Es ist ziemlich ruhig in Biblis. Eine lange Straße führt durch die beschauliche 8.000-Seelen-Gemeinde in Südhessen. Es herrscht wenig Verkehr. Nach einigen Minuten tauchen am westlichen Ortsrand die vier markanten Kühltürme des Atomkraftwerkes auf.
Seit 1969 lebt man in Biblis mit der Anlage. 1975 begann der kommerzielle Betrieb des Meilers, der im Jahr 2011 abrupt endete: Am 11. März war es nach Erdbeben und Tsunami zur Katastrophe im japanischen Atomkraftwerk Fukushima gekommen. Eine Woche später, am 18. März, ging Biblis vom Netz. Die Mehrzahl der Anwohner ist noch heute erleichtert: "Das steht da ja schon 35 Jahre. Und man hat das eigentlich zu recht abgeschaltet, würde ich sagen. Dies Fukushima hat man immer noch im Hinterkopf. Und man weiß nicht, was da noch alles passieren kann. Das ist ein langzeitiges Objekt da."
Andererseits: Das Atomkraftwerk hat lange Zeit auch Wohlstand gebracht für Biblis. Der Betreiber RWE war ein wichtiger Gewerbesteuerzahler und Sponsor für das lokale Vereinsleben. Auch rund 1.000 Arbeitsplätze sicherte das Kraftwerk in der Region. Doch seit Fukushima wird in Biblis kein Atomstrom mehr produziert. RWE hat beim für die Atomaufsicht zuständigen hessischen Umweltministerium den Rückbau des Kraftwerks beantragt. Die Anhörungen dazu haben begonnen. Die meisten Einwohner von Biblis sind damit einverstanden, dass RWE das Kernkraftwerk nach der Stilllegung abreißen will. "Es ist ein Wunder, dass das da überhaupt abgeschaltet wurde. Wenn das da in Japan nicht passiert wäre, hätten die das auch nicht abgeschaltet. Die mussten ja von der Regierung her. Die sind ja gezwungen worden. Von alleine hätten sie es nicht abgeschaltet."
Opposition vermutete Wahltaktik
Es war Angela Merkel, die am 12. März 2011, am Tag nach der Reaktorkatastrophe in Japan, den Begriff "Moratorium" ins Spiel brachte. "Und zwar dergestalt, dass die Kernkraftwerke, die vor dem Ende des Jahres 1980 in Betrieb gegangen sind, dabei stillgelegt werden, für die Zeit des Moratoriums also außer Betrieb sind."
Zunächst drei Monate lang sollten die alten Meiler vom Netz gehen und umfangreichen Sicherheitschecks unterzogen werden. Die Opposition im Bundestag, damals SPD, Grüne und Linke, warf der Bundeskanzlerin sofort wahltaktisches Verhalten vor. Denn nur wenige Tage nach Fukushima standen für die Merkel-CDU wichtige Wahlen an: Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz sowie Kommunalwahlen in Hessen.
Die Betreiber der deutschen Atomkraftwerke hofften nach Fukushima noch einige Wochen lang, dass sie ihre sieben alten Atommeiler wieder hochfahren werden können. Hans-Peter Villis von der Energie Baden-Württemberg, kurz EnBW, sprach das aus, was auch die Manager von E.ON, Vattenfall oder RWE wohl zunächst dachten: "Wir müssen mit der Bundeskanzlerin ins Gespräch kommen, das hat sie uns ja signalisiert. Wir müssen schauen, wie wir mit dem Moratorium umgehen, und nach drei Monaten wird ja das Spiel wieder neu gespielt."
Die Kanzlerin meinte es ernst
Doch Angela Merkel wollte die alten Atommeiler nicht mehr ans Netz lassen. Die Kanzlerin meinte es - zur Überraschung vieler auch in der eigenen Partei - sehr ernst mit dem endgültigen Atomausstieg. Dem Moratorium folgte im Juni 2011 für sieben AKWs das endgültige Aus - die anderen neun Anlagen werden bis 2022 stillgelegt; in Kürze geht Grafenrheinfeld in Bayern vom Netz.
