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Kinder- und Jugendbücher
Neue deutsche Autorinnen

Trend auf dem aktuellen Kinder- und Jugendmarkt ist und bleibt, junge Leser in fantastische Welten zu entführen. Aber immer mehr Autorinnen entscheiden sich für die wirklichkeitsnahen Themen wie Adoption, häusliche Gewalt oder Familienprobleme. Eine Reihe von neuen deutschen Autorinnen haben in diesem Frühjahr ihre Debütromane veröffentlicht.

Von Karin Hahn |
    Der Bauwagen mit einem Gemälde befindet sich an der Allee der Kosmonauten nahe Alt-Marzahn, aufgenommen im Juni 1982 im Berliner Stadtbezirk Marzahn.
    Ort der Handlung eines der Bücher: Allee der Kosmonauten (picture alliance / ZB / Karlheinz Schindler)
    Schaut man in die Lektorate der deutschen Kinder- und Jugendbuchverlage, dann arbeiten dort mehr Frauen als Männer. Und auch die Debütantinnen im Literaturbetrieb sind in den letzten Jahren zahlreicher geworden. Warum das so ist, bleibt reine Spekulation. Die Münchner Literaturagentin Birgit Arteaga meint, dass früher eher ausländische Lizenzen gekauft wurden. Heute, bedingt auch durch neue Imprints, öffnen sich immer mehr Verlage den deutschsprachigen Autoren, die auch, ihrer Meinung nach, professioneller geworden sind. Und hier sind die Frauen einfach in der Überzahl. Christian Walther, Cheflektor bei Beltz & Gelberg für das Programm "Gulliver", mutmaßt, dass sich möglicherweise schreibende Frauen auch durch Familiengründungen oder Berufswahl den Erzählstoffen für Kinder und Jugendliche näher fühlen. Das ist sicher der Fall, es gibt aber noch andere Motivationen.
    "Ich habe mich sehr bewusst für Kinder und Jugendliteratur entschieden, weil ich finde, dass das die Basis ist, für alles was danach kommt an Literatur. Und weil ich ganz persönlich diesen Blick auf die Welt sehr mag von Kindern und Jugendlichen, der ist nicht so erwachsen rationalisiert ganz oft, in vielerlei Hinsicht unverstellter, naiver, emotionaler und das gefällt mir sehr gut."
    Sagt Uticha Marmon. Ihr neues Jugendbuch "Marienkäfertage" ist jetzt erschienen. Die 42-jährige Sabine Raml hat ebenfalls aktuell ihr Jugendbuch "Heldentage" veröffentlicht.
    "In die Zeit zurückversetzen musste ich mich ehrlich gesagt gar nicht. Ich war selber erstaunt, wie schnell die Stimme einer 15-Jährigen in mir drin war. Sie hat sich ja quasi aufgedrängt. Also, in mir drin scheint immer noch ein 15-jähriges Mädchen zu sein. Ich denke aber auch, dass diese Zeit so prägend für jeden uns ist, dass man wahrscheinlich sich da auch schnell und gerne oder auch nicht so gerne sich daran zurückerinnern kann. Ich glaube, es ist von den Jahren, über die wir reden, schon eine besondere Zeit."
    Mathilda ist eine Tagträumerin
    "Nee, ich habe, glaube ich, gar nicht so richtig an ein Publikum gedacht. Wenn, dann habe ich gedacht, ich möchte es so schreiben, dass es jeder so halbwegs verstehen kann. Die Sprache auch so zu gestalten, dass es nicht super kompliziert geschrieben ist. Nee, an ein speziell jugendliches Publikum habe ich nicht gedacht, würde mich aber freuen, wenn es denen irgendwas bringt."
    Resümiert Anne Krüger, die in Berlin lebt. In ihrem Debütroman "Allee der Kosmonauten" lässt sie ihre Hauptfigur Mathilda Unterwasser erzählen. Ende der 1970er Jahre zieht Mathilda mit ihrer Familie, da ist sie vier Jahre alt, von der heruntergekommenen Wohnung im Prenzlauer Berg in die Allee der Kosmonauten, eine breite, damals bekannte Hauptstraße in einem seelenlosen Neubaugebiet in Ostberlin. Sie erlebt den Fall der Mauer und beginnt Jahre später ein Germanistikstudium, das sie abbrechen wird. Jetzt arbeitet Mathilda ohne Berufsperspektive als Kassiererin in einem Supermarkt, wohnt in einer kleinen Wohnung wieder näher am Prenzlauer Berg und trifft ihre Freunde noch aus Kindertagen in ihrem Lieblingscafé. Und sie verliebt sich in die falschen Männer. Anne Krüger hat keinen autobiografischen Roman geschrieben, aber es gibt verbindende Elemente zwischen ihr und ihrer Hauptfigur.
