Peter Kapern: "Lieber Freund, vorigen Mittwoch reiste ich von London ab, per Steamer, und erreichte unter Sturm und Ungewitter Hamburg Freitag Nachmittags, um dort das Manuskript des ersten Bandes Herrn Meißner zu überliefern." So beginnt der Brief, den Karl Marx am 17. April 1867 an Friedrich Engels geschickt hat. Der erste Band, von dem da die Rede ist, das ist der erste Band des Kapitals, der vor genau 150 Jahren erschienen ist.
Wenn Sie den Deutschlandfunk rund um die Uhr und quer durch die Woche hören, dann wissen Sie, dass wir dieses Jubiläum gewürdigt haben mit einer Reihe von Beiträgen in unserer Sendung "Essay und Diskurs", die immer sonntags um 9:30 Uhr am Morgen läuft. Da sind namhafte Autoren der Frage nachgegangen: Lohnt es sich, das Kapital heute, 150 Jahre nach dem Erscheinen, noch mal zu lesen?
Aus diesen Essays und einigen weiteren ist ein Buch entstanden, das vor kurzem veröffentlicht worden ist. Herausgegeben hat es der Publizist Mathias Greffrath. "Das Kapital zu lesen lohnt sich, weil man mit der marxschen Brille Dinge sieht, die man sonst nicht sieht." So schreibt es Greffrath in diesem Buch. Was man denn durch die marxsche Brille sieht, das habe ich ihn vor der Sendung gefragt.
"Kapitalismus wird mit Schuldenbergen am Leben erhalten"
Mathias Greffrath: Man sieht einiges, was man sonst nicht sehen kann. Das eine ist eine Sache, die ist inzwischen fast Allgemeinplatz geworden, selbst in Davos, wo die Wirtschaftselite sich trifft, nämlich dass der Kapitalismus nicht eine ewige, Gott gegebene oder von der Weltgeschichte gegebene Wirtschaftsordnung ist, sondern dass er einen Anfang hatte, einen Anfang, und zwar einen sehr gewalttätigen – das kann man in Band 23 lesen -, dass diese Gewalt weiter wirkt, wenn auch auf subtile Weise vielleicht, und dass der Kapitalismus möglicherweise irgendwann ein Ende hat, dass er, wie Herr Sinn das so schön in seinem Beitrag sagt, inzwischen dazu übergegangen ist, diejenigen, die er eigentlich ausbeuten wollte, ernähren muss, weil es zu viele geworden sind.
Das heißt, die Wirtschaftsordnung, der Kapitalismus ist so produktiv geworden, dass, wie es so schön bei Marx heißt, die Produktivkräfte die Produktionsverhältnisse zu sprengen drohen und dass er nur mit Schulden, mit gigantischen Schuldenbergen am Leben erhalten wird im Augenblick. Das ist eine Sache zum Beispiel.
"Ein Markt, den man frei lässt, sorgt keinesfalls für Gerechtigkeit"
Kapern: Das ist ja dann in folgendem Satz zusammengefasst in diesem Buch: "Das kapitalistische System passt einfach nicht mehr in diese Welt." - Ist es das, was Sie gerade beschrieben haben?
Greffrath: Das ist das und das ist ein Zitat von Herrn Schwab, dem Initiator jenes Davoser Weltwirtschaftsgipfels. Es gibt ökologische Gründe, es gibt Gründe der Ungleichheit, es gibt die ganzen Folgeprobleme der Globalisierung, nämlich dass ein Markt, den man frei lässt, keinesfalls für Gerechtigkeit sorgt, vielleicht für Wohlstand in bestimmten Regionen der Welt, aber dass ein freier Markt die Ungleichheit immer weiter steigert, wie es ja auch Piketty in seinem jüngst erschienenen großen Buch über den Kapitalismus, über das Kapital im 21. Jahrhundert beschrieben hat.
"Ein System, das ständig von Krise zu Krise taumelt"
Kapern: "Das kapitalistische System passt einfach nicht mehr in diese Welt" Dieser apodiktische Satz erinnert doch auch sehr stark daran, wie Marx und Engels nach ihrer Flucht aus Deutschland, nach dem Ende der 48er-Revolution in England saßen und sehnsüchtig auf den nächsten Börsencrash warteten, weil der ihrer Meinung nach definitiv das Ende des Kapitalismus mit sich bringen würde. Hat er aber nicht.
Greffrath: Das waren die beiden, als sie noch jung waren, als sie jung waren und ungeduldig waren, während der reif gewordene Marx, der natürlich gesehen hat, dass unter anderem weil er sein Buch geschrieben hat und noch einiges andere geschrieben hat die Arbeiterbewegung sich formiert hat und den Kapitalismus zu bestimmten Reformen gezwungen hat, dass die Sache mit dem Zusammenbruch so nicht funktioniert. Und Sie finden auch im Kapital – und das ist das Erstaunliche, wenn man das Buch liest und nicht durch die Brille einer dogmatischen Arbeiterbewegung, die es mal gab -, dass da keineswegs der Zusammenbruch des Kapitalismus beschrieben ist, sondern ein System, was ständig (und das allerdings macht das Kapital von Marx besser als die herkömmliche, wie wir früher sagten, bürgerliche Wirtschaftstheorie) im Grunde von Krise zu Krise taumelt und was an jeder Ecke seines Daseins krisengefährdet ist.
