das schon sagen. Das ist jetzt nicht bewusst ausgeklammert. Selbstverständlich wird hier im Namen des Islam Terror geübt. Und viele im Islam lehnen das ab – das muss man immer dazusagen. Gerade in Kairo, die al-Azhar-Moschee, die immer wieder deutlich macht: Wir wollen nicht, dass der Islam benutzt wird für solche Zwecke.
    Aber die Terroristen berufen sich auf den Islam. Das wäre sozusagen der Punkt, den man vielleicht beim Besuch des Papstes erreicht, dass die Religionen gemeinsam sagen, Muslime und Christen gemeinsam sagen: 'Niemals Gewalt im Namen Gottes!' Das wäre etwas, was wir natürlich auch von den muslimischen Verantwortlichen erwarten – was auch viele tun – und dass wir es gemeinsam tun. Ich finde, das wäre ein wichtiges Zeugnis. Aber es ist keine Frage, dass sich diese Terroristen auf den Islam berufen. Und das muss man dann auch wirklich anmahnen: 'Ihr müsst mit dafür sorgen, dass das nicht möglich ist.'
    Main: Sie hören den Deutschlandfunk, das Interview der Woche, mit Reinhard Marx, dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz. Kardinal Marx, schauen wir auf Deutschland, schauen wir auf Europa. In deutschen Städten gehen junge und alte Menschen in immer größerer Zahl auf die Straße, um für etwas zu demonstrieren: für Europa – Stichwort "Pulse of Europe". Was trauen Sie dieser Basisbewegung zu?
    "Über europakritische Stimmen habe ich mich geärgert"
    Marx: Ja, schauen wir einmal. Das sind ja viele Bewegungen, die in den letzten Jahren entstanden sind, auch kritische Bewegungen – "Empört Euch" –, also immer wieder neu. Erst einmal begrüße ich das sehr. Denn ich habe mich geärgert, dass die Stimmen, die gegen Europa sind oder die kritisch und skeptisch der Europäischen Union gegenüberstehen, in den letzten Jahren auch medial eine große Aufmerksamkeit gefunden haben, ohne dass wir wirklich sagen könnten: Ist das eigentlich die Mehrheit der Bevölkerung? Deshalb finde ich gut, dass eine solche Bewegung jetzt da ist, die sagt: 'Jetzt gehen wir auch einmal auf die Straße und zeigen: So ist es nicht, wir wollen eine Weiterentwicklung, eine Zukunft der Europäischen Union.'
    "Was ist eigentlich unser Projekt?"
    Main: Ende 2015, als wir das letzte Mal hier in dieser Bibliothek zusammensaßen zum Interview der Woche im Deutschlandfunk, da haben Sie es als "Hauptanstrengung nach außen" bezeichnet, dass "Europa zusammenbleibt". Als hätten Sie es damals geahnt, dass es zu so etwas kommen würde wie den Brexit, dem Ausscheren Großbritanniens. Sagen Sie uns jetzt, wie kann Schlimmeres verhindert werden? Was ist zu tun, damit Europa doch zusammenbleibt?
    Marx: Gut, einmal natürlich diese Ereignisse. Der Brexit hat, glaube ich, oder der geplante Brexit – ist ja noch nicht vollzogen – hat schon gezeigt, welche Schwierigkeiten das mit sich bringt und dass das vielleicht doch ein hohes Risiko für alle ist und negative Folgen hat. Oder auch die Ereignisse in Amerika, wenn ein Präsident sagt: 'Na die Europäische Union, das ist nicht mein Thema, das sollen die mal sehen', das kann auch dazu führen. Oder "Pulse of Europe" – Sie haben es eben genannt, die Bewegung. Das kann dazu führen, dass man sagt: 'So, ist uns das nicht doch so wertvoll, was wir erreicht haben, mit all den Schwierigkeiten, mit all den Problemen, die damit zusammenhängen, dass wir das nicht aufgeben wollen?'
    Also, diese Reaktion ist auch da. Und das macht mir wiederum Hoffnung. Also, diese Kränkung, dass einer uns verlassen hat oder dass man den Eindruck hat, da ist eine gewisse Ehescheidung da, die hat dazu geführt, dass Europa sich neu auf den Weg macht oder neu überlegt: Was ist eigentlich unser Projekt? Warum sind wir unterwegs seit 60 Jahren?
    Main: Warum sind wir unterwegs?