    "Auf jeden Fall, was wir gemein haben, ich bin ja jetzt auch zehn Jahre älter als Mathilda, ich bin ja schon Ende dreißig, Mathilda ist Ende zwanzig, ist so, das ich das Lebensgefühl was Mathilda hat, auch ähnlich kenne. Dieses Gefühl, wie werde ich denn erwachsen. Das dieses innere Gefühl da ist, ich bin jetzt irgendwo angekommen oder ich habe eine innere Reife. Das fand ich, hat mir selber teilweise gefehlt in dem Alter, aber ich hatte das Gefühl, das ging meinem Umfeld ganz ähnlich."
    Mathilda ist eine Tagträumerin, der aber nicht entgeht, dass die einen Freunde ihre berufliche Karriere forciert vorantreiben, die anderen Häuser bauen und sich mit schreienden Babys umgeben.
    Buchausschnitt - Allee der Kosmonauten: Ich betrachtete die Fußgänger, die wie große Käfer aussahen, dann den grauen Balkonboden. Mein Blick glitt weiter, durch das Fensterglas sah ich ins Wohnzimmer wie durch ein Bullauge. Alles schien so vertraut. Ich wohnte seit einer Ewigkeit hier, seit tausend Jahren schon, so fühlte es sich an.
    Allein der Gedanke an Veränderung versetzt Mathilda in Angst. Sie wirkt trotz fester Strukturen in ihrem Leben orientierungslos, ja fast verloren. Auffallend oft träumt die junge Frau vom Weltall. Der Traum vom Fliegen, der Mathildas Schuljahre begleitete und eng mit der sowjetischen Raumfahrt und der Allee der Kosmonauten verbunden war, wird in ihrer jetzigen Lebensphase auf komische Weise ad absurdem geführt. Plötzlich besteht der Mond aus Plastik, die Schwerelosigkeit wird zur Schwermut oder Juri Gagarin zum Gesprächspartner.
    Buchausschnitt - Allee der Kosmonauten: Gagarin lächelte. "Manchmal muss man einfach springen, auch wenn man Angst hat. Wer weiß, vielleicht muss man nur tief genug graben, um irgendwann den Schatz zu finden." "Aber ist denn der Mensch nicht böse?", fragte ich. Seine Mundwinkel senkten sich traurig und deutlich sah ich die Verbitterung, aber in Gagarins lächelnden Augen spiegelte sich das Licht der Milchstraße.
    In der Rollenprosa gehen die skurrilen Traumsequenzen, die tastenden Rückblicke in die Vergangenheit und die seelischen inneren Kämpfe ineinander über. Aber dann legt Mathilda den Schalter um und verlässt ihr Schneckenhaus. Sie sucht sich einen neuen Job, einen verlässlichen Mann, der sogar bei ihr einzieht und kehrt gedanklich, als würde sie von einem unausweichlichen Sog angezogen, immer wieder zu ihrer Kindheit in der Allee der Kosmonauten zurück.
    "Das ist ja eben eine Frage, die ich im Buch aufwerfe. Wie sehr hat man eben auch einen freien Willen, um Dinge zu entscheiden, wie sehr ist die Gesellschaft verantwortlich oder die Kindheit. Es werden alle möglichen Ursachen irgendwie angeschnitten oder angedeutet. Ich glaube, die Kindheit hat einen sehr großen Einfluss."
    Buchausschnitt - Allee der Kosmonauten: Das Kollektiv steht über allem, die Erwachsenen auch. Wir Kinder gehen spielen, weil Kinder eben spielen. Aber tief in unserem Inneren sind wir einsam. Unsere Eltern merken nichts. Und wir, wir merken auch nichts. Wir sind verlorene Kinder und niemand weiß es.