"Ein sich aufbäumender, sich aufgipfelnder Schuldenberg"
Kapern: Aber immer überlebt und möglicherweise überlebt, weil es so lernfähig ist?
Greffrath: Auf jeden Fall. Es ist lernfähig. Es muss allerdings zum Lernen gezwungen werden. Und wenn dieser Zwang nicht mehr da ist in Form von Gewerkschaften, in Form von starken linken sozialdemokratischen Parteien, dann geht der Tiger von der Leine und dann passiert das, was wir in den letzten 10, 20, 30 Jahren erlebt haben, nämlich die neoliberale Wende, das relative Absinken des Lohnniveaus gegenüber den Profiten, die Zerschlagung dessen, was die Arbeiterbewegung und aufgeklärte Bürger mal geschaffen haben, nämlich den Sozialstaat, und ein sich aufbäumender, sich aufgipfelnder Schuldenberg, der irgendwann in die nächste Krise führen wird.
Kapern: Aber, Herr Greffrath, wir haben ja noch was erlebt, nämlich immer noch nicht das Ende des Kapitalismus.
Greffrath: Nein! Aber wir leben in gefährlichen Zeiten. Jetzt komme ich noch mal auf Hans-Werner Sinn, den einzigen nicht durch Marx geprägten Menschen, der in diesem Buch schreibt, im Grunde halten wir jetzt mit Zentralbankgeld ein System Zombie-Banken und Zombie-Unternehmen am Leben, weil wir Angst haben vorm großen Crash. Aber das führt dazu, dass das Risiko, dass irgendwann der nächste Crash kommt, so wie der von 2008 - der war dann möglicherweise nur das Vorspiel -, dieses Risiko wird immer größer. Und ich glaube, dieses Risikobewusstsein, das ist ja im Augenblick sehr viel weiter verbreitet, als es vor 2008 da war.
"Ihr werdet als eine unterschiedslose Masse armer Teufel enden"
Kapern: Ist das nicht belastend für Marxisten, dass sie immer den Untergang eines Systems prognostizieren müssen, der dann partout einfach seit 150, 200 Jahren nicht kommen will?
Greffrath: Nein, das ist überhaupt nicht belastend. Wenn man die marxschen Texte richtig liest – und unser Buch ist ja ein kleiner Versuch, in die Richtung zu stupsen -, dann ist eher ein Aktivismus die Konsequenz. Dann weiß man nämlich, dass dieses System nicht von selbst zusammenbricht, dass jede Krise auch ihre Gegenwirkungen (und zwar von Seiten der Lohnabhängigen, aber auch von Seiten der Kapitalisten selbst) erzeugt, sondern dass es einer aktiven Politik bedarf. So wie Marx irgendwann mal (und das war dann auch der frühe Marx) gesagt hat: "Wenn ihr euch nicht organisiert, wenn ihr euch nicht schult, wenn ihr nicht begreift, was da eigentlich los ist, dann werdet ihr als eine unterschiedslose Masse armer Teufel enden, denen keine Erlösung mehr hilft." Dieser Aktivismus, ich denke, das Kapital richtig gelesen, ist eine Theorie, die sagt, das Ding wird immer gefährlicher, immer riskanter, immer größer, schafft auch immer mehr Reichtum – das kann man ja gar nicht bestreiten -, aber das Risiko, dass irgendwann eine Katastrophe passiert (und sei es die Ökologische, die Marx noch nicht sehen konnte), das wird immer größer und deshalb müssen wir Politik machen. Ich denke, diese Erkenntnis passt nun sehr in unsere Zeit.
Der soziale Kitt zerfällt durch Automation
Kapern: Findet sich im Kapital, das 150 Jahre alt ist, also in dem Buch auch eine Erklärung für ein anderes politisches Phänomen, vor dem die meisten eigentlich noch immer ratlos stehen, nämlich für den Aufstieg der Populisten und Nationalisten?
Greffrath: Ich glaube, indirekt schon. Das Problem ist ja, wenn man das Kapital gelesen hat, da ist ja noch die Arbeiterklasse relativ massiv und die war auch damals eine beobachtbare und sich organisierende Größe. In dem Augenblick, wo dieses historische Subjekt, um mit Marx zu sprechen oder mit Hegel zu sprechen, nicht mehr da ist, zerfällt die Gesellschaft. Marx hat das mal beschrieben im 18. Brumaire, einer politischen Schrift, im Grunde in so einer Art Sack von Kartoffeln, die nicht miteinander verbunden sind. Das heißt, was ja das Große auch ist am Kapital, dass es nicht nur über marktgeschehen handelt, sondern auch über Produktion und dass sich darin eine Theorie findet, wie eine Gesellschaft eigentlich zusammengehalten wird, nämlich durch kollektive Arbeit, durch Kooperation und durch Bildung einer Schicht, die arbeiten kann, die auch mit komplizierter Technik umgehen kann. Das führt bei Marx, aber auch bei vielen Soziologen wie Durkheim zu dem sozialen Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält. Und wenn dieser Kitt weg ist, durch Arbeitslosigkeit, durch Automation, durch Krisen, die Menschen freisetzen oder hinten runterfallen lassen, so wie in Ohio oder in Ostdeutschland zum Teil, dann ist die Gesellschaft eigentlich nicht mehr in der Lage, sich selbst ins Gesicht zu sehen. Dann weiß sie gar nicht mehr, wer sie ist. Dann werden die Individuen auf sich selbst zurückgeworfen und dann suchen sie nach anderen Formen von Identität, und das sind ann mitunter finstere, die wir glaubten, überwunden zu haben.