    Marx: Ja, um Einheit und Frieden in der Welt auch zu befördern. Auch, um unsere gemeinsamen Interessen zu artikulieren in einer großen globalen Welt. Aber auch weil wir meinen, wir sind auf diesem europäischen Kontinent in besonderer Weise aufeinander bezogen, wir haben eine gemeinsame Überzeugung in Werten und haben etwas zu vertreten. Wie der Papst einmal gesagt hat: 'Europa ist doch ein Projekt der Humanisierung!' All das, glaube ich, ist auch für die Zukunft von großer Bedeutung. Das ist keine Rhetorik der Vergangenheit, sondern das ist für die Zukunft auch weiterhin entscheidend.
    "Ich werde mich nicht in den französischen Wahlkampf einmischen"
    Main: In Kürze wird in Frankreich ein Präsident gewählt. Ihr Herz schlägt für Europa. Der Kandidat Fillon ist der Kandidat vieler Katholiken. Wenn er es nicht wird, wäre Ihnen dann der Kandidat Macron sicher lieber, als die Kandidatin Marine Le Pen?
    Marx: Naja, als Kardinal von München und Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz werde ich mich nicht in den französischen Wahlkampf einmischen. Die Christen und Katholiken in Frankreich werden sicher in guter Weise überlegen, was für sie wichtig ist. Ich freue mich natürlich, wenn die Wahl so ausgeht – das darf ich vielleicht doch sagen allgemein –, dass der gemeinsame Weg, den gerade Frankreich und Europa und Frankreich und Deutschland miteinander gegangen sind in den letzten Jahrzehnten, weitergegangen wird. Ich habe in Paris studiert, deswegen bin ich da besonders betroffen. Ich bin mit Frankreich eng verbunden durch viele, viele Reisen, durch viele Partnerschaften zwischen den Diözesen. Also, ein europafreundlicher Präsident / Präsidentin wäre mir willkommen.
    "Christen in Deutschland sollten zur Wahl gehen"
    Main: Werden Sie sich als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz denn in den deutschen Wahlkampf einmischen?
    Marx: Ein bisschen schon. Das müssen wir natürlich schon tun – wir gehören ja hier ja zur Gesellschaft dazu. Aber nicht in die konkrete politische Agenda. Ich äußere mich ja auch politisch – manche sagen, zu politisch. Aber ich denke, das gehört zur Katholischen Soziallehre dazu, dass man auch bestimmte Positionen einmal zur Diskussion stellt.
    Je heißer der Wahlkampf wird – das ist eine alte Linie bei uns –, je weniger sollten die Bischöfe nun in den Wahlkampf hineingehen und in einzelnen Positionen irgendetwas sagen. Was wichtig ist, ein paar Grundlinien aufzuzeigen, Kriterien zu nennen, die für Christen wichtig sind. Das habe ich in der Vergangenheit ja getan; und das wird wahrscheinlich in einem Gemeinsamen Wort mit der Evangelischen Kirche dann auch noch einmal im Wahlkampf erfolgen.
    Dass wir im Wahlkampf – vielleicht acht Wochen vorher, also, wenn der heiße Wahlkampf beginnt – nochmal ein Gemeinsames Wort der Evangelischen und Katholischen Kirche zur politischen Lage sagen werden. Und natürlich besonders dazu aufrufen werden, sich auch ordentlich im Wahlkampf zu streiten und nicht unordentlich. Mit Respekt voreinander. Und dass die Wahl für eine repräsentative Demokratie ein ganz wichtiger Punkt ist und Christen auch zur Wahl gehen sollen.
    Main: Und das läuft dann auf die Wahlempfehlung hinaus, nicht AfD zu wählen?
    Kardinal Reinhard Marx im Gespräch mit DLF-Redakteur Andreas Main in der Bibliothek des Erzbischöflichen Palais in München.
    Kardinal Reinhard Marx im Gespräch mit Andreas Main. (Marc Hoffmann, BR)
    Marx: Nein. Es geht erst einmal darum zu sagen: Was ist denn wichtig? Also nicht immer vom Negativen ausgehen, was nicht sein soll, sondern, was soll denn sein? Und was wäre denn ermutigend, für die nächsten Jahre in den Blick zu nehmen? So stelle ich mir das vor.
    Ich habe den Text aber noch nicht – an dem wird gearbeitet. Aber ich möchte eher einen Text der Ermutigung zur Wahl, des Engagements für Europa, des Engagements für unsere Gesellschaft, des Engagements dafür, dass wir in Respekt miteinander umgehen, auch mit den verschiedenen Religionen und Kulturen, die in unserem Land da sind. All das wird man sicher in dem Brief thematisieren. Aber – noch einmal – der steht noch nicht, ich habe jetzt nur meine Ideen einmal hier genannt.