    Mathildas Erinnerungen an die Wendezeit, da war sie 14 Jahre alt, spielen keine wichtige Rolle, doch die Erlebnisse und einzelne Szenen aus ihrer Kindheit in Ostberlin hinterlassen eindeutig Spuren und verdeutlichen wie diese Zeit auch ihr Verhalten geprägt hat. Anne Krüger ist eine Erzählerin, die wenig Aufhebens machen möchte. Ihre Sprache ist lakonisch und doch spürt man beim Lesen die subtile Empathie, die die Autorin für ihre unspektakuläre Heldin, die durchaus einen Reifeprozess durchlebt, empfindet. Wie Mathilda hat auch Anne Krüger Germanistik studiert. Über einen langen Zeitraum, es existierten viele verschiedene Fassungen, hat sie an ihrem Debüt gearbeitet. Die kürzere Kunstform, die mehr Freiheiten für Assoziationen lässt, liegt ihr mehr, meint Anne Krüger, und so arbeitet sie vorrangig als Hörspielautorin.
    Anne Krüger hat ihr Manuskript per Vermittlung einer Literaturagentur beim Loewe-Verlag veröffentlicht, ein Weg, den auch Uticha Marmon kennt.
    "Lykke. Ich heiße Lykke Elin Michelsen."
    "Das Beste ist inzwischen, das kann man auch nur jedem raten, der das anfangen möchte, sich eine Literaturagentur zu suchen. Weil die wissen immer am besten, was die Verlage suchen, die sind auch schon lange im Voraus informiert darüber, wenn es Verlagsgründungen gibt oder Wechsel oder das Programm in andere Richtungen justiert werden soll bei Verlagen."
    Jung, wach und direkt, so wirkt die 35-jährige Uticha Marmon, wenn sie von den Glückszufällen und Holprigkeiten erzählt, die ihren Einstieg in den Literaturbetrieb begleiteten. Als Schauspieldramaturgin hat die Hamburgerin am Theater gearbeitet, dann aber ihre Liebe zum Hörbuch und zum Schreiben entdeckt. Ihr erstes Buch "Als Opapi das Denken vergaß" erschien beim neugegründeten Magellan-Verlag durch die Vermittlung ihrer Literaturagentin, Birgit Arteaga. Das Jugendbuch "Marienkäfertage" folgte und greift ein Thema auf, das Uticha Marmon bereits sehr lang beschäftigte.
    "Für ein Jugendbuch fand ich das Thema Identität deswegen spannend, weil da so viel mitspielt. Weil es ja nicht nur darum geht, was ja heute so oft in den Vordergrund geschoben wird, welche Klamotten trage ich und welches Handy habe ich, sondern es geht ja so sehr viel darum, wo komme ich her und gerade bei der Adoption dann im Speziellen, was bestimmt mich, bestimmen mich meine Erziehung oder bestimmen mich meine Gene. Ist es beides, kann ich überhaupt entscheiden, was mich bestimmt und inwiefern kann ich mich auch verändern."
    Nur durch einen Zufall entdeckt die 16-jährige Elin Dahlberg, ihre Eltern sind verreist, dass sie kurz vor ihrem ersten Geburtstag adoptiert wurde. Verwirrt, enttäuscht und wütend flieht sie in das idyllische Ferienhaus, das Marienkäferhaus, der Familie nach Dänemark. Hier begegnet sie ihrer Freundin aus Kindertagen Silje und dem zwei Jahre älteren Rasmus.
    Buchausschnitt - Marienkäfertage: "Lykke. Ich heiße Lykke Elin Michelsen." Jetzt ist es raus. Das erste Mal hat sie es laut gesagt. Und nichts ist passiert. Kein Ruckeln, weil die Welt für eine Millisekunde aufgehört hätte, sich zu drehen, kein Moment, in dem alles still war, nichts dergleichen.
    Uticha Marmon macht es dem Leser nicht leicht. Er braucht schon eine Weile, ehe er versteht, dass Rasmus und Elin nicht nur ein vergessenes Segelboot und eine Flaschenpostbotschaft verbinden, sondern auch ein gemeinsamer gewalttätiger Vater und eine Mutter, die ihre Tochter zur Adoption freigegeben hat und nun verschwunden ist. Dass beide Geschwister sind, wird erst nach und nach deutlich.