RWE klagte als erster Betreiber sofort gegen das Moratorium, nachdem der Essener Konzern am 18. März 2011 vom hessischen Umweltministerium schriftlich aufgefordert wurde, den Block A in Biblis abzuschalten. Block B stand damals wegen Wartungsarbeiten ohnehin still. Das Verfahren ging bis vor das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Das entschied Anfang 2014 endgültig: RWE hat recht. Das Atomkraftwerk Biblis wurde zu überstürzt abgeschaltet. Das Land Hessen hätte dem Energieunternehmen eine Frist einräumen müssen, um zur geplanten Abschaltung Stellung zu nehmen. Diese Frist jedoch gewährte die damalige schwarz-gelbe Regierung unter Ministerpräsident Volker Bouffier RWE nicht. Warum - das ist bis heute unklar.
Ein Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags versucht, die Gründe dafür herauszufinden. Norbert Schmitt ist Obmann der SPD in diesem Ausschuss. Er hat einen Verdacht: "Alle Abläufe zeigen, dass man unbedingt vor der anstehenden Landtagswahl in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz und übrigens den Kommunalwahlen in Hessen die Atomkraftwerke, die älteren Atomraftwerke vom Netz nehmen wollte. Man hat überhaupt keine Zeit gelassen, entsprechende Bescheide juristisch sauber zu begründen. Es war also sozusagen eine politische Erwägung. Und ich finde, wenn Frau Merkel und Herr Bouffier und alle anderen, die gehandelt haben, aus politischen Gründen, aus parteipolitischer Erwägungen so vorgegangen sind und dies am Ende dem Steuerzahler ganz, ganz viel Geld kosten kann, dann ist etwas faul im Staate Dänemark. Und im Staate Deutschland und auch in Hessen und dann muss man das politisch diskutieren."
Aufklärung rechtswidriger Anordnung
Der Biblis-Untersuchungsausschuss im hessischen Landesparlament tagt seit fast genau einem Jahr. Der Arbeitsauftrag: Umfassend aufzuklären, wer für die rechtswidrigen Anordnungen zur damals vorläufigen Stilllegung der beiden Blöcke in Biblis verantwortlich war und welche Umstände zur rechtswidrigen Stilllegungsverfügung vom 18. März 2011 geführt haben.
Im Focus der Opposition stehen der Ministerpräsident Volker Bouffier und die damalige Umweltministerin Lucia Puttrich – beide CDU. René Rock ist der Obmann der FDP im Untersuchungsausschuss. Er glaubt, dass Bouffier und Puttrich sich damals leichtfertig über Bedenken von Fachbeamten - auch aus dem FDP-geführten Justizministerium - hinweggesetzt haben. 2011 regierte in Hessen noch eine Koalition aus CDU und FDP.
"Ich kann mich erinnern, ich war ja damals auch hier im Landtag. Und genau wie die Bevölkerung waren auch wir in politischer Verantwortung einfach nur schockiert über das, was wir gesehen haben. Und natürlich haben wir da in einer außergewöhnlichen Situation außergewöhnliche Beschlüsse gefasst, die es ohne diesen Umfall in Fukushima nicht gegeben hätte. Aber nichtsdestotrotz, muss man sagen: Genau dafür gibt es Ministerien, Beamte, Fachleute, dass sie dann auch dafür sorgen, dass das in ordnungsgemäßen Bahnen abgearbeitet wird."