    Main: Also, bis dahin können Christen AfD wählen?
    Marx: Nein. Ich habe mich ja zu dem Thema auch geäußert – jetzt nicht im Blick auf eine Partei. Ich meine, man sollte nicht immer über eine Partei reden, sondern man sollte über Inhalte reden. Wir reden über Inhalte. Und da habe ich mich ja oft genug geäußert, was passiert, wenn bestimmte Themen bei dieser Partei, bei anderen Parteien, eine überzogene Rolle spielen, etwa der Nationalismus oder Fremdenfeindlichkeit. Da sind für Christen ganz klar Grenzen gezogen, wo wir sagen müssen: Halt! Da kann ich hinter einer Fahne, die sozusagen nationalistisch ist, eng geführt nationalistisch und fremdenfeindlich ist, da kann ein Christ eigentlich nicht da hinterherziehen, hinter einer solchen Fahne.
    "Die Katholische Soziallehre galt immer als links"
    Main: Wenn man Ihre öffentlichen Erklärungen zugrunde legt, dann bekomme ich den Eindruck, Ihr Herz schlägt halblinks, eher für den linken sozialen Flügel der CDU, für Teile von SPD und Grünen – mit CSU, AfD, FDP können Sie nicht viel anfangen. Ist das nicht die Wahlempfehlung schlechthin?
    Marx: Naja, die Interpretation überlasse ich Ihnen und den Lesern und Hörern. Wenn Sie meine Schriften und Interviews anschauen, also, man muss ja vielleicht ein bisschen unterscheiden zwischen dem Bischof, der eine Verantwortung hat und der Person – wenn es auch nicht immer gelingt, da haben Sie Recht. Und das finde ich nicht unsympathisch, dass Sie mal auf die Suche gehen und nachspüren: 'Na, wo hängt denn sein Herz? Wo ist er denn besonders freundlich oder wo kommt die Leidenschaft auf?' Natürlich komme ich aus der Katholischen Soziallehre. Ich war Professor für Soziallehre. Und die galt immer als links. Ich weiß nicht warum – wir haben die Schemata im Kopf: links und rechts. Aber die Katholische Soziallehre war auch immer etwas kapitalismuskritisch. Sie hat immer von der Arbeit her gedacht, von den Rechten des arbeitenden Menschen her und so weiter. Insofern kann ich das nicht bei Seite lassen, will ich auch nicht, das gehört zur großen Tradition der Kirche. Das galt selbst für die Päpste. Die Päpste – Johannes Paul II., jetzt Franziskus – werden einfach als links hingestellt, obwohl sie nur in Kontinuität die Katholische Soziallehre verkünden. Also, wer hat schon eine Partei, wo man sagt: 100 Prozent meine Meinung? Ich glaube, das ist selbst bei den Parteimitgliedern nicht der Fall.
    "Politik ist nicht meine Hauptarbeit"
    Main: Sie haben vorhin eingeräumt, dass manche Zeitgenossen den Eindruck haben, Sie seien manchmal zu politisch. Der Sozialphilosoph Hans Joas sagt, Kirchen dürften nicht politische Richtungen, die von den Auffassungen der Kirchenleitungen abweichen, als unchristlich etikettieren. Können Sie das nachvollziehen?
    Marx: Ja, natürlich. Man muss aufpassen. Deswegen bin ich ja auch eigentlich – meine ich –, ich will nicht sagen, vorsichtig, aber genau, wenn ich einfach sage, das und das muss ein Christ tun. Sondern wir versuchen Kriterien aufzustellen, Hinweise zu geben, Prinzipien. Das allerdings gehört zum Auftrag der Kirche dazu. Also, einfach zu sagen: Die Kirche ist für die Kirche da, für das Kirchengebäude und die Sakristei, und die politischen Angelegenheiten, die öffentlichen Angelegenheiten, da sollen sich die Kirchen, auch die Bischöfe, heraushalten. Das entspricht nicht der Tradition, die wir eben gerade in der Katholischen Soziallehre seit 150 Jahren haben und auch, glaube ich, zu Recht haben. Dass wir uns in die öffentlichen Angelegenheiten in der Weise einmischen, dass wir nicht sozusagen die Politik ersetzen. Wir sind keine Politiker.