    "Für Elin und Rasmus wollte ich, dass das vor allem erst mal nicht so einfach ist, dass die sich nicht begegnen und sofort eine große Sympathie füreinander haben, weil das funktioniert ja so nicht. Das Leben ist ja nicht so, wenn gerade in so einer Situation ist wie Elin, dass man den Blick offen hätte für andere Menschen. Ich wollte für Rasmus vor allem, das man spürt, dass auch er sein Päckchen zu tragen hat und bestimmte Dinge erlebt hat, mit denen er noch nicht oder vielleicht auch nie umgehen kann. Der Weg ist eigentlich das Stichwort, dass sie beide einen Weg haben, auf dem sie gerade sind, der sich im Bestfall zu einem dann vereint."
    Geschickt knüpft Uticha Marmon ein Netz aus Erinnerungen an die behütete Kindheit Elins. Ohne die Erklärungen der Erwachsenen aber gemeinsam mit Rasmus schafft es Elin, ihre Wut auf die Lebenslüge der Eltern zu überwinden und die wahren Hintergründe der Adoption zu verstehen. Durch die Erzählperspektive, die den Gedankenstrom von Elin spiegelt, bleibt Raum für Reflexionen und die Natur.
    Buchausschnitt - Marienkäfertage: Der Wald hatte genug gehört und lässt sie gehen. Die Abendsonne taucht den See in weiches Licht. Wie schnell das um diese Jahreszeit schon geht. Eben noch war der See ein quecksilbriger Tropfen, eingerahmt vom harten Schwarz der schattigen Bäume. Und jetzt liegt die Oberfläche still und blau da wie ein Spiegel auf einem grünen Samtkissen.
    "Die Landschaftsbeschreibungen, ja die sind deswegen für mich ganz wichtig, weil diese Atmosphäre natürlich den ganzen inneren Prozess von Elin trägt und damit sehr viel zu tun hat, weil es ist ja sehr schön und sehr idyllisch dort. Es hätte für mich nicht gepasst, wenn es eben das Gegenteil wäre, wenn es die Wege sind, die sie jeden Tag geht. Alles was ablenkt, hat mich gestört."
    Uticha Marmons Jugendroman endet offen, bietet aber genug Ansatzpunkte, um über die Lebenssituationen von Rasmus und Elin heute und vielleicht auch in der Zukunft nachzudenken. Für Jugendliche schreiben, heißt für die Hamburger Autorin sich auf ihr Lesepublikum einzustellen.
    "Vieles kommt aus dem Bauch, muss ich sagen, das entsteht dann, wenn ich versuche mich hineinzufühlen in die Geschichte. Aber allein, wenn ich schon die Geschichte entwickle, habe ich den Leser, die Zielgruppe, mit vor Augen. Manchmal ist es dann so, dass man noch mal justieren muss, was das genaue Zielgruppenalter angeht. Da gibt es dann schon so beim Schreiben Punkte, wo ich dann merke, ah, jetzt ist es zu jung oder ein Ticken zu alt, dann muss man das wieder verändern."
    Die Münchner Autorin Silke Schlichtmann versetzte sich für ihr erstes Kinderbuch, und das ist ihr nicht schwergefallen, in die Gedankenwelt einer Sechsjährigen. "Pernilla oder wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten" ist der Titel ihres Buches, das ebenfalls über eine Literaturagentur dem Hanser Verlag angeboten wurde. Die Idee zur Geschichte ist autobiografisch. Als Silke Schlichtmann ihr viertes Kind erwartete, teilte eine Krippenerzieherin ihr ziemlich taktlos mit, dass sie nun mit ihrer Familie nirgendwo mehr eingeladen wird. Akzeptable Besucher sind eigentlich nur Eltern mit einem Kind. Diese Bemerkung darf sich auch Pernillas Mama, ebenfalls mit dem vierten Kind schwanger, im Kindergarten von Frau Miller anhören und Pernilla ist Zeugin.
    Buchausschnitt - Pernilla: Ich freute mich riesig auf unser Baby. Und bisher habe ich immer gedacht, dass das Leben dann noch wunderbarer werden würde. Aber was, wenn es stimmte, was Frau Miller gesagt hatte, wenn uns wirklich niemand mehr einladen würde? Es gibt doch nichts Schöneres auf der Welt, als bei anderen zu Besuch zu sein: Da müssen wir nicht mal den Tisch abdecken. Und wenn wir eine Wand zu einem Kunstwerk umgestaltet haben, werden wir nicht auf unsere Zimmer geschickt; wir haben woanders ja auch keine eigenen Zimmer.