Konzerne fordern Entschädigungen
Die Frage, wer verantwortlich für die Stilllegung von Biblis war, ist wichtig. Denn vier Jahre nach Fukushima will RWE als Betreiber von Biblis entschädigt werden - vom Land oder vom Bund. Janine Wissler ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Linkspartei und Fraktionsvorsitzende im Landtag. Sie ist auch Obfrau im Untersuchungsausschuss: "Uns interessiert vor allem, sind die Menschen, die Menschen in den Ministerien, sind die Minister, ist der Ministerpräsident - sind sie gewarnt worden, dass das Vorgehen rechtlich nicht sauber ist. Mussten sie damit rechnen, dass es Schadensersatzforderungen gibt. Das wollen wir wissen, um einfach beurteilen zu können, ob das Handeln verantwortungslos war oder ob es sogar mutwillig war."
Mit einem ganzen Bündel von Klagen überziehen die Energiekonzerne zur Zeit Bund und Länder. Laut Auskunft des Bundesverfassungsgerichtes liegen in Karlsruhe aktuell sieben Verfassungsbeschwerden gegen die Novelle des Atomgesetzes vor. Mit der hatte der Bundestag 2011 den Atomausstieg bis 2022 beschlossen. Ob die Klagen von RWE, E.ON und Vattenfall angenommen werden, ist - Stand heute - noch nicht entschieden. Für den Fall, dass die Energieunternehmen in Karlsruhe recht bekommen sollten, müsste der Bundestag eine Schadenersatzregelung per Gesetz beschließen.
Bereits konkreter sieht es bei Schadenersatzklagen wegen des dreimonatigen Atom-Moratoriums aus: Im August 2014 reichte RWE eine entsprechende Klage beim Landgericht Essen ein - gegen das Land Hessen und den Bund. Wegen "entgangener Einnahmen" will RWE 235 Millionen Euro von der öffentlichen Hand.
Und nicht nur RWE klagt auf Schadenersatz: E.ON fordert vom Bund 380 Millionen Euro wegen des Moratoriums. Bei E.ON geht es um die Kernkraftwerke Unterweser in Niedersachsen und Isar 1 in Bayern. Die Klage wurde beim Landgericht Hannover eingereicht, weil die Kernkraft-Sparte von E.ON dort ihren Sitz hat. Und auch das dritte deutsche Energieunternehmen, die EnBW, hat beim Landgericht Bonn Klage eingereicht: Wegen der erzwungenen Abschaltung seiner Atomkraftwerke Neckarwestheim 1 und Philippsburg 1 will der Konzern Schadenersatz vom Bund und vom Land Baden-Württemberg. René Rock (FDP) zur Gesamtsumme, die im Raum steht: "Man muss im Hinterkopf haben, es geht um fast 900 Millionen Euro."
Oder am Ende um noch viel mehr. Denn es geht auch um die Abschaltung der Atommeiler Brunsbüttel und Krümmel in Schleswig-Holstein, die von Vattenfall betrieben wurden. Allerdings klagt das schwedische Energieunternehmen auf 4,7 Milliarden Euro Schadenersatz nicht in Deutschland, sondern vor einem internationalen Schiedsgericht in Washington. Das ist ein Klageweg, der aufgrund der Diskussion um das Freihandelsabkommen TTIP in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt ist. Norbert Schmitt, SPD-Obmann im Biblis-Untersuchungsausschuss: "Das Beispiel Vattenfall ist ja ein Beispiel dafür, dass wir große Bedenken haben, dass Schiedsgerichte wichtige Entscheidungen treffen sollen. Deswegen ist die Auffassung auch der hessischen SPD auch, man darf nicht wichtige Kompetenzen auf Schiedsgerichte verlagern. Sondern man muss den ordentlichen Gerichtsweg in Deutschland gehen können. Die deutschen Gerichte sind anerkanntermaßen völlig unabhängig. Es gibt hervorragende Rechtsprechung in Deutschland. Und deswegen gibt es überhaupt keinen Anlass dafür, dass Firmen die Möglichkeit erhalten, diese Gerichte ausschalten zu können."