    Es geht nicht darum, Politik zu machen, sondern Politik möglich zu machen, so sagen wir. Also, einen Horizont aufzuzeigen, der Fragen aufwirft, die vielleicht sonst nicht gestellt werden - das finde ich okay. Aber das ist ja nicht meine Hauptarbeit. Meine Hauptarbeit ist, das Evangelium zu verkünden. Natürlich, in der Öffentlichkeit werden meine politischen Stellungnahmen sofort gehört und werden weitergegeben, auch in den Medien. Und meine Osterpredigt reduziert sich dann auf einen Satz, wenn ich etwas gesagt habe, was politische Relevanz hat, aber nicht das eigentliche theologische Thema. Damit muss ich leben. Aber es ist nicht so – das kann man auch in einem Interview wie diesem einmal deutlich machen –, als würde der ganze Tag des Bischofs darin bestehen, sich über politische Dinge zu unterhalten. Sondern in der Regel mache ich Firm-Gottesdienste, besuche die Pfarreien und da wird über Gott und das Evangelium, über das Gebet gesprochen, über das, was wir in der Nachfolge Christi zu tun haben als Christen.
    "Papst Emeritus ist groß und seine Wirkung gewaltig"
    Main: Kardinal Marx im Deutschlandfunk, im Interview der Woche. Gehen wir einmal ein wenig weg von der Politik. Es ist Ostersonntag. Joseph Ratzinger, einst Papst Benedikt XVI., ist wohl der berühmteste lebende deutsche Katholik. Er feiert seinen 90. Geburtstag am Ostersonntag. Es gibt Zeitgenossen die meinen, er werde nicht ausreichend gewürdigt. Verstehen Sie den Unmut im konservativen Lager Ihrer Kirche?
    Marx: Das ist mir ganz neu. Also, wir haben wirklich sehr schöne Feiern, denke ich und es ist sehr wichtig, dass daran erinnert wird. Und Papst Emeritus ist so groß und seine Wirkung ist so gewaltig, auch in seinen Werken - das wird auch in Zukunft ein ganz wichtiger Bezugspunkt sein. Für uns ist besonders wichtig auch, dass seine Werke herausgegeben werden – wir werden noch einmal finanziell etwas tun für die französische Übersetzung seiner Werke. Das ist ihm, glaube ich, auch am wichtigsten, dass seine Theologie und sein Denken verbreitet werden. Und dafür kann man einiges tun und das, meine ich, sollten wir auch tun. Aber jedenfalls ist es wunderbar, dass er seinen 90. Geburtstag erlebt.
    "Ökumenisches Verhältnis lebt vom persönlichen Miteinander"
    Main: Noch öfter als mit Joseph Ratzinger, sieht man Sie zusammen mit Heinrich Bedford-Strohm, dem Vorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland. Sie treten oft gemeinsam auf. Sie haben dann auch oft eine Meinung. Das geht soweit, dass manche schon fragen: Gibt es die beiden auch alleine?
    Marx: Die gibt es auch alleine, und zwar meistens. Heute zum Beispiel - bei dem Interview sind wir allein. Erst einmal ist es ja schön, dass wir uns gut verstehen und dass eben das ökumenische Verhältnis auch ein bisschen lebt vom persönlichen Miteinander. Warum denn nicht? Und da bin ich manchmal erstaunt: Einigen geht das schon wieder zu weit. Seien wir doch froh, dass wir da in diesem Bereich uns gerne sehen und uns auch gerne unterhalten. Und das ändert gar nichts an den Unterschieden, die weiter da sind – das ist überhaupt keine Frage. Wir sind ja nicht einfach von heute auf morgen über alle Unterschiede zwischen katholisch und evangelisch hinweggegangen. Aber wir tun es in einer anderen Weise, wir reden in einer anderen Weise miteinander. Das ist doch wunderbar.
    "Luther hat mir sehr geholfen"
    Main: Im Reformationsjubiläum, das in diesem Jahr jetzt aufs Finale hinausläuft, da gibt es in der EKD einiges an öffentlich ausgetragenem Streit. Das kulminierte in dem Vorwurf der EKD an evangelische Theologieprofessoren, sie würden nicht ausreichend erklären, pointiert formuliert: Was hat Luther uns heute zu sagen? Vielleicht können Sie ja als katholischer Theologe mal aushelfen. Also, jenseits des historischen Interesses, das Sie haben, das weiß ich von Ihnen: Wie hilft Ihnen Luther oder sein Denken in Ihrem Leben?
    Marx: Ja, wie hat er mir geholfen?! Sogar durchaus intensiv geholfen. Das war – ich kann mich sogar daran erinnern –, dass ich mich in den sogenannten Freisemestern in Paris, als ich dort studierte, mit vielleicht 22 Jahren, etwas intensiver mit Luther beschäftigt habe, mit der Gnadentheorie. Und mir dann auch als katholischer Christ deutlich geworden ist, um was es ihm eigentlich ging. Vorher hat man das eher äußerlich gesehen. Aber wenn man dann eintaucht in dieses persönliche Ringen ...