    Außerdem kann man bei anderen Leute gemütlich fernsehen, was bei Familie Petersen nicht mehr möglich ist, denn dieser wurde aus pädagogischen Gründen abgeschafft. Pernilla und ihr Bruder Ole, er hört gern alte Popmusik, gründen die Sonderkommission The Beatles, denn die Boygroup bestand ja auch aus vier Leuten. Schnell entwerfen Pernilla und Ole einen Plan, wie man sich als Kind ordentlich bei anderen Leuten aufführt. Allerdings endet der erste Testbesuch trotz guter Vorsätze bei den Nachbarn, der Familie Mücke, in einer Katastrophe.
    Buchausschnitt - Pernilla: "Gott!", sagte Mama zu Herrn Mücke. "Ihre Frau ist ohnmächtig geworden." Das war kaum zu glauben, nicht wahr? Erst gelingt es mir, zu dem sandigsten Sandkuchen, seit es Sandkuchen gibt, ein atemberaubendes Kompliment zu machen, und dann fällt unsere Gastgeberin noch in Ohnmacht - haargenau wie damals die Frauen bei den Auftritten der Beatles. Unsere Soko war auf der richtigen Spur.
    Frau Mücke jedoch verliert nicht das Bewusstsein vor lauter Begeisterung über das brave Benehmen der Kinder, sondern aus Panik vor Pernillas und Oles Gastgeschenk, den Rennmäusen Ernie und Bert. Pernilla und Ole müssen ihre Taktik ändern. Sie planen ein riesiges Fest und jeder, der kommt, fühlt sich als guter Gast geradezu genötigt eine Gegeneinladung auszusprechen, hoffen die Kinder. Pernilla, Ole und ihr älterer Bruder Lars organisieren hinter dem Rücken der Eltern eine Party mit 146 Leuten. Wie sie das in die Wege leiten, zumal Pernillas Mutter immer alles herausfindet, bleibt die große Herausforderung. Silke Schlichtmanns Pernilla, und das ist das überzeugende an dieser unterhaltsamen Geschichte, ist eine Erzählerin, der zugestanden wird, dass sie nicht alles begreift. Und daraus ergeben sich viele fröhliche wie vergnügliche Momente. Als freie Wissenschaftlerin und Lektorin hat Silke Schlichtmann nun die Seiten gewechselt und arbeitet bereits an einem zweiten Pernilla-Band.
    Mein Sommer mit Mucks
    Buchausschnitt - Mein Sommer mit Mucks: Jedes vierte Kind in Deutschland ist ein Einzelkind. Ziemlich genau 50 Prozent der Kinder haben einen Bruder oder eine Schwester, weitere 25 Prozent haben zwei oder mehr Geschwister, 25 Prozent sind Einzelkinder.
    So wie Zonja, die den Fakten und Daten gern auf den Grund geht und eine der Hauptfiguren in Stefanie Höflers Kinderroman "Mein Sommer mit Mucks" ist. Die aus Esslingen stammende Autorin hatte ihr Manuskript für den Peter-Härtling-Preis, den der Beltz & Gelberg Verlag alle zwei Jahre ausrichtet, eingereicht. Den Preis hat sie zwar nicht gewonnen, aber der Verlag war von ihrer Geschichte so begeistert, dass er sie veröffentlicht hat. Die 36-jährige Autorin, die als Lehrerin und Theaterpädagogin arbeitet, geht, wie sie sagt, analog durch die Welt. Wenn andere auf ihr Smartphone schauen, dann sieht sie sich eher Menschen an. Und so tauchte eines Tages auch die Figur des langbeinigen, weißhäutigen Jungen mit den "Absteheohren" auf, den Stefanie Höflers Erzählerin, die zwölfjährige Zonja, unter dramatischen Umständen im Schwimmbad kennenlernt.
    Buchausschnitt - Mein Sommer mit Mucks: Es dauert eine Minute, bis wir beide wieder zu Atem kommen. Dann guckt er mich von der Seite an und gibt mir die Hand. Eine ganz knochige, dünne Hand, und zwar die linke. Er drückt erstaunlich fest zu."Danke", sagt er. Und dann: "Mucks." Mucks? Ist das ein Geheimcode, ein Außerirdischendankesgruß oder was? Die Birke liest meinen Blick richtig und erklärt knapp: "Mucks. Das bin ich." Er lächelt überhaupt nicht.