Klage vor US-Schiedsgericht
Vattenfall sieht das natürlich ganz anders. Ein Anwalt des Konzerns begründet in der ARD-Sendung "Monitor" den Gang zum US-Schiedsgericht damit, dass ein Prozess in Deutschland sehr lange dauern kann: "Sie müssen erst einmal vor das Verfassungsgericht ziehen. Sie müssen recht bekommen und dann müssen sie hoffen, dass das Verfassungsgericht eine Entschädigungsregelung anordnet. Und dann muss das Parlament eine Entschädigungsregelung verabschieden. Und erst, wenn diese Entschädigungsregelung verabschiedet worden ist, kriegen sie vielleicht irgendwann Geld."
Im Falle des hessischen Atommeilers Biblis wird zwischen der mittlerweile schwarz-grünen Landesregierung und der schwarz-roten Bundesregierung mit harten Bandagen gekämpft. Selbst CDU-Parteifreunde schenken sich dabei nichts. Vor wenigen Tagen sagte der ehemalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen vor dem Biblis-Untersuchungsschuss aus. Der CDU-Politiker berichtete, dass er kurz nach der Fukushima-Katastrophe mit seiner damaligen Amtskollegin und Parteifreundin Puttrich telefoniert hat. Er habe ihr klar gemacht, erklärt Röttgen, dass der Bund das Land Hessen nicht anweisen werde das AKW Biblis vom Netz zu nehmen. Das müsse Hessen schon selbst tun. Genauso wie das Land für eine rechtssichere Abschaltung zu sorgen habe.
Die Aussage des Ex-Ministers macht die Mitglieder im Untersuchungsausschuss hellhörig: Denn hätte es eine Weisung des Bundes an Landesumweltministerin gegeben, wäre Hessen bei Schadenersatzforderungen wohl aus dem Schneider. Nun aber wird die Bredouille, in die das Land wegen Biblis geraten ist, immer größer. Janine Wissler von der Linkspartei: "Das ist ein ziemlicher Hammer, würde ich sagen! Weil die ganze Zeit hieß es ja, es wurde nicht schriftlich bestätigt, dass es keine Weisung gäbe. Wenn Herr Röttgen persönlich mit Frau Puttrich persönlich telefoniert hat und klar gestellt hat, wie das rechtlich aussieht und das es keine Weisung geben wird, dann stellt das die ganze Version der Landesregierung infrage. Das heißt, Frau Puttrich wusste, dass sie hier die Verantwortung trägt und nicht der Bund."
Norbert Schmitt von der SPD macht nach der Röttgen-Aussage Volker Bouffier mitverantwortlich. Denn der Ministerpräsident hätte öffentlich immer behauptet, dass bei der Abschaltung von Biblis der Bund den Hut aufgehabt habe. Nun aber hätte sein Parteifreund Röttgen klipp und klar erklärt, er habe Hessen nach Fukushima deutlich gemacht, dass das Land für die ordnungsgemäße Abschaltung zuständig sei. Norbert Schmitt: "Seit heute ist klar, dass Herr Ministerpräsident Bouffier die Öffentlichkeit an der Nase herumgeführt hat mit seiner Aussage, der Bund hat den Hut aufgehabt. Es war völlig klar, Hessen hat eigene Entscheidungsmöglichkeiten gehabt. Und es war immer der Versuch, wie ein Zeuge gesagt hat, den toten Vogel dem Bund in die Tasche zu schieben. Ich glaube, diese Ausrede ist seit dem heutigen Tage weg."
Holger Bellino, Obmann der CDU im Biblis- Untersuchungsausschuss, verteidigt weiterhin tapfer seine Parteifreunde auf der hessischen Regierungsbank - auch gegen Norbert Röttgen. Und selbst gegen die eigene Parteivorsitzende, Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am Tag nach Fukushima den Begriff "Moratorium" ja als Erste öffentlich in den Mund genommen hatte: "Der Bund hat das Moratorium verkündet, am Tage bevor die Ministerpräsidenten sich in Berlin getroffen haben. Und der Bund hat entsprechende Vorgaben gemacht, wie das Moratorium in den Ländern umzusetzen ist. Dadurch hat er klar das Heft des Handelns zu Recht bei einer derart wichtigen Frage in die Hand genommen."