    Main: Das ist ja auch der Kern des Ganzen.
    Marx: Ja, das ist der Kern des Ganzen ... um Freiheit und Gnade und dass es keine Werkgerechtigkeit gibt, dass wir Gott nicht sozusagen beeinflussen oder bezwingen können, in dem wir Leistungen erbringen und uns das Heil selber verdienen. Sondern indem Gott uns schon freispricht und wir deshalb anders leben können, deshalb neu leben können, weil wir befreit sind, wie von einem Schiffbruch. Also: Wir sind am Strand. Wir sind aus einem Schiffbruch gerettet. Wir sehen das Schiff, das untergeht im Meer - aber wir sind gerettet! Wir sind am Strand.
    Also, diese Erfahrung, die er durch sein Ringen hindurch macht, die hat mich sehr beeindruckt. Und das hat mich auch sehr geprägt. Für mich war das durchaus eine katholische Erfahrung, denn das ist ja kein Widerspruch zum katholischen Glauben. Aber ich kann verstehen, dass er gesehen hat, wie viel in der Kirche damals und auch heute dem entgegenstand, wo viel Denken ist in die Richtung: 'Wir müssen doch irgendwie Leistung erbringen, damit Gott dann zufrieden mit uns ist.’ Das hat mir sehr geholfen. Die Beschäftigung mit Luther hat mir sehr geholfen, da den richtigen Weg zu finden, auch als Priester dann.
    "Die Stunde des Todes ist nicht das Letzte"
    Main: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Es ist Ostersonntag. Kardinal Marx, was ist für Sie theologisch und Ihrem Leben wichtiger, der Karfreitag oder der Ostersonntag?
    Marx: Beides. Es gibt nicht die Trennung, weil wir in der Liturgie sagen, es ist ein einziger Tag. Das ist ein einziger Tag. Das Pascha-Mysterium, wie es theologisch heißt, das Ostermysterium, beginnt ja mit dem Gründonnerstagabend und vollendet sich in der Osternacht. Das heißt, man kann das nicht auseinanderreißen. Es ist ein einziges Geschehen. Deswegen feiern wir ja – als katholische Christen sagen wir das deutlich – nicht das Abendmahl, sondern die Eucharistie. Es ist das gesamte Geschehen. Nicht nur das, was an Gründonnerstag passiert ist, sondern was am Karfreitag und an Ostern passiert ist – das ist Eucharistie feiern. Und deswegen kann man das nicht trennen. Es gehört zusammen, dass dieser Gottessohn in die Stunde des Todes hineingegangen ist und dass diese Stunde des Todes nicht das Letzte ist, sondern Aufbruch zu einem neuen Leben ist, eine neue Schöpfung ist. Also, man kann diese Dynamik des Weges nicht unterbrechen und sagen: Das Eine kann ich haben, ohne das Andere – das geht eben nicht. Und insofern ist das für mich immer die geistlich tiefste Zeit im ganzen Jahr: Aber jeder Tag hat seine eigene Bedeutung und seine eigene Tiefe für mich.
    "Die Frage, die uns begleiten wird, bis die Welt zu Ende geht"
    Main: Deutschland wird auch am Osterfest immer multireligiöser. Ein großer Teil der Deutschen versteht sich als konfessionsfrei. Gibt es einen Kerngedanken des Osterfestes, den Sie, ohne womöglich vereinnahmen zu wollen, aber den Sie jedem nahelegen wollen?
    Marx: Ja. Man kann vielleicht formulieren: Hat der Tod wirklich das letzte Wort? Gibt es eine Hoffnung angesichts des Todes und des Leidens und der Angst und der Kriege und der Gewalt? Gibt es eine Hoffnung, die dem Stand hält und die größer ist?"
    Ostern sagt: Ja, es gibt diese Hoffnung! Wenn ich das nicht glaube, muss ich sagen, dann hat das doch letztlich das letzte Wort. Also, insofern ist wenigstens Ostern – ob einer glaubt oder nicht – die Aufrüttlung dieser Frage, die uns auch begleiten wird, bis die Welt zu Ende geht.
    Main: Fragen zu stellen?
    Marx: Diese Frage zu stellen, ob es eine Hoffnung gibt, die stärker ist, als der Tod.
    Main: Ihre Antwort ist eindeutig.
    Marx: Ja. Es gibt diese Hoffnung.
    Main: Kardinal Marx, vielen Dank für das Gespräch und ein gutes Osterfest.
    Marx: Danke. Frohe Ostern allen.