    Mucks und Zonja sind Kinder, die eher beobachten als sich anderen anschließen. Zonja mit ihrem Science-Fiktion-Namen ist ein wissensdurstiger und neugieriger Teenager, Mucks, der eigentlich Fabian heißt, ein verschlossener Junge, der die Sterne liebt und ein Pfefferspray mit sich trägt. Mit Mutter und Oma ist er von Berlin nach München gezogen. Das ist jedoch nicht sein erster Ortswechsel.
    Buchausschnitt - Mein Sommer mit Mucks: Und gleichzeitig glaube ich, aus seiner Stimme Ärger herauszuhören. Ärger darüber, dass sein Vater nicht zuhört. Vielleicht ist es auch Traurigkeit. "Und wenn er mit seinem Glas Wein, das er jeden Abend getrunken hat, im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß oder mit der Zeitung und ich kam rein, dann hat er immer gleich gesagt: " Du, ich muss mich gerade konzentrieren, sei bitte mal mucksmäuschenstill."
    Mucks befindet sich auf der Flucht vor dem Vater, dessen Desinteresse dem Kind gegenüber in Gewalt umgeschlagen ist. Traumatische Erinnerungen verfolgen Mucks, über die er nicht sprechen kann. Zonja erlebt seine rätselhaften Wutausbrüche, sie hat die blauen Flecken gesehen und sie ahnt, dass seine inneren Kräfte nicht reichen, um den Vater abzuwehren. Aber Zonja behält ihre Beobachtungen nicht für sich, sie redet mit ihren Eltern und Zonjas Mutter greift im richtigen Moment ein. Stefanie Höfler bricht eine Lanze für die Neugierde und den Mut, genau nachzufragen und hinzuschauen. Die Autorin erzählt ohne Auslassungen davon, wie das Brutale in das Normale eindringen kann. Mucks will sich nichts von seinem Vater mehr gefallen lassen. Er kämpft und bekommt Hilfe. Stefanie Höflers Kinderbuch ist keine Betroffenheitsliteratur, die nur politisch korrekt auf ein gesellschaftlich ernst zu nehmendes Thema hinweist. Ganz im Gegenteil, die Autorin hat eine gute, nachvollziehbare Geschichte geschrieben, die ihre Leser sicher beschäftigen wird.
    Auch Sabine Raml wollte mit "Heldentage" kein "Problembuch" schreiben.
    "Der Erzählton, der war da von Anfang an und eigentlich habe ich dieses Buch auch so runtergeschrieben. Selbst wenn mal einen Tag Pause, Schreibpause dazwischen war, ich habe nie lange gebraucht, um mich da wieder reinzufinden, wie es bei Erwachsenentexten natürlich schon mal der Fall ist."
    Sagt die Trägerin des Kinder- und Jugendliteraturpreises der Stadt Oldenburg. Sabine Raml hat trotz langer Schreibphasen dann in kürzester Zeit im Jahr 2013 ihren Roman "Heldentage" abgeschlossen und eingereicht. Für ihr prämiertes Manuskript konnte sie sich den Verlag, was nicht die Regel ist, aussuchen. Bisher hat Sabine Raml viele verschiedene Berufe ausgeübt. Neben dem Schreiben arbeitet sie heute als Massagetherapeutin, auch, wie sie sagt, um geerdet zu bleiben. In Sabine Ramls Roman "Heldentage" spielt das eigene Erleben zwar eine Rolle, aber nach mehreren verworfenen Fassungen hat sie vieles sorgfältig in Fiktion verpackt. Lea heißt ihre Hauptfigur. Sie ist in Lenny verliebt, den sie aber nicht küssen will, kämpft mit ihrem Asthma und hat eine beste Freundin, Pola. Leas Tage jedoch werden von den "Flaschenfreunden" ihrer alkoholkranken Mutter bestimmt.
    Unbedingt weiterschreiben
    Buchausschnitt - Heldentage: Ich bin fünfzehn dreiviertel, liege nicht bei den anderen im Freibad und lache mich den ganzen Tag über irgendetwas kaputt. Bin fünfzehn dreiviertel und kriege kaum Luft. Bin fünfzehn dreiviertel, und alle meine Schuhe sind der reinste Schrott. Bin fünfzehn dreiviertel, und meine Mutter trinkt sich durch ihr Leben.