Briefwechsel unter der Lupe
Auch die Grünen, 2011 in der Opposition und heute Koalitionspartner der hessischen CDU, versuchen den Ministerpräsidenten zu unterstützen - so gut es geht. Frank Kaufmann ist Obmann der Grünen im Biblis- Untersuchungsausschuss. Er verteidigt auch einen umstrittenen Brief Bouffiers, den dieser während des Moratoriums 2011 an den damaligen RWE-Chef Jürgen Grossmann geschrieben hatte. Übrigens - auf dessen Bitte hin. Grossmann wollte vom Land Hessen damals schwarz auf weiß lesen, dass er Biblis A nach dem dreimonatigen Moratorium nicht mehr hochfahren darf. Der Regierungschef bestätigte das dem Konzernchef schriftlich. Dieser Brief sorgt mittlerweile für viel Ärger. Doch für den Grünen Kaufmann ist das Bouffier-Schreiben kein amtlicher Bescheid. Und genau das ist die alles entscheidende Frage: "Dieser Briefwechsel wird als Argument bei den Klagen von RWE und den anderen Atomfirmen wohl eine Rolle spielen. Sie werden versuchen, das in den Prozess einzuführen. Damit ist es aber noch in überhaupt keiner Weise tatsächlich relevant. Wenn sie mit feinerem juristischen Besteck diese Sache sezieren, dann stellen sie fest: Es war der falsche Adressat, es war die falsche Aussage, es ist kein Bescheid. Er hat keine Rechtsmittelbelehrung. Alles das, was ein Jurist im ersten Semester lernt, was zu einem Verwaltungsakt dazu gehört, damit er wirksam ist, enthält dieser Brief nicht. Von daher ist die Behauptung, dadurch wäre ein Schaden entstanden, aus unserer Sicht eher an den Haaren herbeigezogen."
Diese Ansicht teilt Norbert Schmitt von der SPD nicht. Er glaubt sehr wohl, dass das Schreiben des Ministerpräsidenten in einem Prozess gegen das Land von Relevanz sein kann. Er fragt sich, warum Bouffier überhaupt diesen Brief an den ehemaligen RWE-Chef verfasst hat: "Wir haben es ja mit einem Vorgang zu tun, dass Herr Grossmann damals an den Ministerpräsidenten geschrieben hat, dass der ehemalige Chef des Bundeskanzleramtes, Herr Pofalla, zugesagt hat, dass es ein Schreiben aus Hessen gibt, dass das Anfahren von Biblis verhindert. Man fragt sich: Warum ist überhaupt ein solches Schreiben notwendig, was ist der Charakter des Schreibens? Und unsere Vermutung ist, dass es eine Absprache gab, dass der Ministerpräsident genau das geantwortet hat, was RWE gewünscht hat."
Ein Brief auf Bestellung also, der nun im Prozess die Rechtsposition des Konzerns vielleicht stärken kann? Ronald Pofalla hat eine solche Absprache bestritten. Der ehemalige Kanzleramtschef sagte in der vergangenen Woche als Zeuge im Biblis- Untersuchungsausschuss aus. Und auch Volker Bouffier wehrt sich gegen den Vorwurf, er habe mit dem Brief dem Land Hessen geschadet: "RWE wollte einen Bescheid. Den haben sie nicht bekommen. Sondern sie haben eine politische Antwort bekommen, die in absoluter Übereinstimmung mit allen anderen war. Und dem ist eigentlich nichts hinzuzufügen. Insbesondere begründet es keinen Schadenersatzanspruch oder welchen Anspruch auch immer, den die Unternehmen gegen die Stilllegungsverfügung für das Moratorium angestrengt haben."
