Bereits 1992 sicherte Volker Schlöndorff dem Archiv des Deutschen Filminstituts zu, seine umfängliche Sammlung von Produktionsunterlagen in Gänze zur Verfügung zu stellen. Um die Dokumente vor Abnutzung zu schützen, bietet das Institut jetzt einen zwar virtuellen aber dennoch direkten Zugang zu den Materialien. Ein Traum für jeden Archivar und jeden Cineasten! Und auch für den Regisseur ist die Online-Schau zu seinem 75. Geburtstag wohl ein Glücksfall. Schlöndorff kann in dieser ersten virtuellen Ausstellung des Filminstituts immerhin sein Lebenswerk präsentieren und kommentieren und nicht zuletzt seine Wirkmacht in der europäischen, ja internationalen Filmszene darlegen. Dem Besucher - oder User - der Online-Ausstellung werden neben Fotografien, Korrespondenzen, Drehbuch-Originalen und Tagebuchaufzeichnungen auch zahlreiche persönliche Videokommentare des Regisseurs zugänglich gemacht. So erfahren wir aus erster Hand, warum sich Schlöndorff als 25-Jähriger für die Verfilmung von Robert Musils Roman "Die Verwirrungen des Zöglings Törleß" entschied, es war Schlöndorffs Erstlingswerk.
"Das persönlichste Motiv war natürlich, dass ich selbst jahrelang im Internat gewesen bin. Das andere Motiv für den Törleß war, dass ich Musil sehr liebte. Trotzdem habe ich mich erst noch ein bisschen gesträubt, weil ich dachte, wir leben in der Zeit der Nouvelle Vague, "Außer Atem", die Gangsterfilme von Belleville, die Filme von Truffaut und von Malle, die in Paris, jetzt hier und heute spielen. Und wenn ich denn schon nach Deutschland zurückgehe, muss ich denn dann einen Kostümschinken machen?"
Mit seiner "Törleß"-Verfilmung mit Matthieu Carrière in der Hauptrolle sorgte Schlöndorff 1965 für einen Eklat bei den Filmfestspielen in Cannes. Zu brutal waren die Folterszenen, sodass der Leiter der deutschen Cannes-Delegation laut protestierend den Saal verließ: das sei kein deutscher Film! Dem Erfolg von "Törleß", der dann doch mit der Goldenen Palme für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde, und vor allem der Karriere seines Regisseurs tat dies keinen Abbruch. In seinen eigenwilligen Literaturverfilmungen arbeitete Schlöndorff stets die Bruchlinien des vermeintlichen gesellschaftlichen Konsens' heraus.
Nur vier Jahre nach "Törleß" verfilmte Schlöndorff dann eine weitere literarische Vorlage über einen orientierungslosen jungen Mann: Berthold Brechts "Baal". In der Online-Ausstellung kommentiert Schlöndorff die Entstehung der skandalträchtigen Inszenierung mit einem herrlich schnoddrigen Rainer Werner Fassbinder in der Hauptrolle.
"Die haben gedacht, das ist eine Sozialreportage und dass wir mit der Kamera in München herumgezogen sind, und haben da so einen Lustmörder gefilmt, und auch noch verherrlicht. Und dann gab es das Bildungsbürgertum. Die erwarteten nun einen Brecht, von guten Staatsschauspielern mit perfekter Diktion gegeben. Und die waren erst recht empört über das, was sie da sahen. Also, alle waren dagegen."
Vergnügt lässt Schlöndorff die Skandale um seine Filme und Details von den Dreharbeiten revuepassieren. Sieben der insgesamt 35 Spielfilme Schlöndorffs werden so vorgestellt, darunter "Mord und Totschlag" von 1966 und "Die verlorene Ehre der Katharina Blum" von 1975. Mittels unzähliger Dokumente zu seinen Filmen und zu seiner Zusammenarbeit mit großen Autoren und Schauspielern gewährt die Ausstellung einen ungewöhnlich tiefen Einblick in Schlöndorffs Welt. Wer sich erst einmal durch die Untiefen des Online-Archivs geklickt hat, findet hier zugleich Bauteile einer spannenden Gesellschafts- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik.
Um eine Ausstellung im eigentlichen Sinne handelt es sich allerdings nicht. Vielmehr hat sich der Regisseur hier zum 75. Geburtstag selbst ein Denkmal gesetzt. Auf einen kuratierten Zugriff verzichtet das Projekt. Neben Schlöndorffs Worten hat keine einzige Außensicht von Filmhistorikern oder Kollegen Platz. Hier scheint ein von jedwedem Zweifel befreites Verhältnis zum eigenen Werk und dessen kultureller Bedeutung auf. Für die virtuelle Online-Ausstellung, die ihre Objekte ausschließlich auf dem Bildschirm erfahrbar macht, gilt dann erst recht: Je tiefer der Einblick ins Atelier des Meisters, umso unerreichbarer scheint dieser zu sein.