Globale Wirtschaft zerstört gewachsene Infrastruktur
Kapern: Hans-Werner Sinn, den Sie eben schon mal zitiert haben, der macht in seinem Essay etwas anderes geltend als Erklärung für den Aufstieg der Populisten, nämlich dass Migranten Sozialsysteme und Infrastruktur so stark nutzen, dass für die Einheimischen immer weniger übrig bleibt. Wenn ich dem folge, dann ist Marx ja doch näher bei Gauland als bei Gysi.
Greffrath: Nein. Da ist Sinn mehr bei Gauland als bei Marx, würde ich mal sagen. Denn diese Interpretation, die wird von Marx keinesfalls gestützt. Was man mit Marx erklären könnte, ist, dass in dem Augenblick, wo die Wirtschaft so expandiert, dass sie global wird, dass sie einen globalen Markt schafft, dann entsteht natürlich dadurch auch so was wie ein globaler Arbeitsmarkt, und dann muss man sich nicht wundern, wenn die Leute, die wir mit unseren Autos, mit unseren Maschinen und mit unseren Schweinehälften in Afrika beglücken und zum Teil dadurch gewachsene Infrastrukturen zerstören, dass die dann sagen, na ja, wir sind ein System, dann gehen wir doch mal nach Europa, um dort Arbeit zu suchen. Wenn man das Ganze ökonomisch betrachtet, dann kann man ganz schön viel Ideologie aus dieser rechten Brühe, denke ich, rausfiltern.
Unterentwickelte konkurrieren mit kapitalistischen Gesellschaften
Kapern: Sie attestieren dem Kapital, dass es eine stärkere politische Wirkung gehabt hat als jedes andere sozialwissenschaftliche Buch der letzten 150 Jahre, Herr Greffrath. Und in der Tat: Wenn man sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts anschaut, dann kann man dem ja eigentlich nur zustimmen.
Gleichzeitig sagen Sie aber, Marx und das Kapital hätten nichts zu tun mit den menschenverachtenden Deformationen, für die der real existierende Sozialismus verantwortlich ist. Ja was denn nun? Ist das Buch wirkungsmächtig oder wirkungslos?
Greffrath: Sie müssen das ein bisschen dialektisch sehen. Sowohl die Revolutionsperspektive, die im Kapital steckt, wie auch eine reformistische – man darf ja auch nicht vergessen, dass Engels schon in den 90er-Jahren sagte, wir kommen auf ganz legale Weise dazu, hier eine gerechte Gesellschaft zu bauen, nämlich mit Hilfe der Sozialdemokratie, die damals noch durchaus revolutionär, auf jeden Fall systemüberwindend dachte. Die Voraussetzung dafür war eine entwickelte Gesellschaft mit einem entwickelten Rechtssystem und mit einem hohen Maß an Wohlstand, den man dann umverteilen oder anders verteilen oder anders organisieren könnte. Was in Russland passiert ist, das dann zur Sowjetunion wurde, war ja der Versuch, eine Revolution zu machen in einer unterentwickelten Gesellschaft und das sehen wir heute überall, wo Revolutionen in unentwickelten und unterentwickelten Gesellschaften passieren und dann auch noch konkurrieren müssen mit entwickelten kapitalistischen Wirtschaften. Da endet das Ganze in Diktatur. Die stalinistische war nun besonders finster, aber im Westen ging es ja auch nicht gerade unfinster zu.
"Wachstum auf Kosten von Ungleichheit und Zerstörung der Natur"
Kapern: Man braucht einen bestimmten Wohlstand, um überhaupt eine Revolution wagen zu können?
Greffrath: Man braucht einen bestimmten Wohlstand, um entweder eine Revolution wagen zu können oder eine so aufgeklärte bürgerliche Gesellschaft zu haben, die von selbst auf die Idee kommt, dass es vielleicht sinnvoller ist, Gerechtigkeit herzustellen, als immer mehr Wachstum, immer mehr Wachstum auf Kosten von Gleichheit, Ungleichheit und Zerstörung der Natur.
Kapern: "Re: das Kapital - Politische Ökonomie im 21. Jahrhundert", herausgegeben von Mathias Greffrath. Das ist der Mann, den Sie gerade gehört haben. Das Buch können Sie dem Kunstmann-Verlag für 22 Euro abkaufen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.