Doch der Brief steht nicht allein. Es sind viele Fehler passiert - damals nach Fukushima. Da ist der Stilllegungsbescheid ohne Anhörung - das Bundesverwaltungsgericht urteilte, dass Hessen RWE hätte anhören müssen. Da ist die damals zuständige Fachministerin, Ex-Umweltministerin Puttrich, die die Einwände etwa aus dem Justizministerium einfach ignorierte. Da sind Spitzenbeamte des Bundes und auch der Ex-Bundesumweltminister Norbert Röttgen, die eindeutig Hessen für die Verfahrensfehler bei der Abschaltung von Biblis verantwortlich machen. Der SPD-Abgeordnete Norbert Schmitt kann sich sogar vorstellen, dass Bouffier von RWE in eine Falle gelockt wurde: "RWE hat sich auch nicht in diesem ganzen Verfahren korrekt verhalten. Sie haben auch getrickst. Sie haben - glaube ich - mit dem Brief Bouffier in Hessen auch in eine Falle gelockt. Sie haben auch unterschiedliche Signale an die Politik gesendet. Nach Fukushima haben sie gesagt, wir sind ja mit einer Überprüfung einverstanden. Dann haben sie gesagt: Schicken sie uns einen Bescheid, wir werden nicht dagegen klagen, dann haben sie dagegen geklagt. Auch da gab es in der Person des Vorstandsvorsitzenden Grossmann widersprüchliches oder taktisches Verhalten. Also, es geht nicht darum, die Atomindustrie in Deutschland heiligzusprechen, sondern wir wissen, dass sie gut vernetzt ist."
Dann kommen die Castoren
Und waren die hessischen Landespolitiker mit dem schnellen Atomausstieg nach der Katastrophe von Fukushima einfach überfordert? Manches, was der Biblis-Untersuchungsausschuss bisher offen gelegt hat, spricht dafür. René Rock, FDP-Obmann im Ausschuss: "Und eines ist klar: Wenn eine Summe von 235 Millionen Schadenersatz, über die wir reden, fällig wird, wird das die Regierung Bouffier tief erschüttern und wird personelle Konsequenzen haben."
Bouffier und Puttrich stehen unter Druck. Beide müssen noch vor dem Biblis-Untersuchungsausschuss des Landtages aussagen. Lucia Puttrich ist heute in der Landesregierung für Europaangelegenheiten zuständig. Ihr Job gilt als besonders gefährdet.
Darüber hinaus ist vier Jahre nach Fukushima absehbar: Der Rechtsstreit darüber, wer die Kosten für die vorzeitige Abschaltung der sieben ältesten deutschen Atommeiler zahlt, wird noch jahrelang dauern. Ob die Energieunternehmen mit ihren Schadenersatzforderungen Erfolg haben, ob die öffentliche Hand zahlen muss und wie viel, diese Fragen sind noch längst nicht geklärt. Ebenso wenig, was mit dem atomaren Erbe in Biblis und anderswo geschieht. In der südhessischen Gemeinde herrscht die Sorge, noch jahrzehntelang mit dem stillgelegten Meiler leben zu müssen. Und auch mit den Castoren voller aufbereiteter Brennelemente, die Deutschland demnächst aus Frankreich und England zurückholen muss. Denn die Castorbehälter sollen nicht mehr ins Zwischenlager Gorleben, sondern zum Teil auch nach Biblis transportiert werden. Das schürt in der südhessischen Gemeinde Ängste: "Es ist auch die Frage, so jetzt hat man das Kraftwerk abgeschaltet, jetzt gibt es für die Castor-Behälter diese Lagerhalle, wo dann eine Mauer hin gebaut wird, ja. Da hat man das eine Übel weg, jetzt kommt das nächste Übel. Und es denkbar, dass man das jetzt als Endlager nimmt, denn wo wollen die hin mit den ganzen Behältern. Wir wohnen da in der Umgebung und kriegen den Kram ab, wenn die einen Fehler machen."