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Kirchners Straßenszenen

Ernst Ludwig Kirchners Werk sorgte jüngst vor allem kulturpolitisch für Diskussionen. Hintergrund ist die umstrittene Rückgabe seines Bildes "Berliner Straßenszene" von 1913 vom Berliner Brücke-Museum an Kirchners jüdische Erben. Später ersteigerte der amerikanische Unternehmer und Kunstsammler Ronald S. Lauder das Bild für 38 Millionen Dollar. Nun ist es als Leihgabe Teil der Ausstellung "Kirchner and the Berlin Street" im New Yorker MoMA.

Von Sacha Verna |
    Das Ölbild "Berliner Straßenszene" von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1913
    Das Ölbild "Berliner Straßenszene" von Ernst Ludwig Kirchner aus dem Jahr 1913 (picture-alliance/ dpa)
    Die sieben Bilder aus Ernst Ludwig Kirchners berühmten Zyklus der Berliner Straßenszenen bilden unübersehbar und erwartungsgemäß den Kern der Ausstellung "Kirchner and the Berlin Street". Sieben Mal Berlin in grellen Farben, eckigen Formen und hektischen Pinselstrichen, sieben Magnete fürs Auge, die allein schon den Besuch im Museum of Modern Art lohnen. Dies umso mehr als diese wichtigsten Bilder aus der zwischen 1913 und 1915 entstandenen Serie bisher noch nie in einem Raum versammelt und nebeneinander präsentiert worden sind.

    "Kirchner and the Berlin Street" ist erstaunlicherweise eine der ersten Ausstellungen in den Vereinigten Staaten, die sich ausschließlich mit Ernst Ludwig Kirchner befasst. Dieser bedeutende Vertreter des deutschen Expressionismus und Mitbegründer der wegweisenden Künstlergruppe "Die Brücke" wurde dem amerikanischen Publikum zwar bereits 1913 in der Armory Show, der ersten internationalen Ausstellung für moderne Kunst in New York vorgestellt. Doch laut der Kuratorin Deborah Wye folgte darauf keine breite Anerkennung:

    " Ich habe den Eindruck, dass der deutsche Expressionismus insgesamt nicht das gleiche Verständnis genießt wie andere Bewegungen der frühen modernen Kunst. Die meisten Leute hier kommen damit vielleicht im Kunstgeschichtsunterricht im College in Berührung. Aber damit hat es sich. Deshalb finde ich es umso aufregender, etwas zeigen zu können, das man nicht schon unzählige Male gesehen hat. Ich glaube, viele Werke in dieser Ausstellung bergen einen Aspekt der Entdeckung für das New Yorker Publikum. "

    Zum Glück haben die Organisatoren der Versuchung widerstanden, eine jener Blockbuster-Schauen zu fabrizieren, deren Essenz sich in Form von Postkarten aus dem Museumsshop mit nach Hause tragen lässt. Das wäre einfach gewesen. Erst recht, nachdem eines der gezeigten Bilder, jenes mit dem Titel "Berliner Straßenszene" von 1913, vor zwei Jahren durch einen Rückgabestreit weltweit in die Schlagzeilen geriet und für einen Rekordpreis von fast 30 Millionen Euro in einer Auktion versteigert wurde.

    Statt mit Kirchners Straßenszenen als Knüller-Zyklus inklusive 30 Millionen Euro Öl auf Leinwand zu locken, setzt Deborah Wye die Bilder in Zusammenhänge, die auch auf für Besucher interessant sein können, die mit Kirchners Werk vertraut sind. So wird deutlich, welch wesentliche Rolle die Druckgrafik in Kirchners Arbeitsprozess spielte:

    " Wenn ein Künstler in einen Holzblock schnitzt oder auf eine Kupferplatte ritzt oder die Chemikalien für eine Lithographie mischt, gibt es da einen Widerstand. Kirchner sagte einmal, dass das Herstellen von Druckgrafik in ihm Energien freisetze, die er in den flüssigeren Techniken des Malens und des Zeichnens nicht finde. Ich glaube, er mochte diesen Widerstand. Er malte, dann zeichnete er, dann machte er Grafik. Die Grafik gab ihm neue Ideen fürs Zeichnen und dieses wiederum fürs Malen. "

    Tatsächlich dokumentieren in dieser Ausstellung sorgfältig ausgewählte Arbeiten auf Papier Kirchners schöpferischen Weg zu den Berliner Straßenszenen. "Das blaue Haus im Topflappenviertel", ein Kupferstich von 1909, "Bahnhof Dresden-Friedrichstadt", eine Radierung von 1911: Noch sind dies fast menschenleere Stadtansichten, während in den Straßenszenen später Menschen im Mittelpunkt stehen. Menschen, oder genauer, elegante Frauen, die ebenfalls eine Vorgeschichte haben in Kirchners Holzschnitten und Lithografien von Tänzerinnen und Prostituierten, von Badenden und Aktmodellen.

    Unmittelbarer ist die Verwandtschaft zwischen einem Blatt wie "Frauen auf dem Potsdamer Platz" und dem Gemälde "Potsdamer Platz" oder einem Holzschnitt wie "Fünf Kokotten" und dem Bild "Fünf Frauen auf der Strasse", wobei im letzteren Fall das Bild der Grafik vorausging. Kirchner hat die Sujets seiner Studien sogar eher selten direkt in die Bilder der Straßenszenen übernommen. Er schien Leinwand und Papier vielmehr als gleichwertige Experimentierfelder zu nutzen.

    Diese intime und konzentrierte Ausstellung ermöglicht viele Einsichten wie diese. Ob "Kirchner and the Berlin Street", wie Deborah Wye hofft, beim Publikum den Appetit auf mehr deutschen Expressionismus weckt, bleibt abzuwarten. Aber eigentlich wäre es nicht schlimm, könnte man Kirchners Werke in Amerika weiterhin sehen, ohne dass sich die Hinterköpfe anderer Besucher in den Vordergrund drängen.