    "Das Verhältnis zwischen Lea und ihrer Mutter ist ein sehr ambivalentes Verhältnis. Wie alle Kinder liebt Lea ihre Mutter, sie hat ja auch nur noch ihre Mutter. Der Vater lebt ja nicht mehr in der Familie. Sie möchte ihrer Mutter gern helfen, sieht aber überhaupt keinen Weg, wie sie das anstellen soll. Sie versucht ja auch mehrere Sachen, das direkte Gespräch oder ja, dass sie auch mal aufmüpfig ist. Aber hat im Endeffekt keinen Plan, wie sie ihrer Mutter helfen kann. Aber ich glaube, das ist ihr größter Wunsch eigentlich."
    Buchausschnitt - Heldentage: Ich hasse mein Leben, aber ich bin stolz auf meine Fantasie.
    Wenn Lea ihre Gedanken und Träume zu Papier bringen kann, ist sie glücklich. Niemand weiß wie es wirklich um ihre innere emotionale und psychische Verfassung steht, denn nichts dringt nach außen. Allein gelassen muss Lea mit allem fertig werden, mit der Sprachlosigkeit und den Schlägen der Mutter und der Scham, die sie oft empfindet, auch weil sie in der Schule sitzengeblieben ist. Ein Schutzschild ist für Lea der Humor.
    Buchausschnitt - Heldentage: An schlechten Tagen schafft Mutter es gerade mal vom Bett auf die Couch und wieder zurück. Die Couch ist Pflicht, allein schon deshalb, weil der Fernseher davorsteht. Mutter wäre sicher der erste Mensch auf dem Mond, der mit einem tragbaren Fernseher spazieren geht und das Weltall keines Blickes würdigt. Mutter sieht eben nur das, was sie sehen will.
    "Ja, trotz der Situation, die wirklich nicht schön ist, ist Lea sehr lebensfroh. Ich denke, dass sich das durch das gesamte Buch zieht. Man merkt, wie sie sich über ihre Freundin freut, wie sie sich freut, ihre Clique zu treffen. Sie kann sich auch erinnern an Zeiten, die schöner waren und sie hofft einfach, dass diese 790 Tage bis sie endlich volljährig ist, dass die schnell vergehen, weil sie sich absolut sicher ist, dass ihr Leben danach schön wird."
    Trotz Fantasie und Freundin Pola ab einem bestimmten Punkt gelangt das überforderte Mädchen an seine Grenzen. Sie wird sich auf ihren Lieblingsplatz, einen hohen Baum zurückziehen, und sich weigern herabzusteigen. Sabine Raml zeigt Lea nie als Opfer und doch liest sich ihre Geschichte schmerzhaft wahr und berührend. Vielleicht ist es gerade das Unverstellte, Eigenwillige, Begeisterungsfähige und Direkte, das neue deutsche Autorinnen am Genre Kinder- und Jugendbuch so fasziniert. Ob ihre Arbeit jedoch innerhalb des Literaturbetriebes Anerkennung findet, bleibt eine andere Frage.
    "Worauf die Frage wahrscheinlich anspielt, innerhalb der Branche gibt es ein großes Gefälle zwischen Kinder- und Jugendliteratur und Literatur für Erwachsene. Da hat vor einiger Zeit mein Hörbuch- und Autorenkollege Kai Lüftner mal ein heftiges Statement von sich gegeben, das ich zum Teil so unterschreiben kann: Das Gefälle halte ich nicht für gerechtfertigt. Kinder- und Jugendliteratur zu schreiben kostet genauso viel Zeit und Energie und genauso viele Gedanken, wie Literatur für Erwachsene zu schreiben," sagt Uticha Marmon.
    Eins ist klar, sie sollten unbedingt weiterschreiben, die neuen deutschen Autorinnen, denn sie haben etwas zu sagen, und bereichern mit ihrer eigenständigen Erzählweise und ihren Themen den Markt für Kinder- und Jugendliteratur.
    Uticha Marmon: Marienkäfertage, Magellan Verlag, Bamberg 2015, 221 Seiten, €14,95
    Silke Schlichtmann: Pernilla oder Wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten, Carl Hanser Verlag, München 2015, 240 Seiten, €12,90
    Anne Krüger: Allee der Kosmonauten, script5, Loewe Verlag, Bindlach 2015, 399 Seiten, €17,95
    Sabine Raml: Heldentage - Do what you love!, Heyne Verlag, Heyne fliegt, München 2015, 304 Seiten, €14,99
    Stefanie Höfler: Mein Sommer mit Mucks, Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2015, 140 Seiten, €12,95