Wir sind in Sankt Petersburg, Mitte der 90er. Die Haupakteure der Zeit sind begabte aber orientierungslose Jugendliche, begabte und weniger begabte Geschäftsleute und die Mafia. Drogen werden konsumiert, Geld wird gemacht, Gegner werden erschossen. Bolmats Roman bringt all das zusammen. Dazu kommen ein schwangeres Mädchen, eine unglückliche Liebe, hausgemachte Philosophie, Stress, kaputte Nerven und Techno. Der 20-jährige Dichter Tjoma ist wegen einer im Affekt verteilten Ohrfeige gerade von seiner Freundin Marina rausgeschmissen worden. Kurz darauf begegnet sie in einer Videothek einem Auftragsmörder bei der Arbeit. Eins ergibt das andere und bevor Marina sich drei mal umdrehen kann, steckt das Handy des Killers in ihrer Jackentasche. Klar, das es kurz darauf klingelt und ein Auftrag erteilt wird.
Spätestens nach zehn Seiten ist klar, dass es Bolmat um anderes geht, als um eine plausible Handlung. Klick ist kein Krimi, sondern ein Zeitportrait, das als Genreparodie daherkommt. Das Stichwort lautet Quentin Tarantino und Bolmats deutscher Verlag hat diesen Hinweis auch gleich stolz aufs erstaunlich hässliche Cover gedruckt. Einen größeren Bärendienst allerdings konnte man Sergej Bolmat wohl kaum erweisen. Abgesehen davon, dass derartige Versuche des Transfers von Coolness ohnehin meistens nach hinten losgehen: Bolmat ist kein Tarantino-Epigone. Sicher, der Mann hat Reservoir Dogs, Pulp Fiction und Jackie Brown gesehen und analysiert. Doch der Grund dafür, dass Tarantino in Klick eine Rolle spielt, liegt anderswo. Der sensationelle Erfolg des kalifornischen Wunderkinds in Moskau und St.Petersburg ist die mit Abstand beste denkbare Metapher für die Ankunft von Kapitalismus und westlicher Popkultur in Russland schlechthin. Dies zu erkennen, ist eines der Verdienste Bolmats.
Nun hat aber nicht die schlichte Ankunft des Kapitalismus das Gesicht der russischen 90er bestimmt, sondern seine Vermischung mit der russischen Wirklichkeit. Auf ganz ähnliche Weise ergibt sich das Gesicht von Bolmats Roman nicht aus der Übernahme tarantinoscher Techniken, sondern aus ihrer fruchtbaren Vermischung mit lokalen Traditionen. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass sich der Westen in seiner irrsinnigen Arroganz kaum noch vorstellen kann, dass aus der Sowjetunion irgendetwas Wertvolles überkommen ist, mit dem sich das importierte Neue zu vermischen hätte. In Bolmats Buch existieren Versatzstücke westlicher Popkultur neben und mit Elementen der russischen und sowjetischen Kultur. Dazu gehört die literarische Tradition von Puschkin bis Brodsky ebenso wie das sowjetische Kino, der Jargon von Ganoven, die Umgangsformen und Ideen der Intelligenziya und tausend andere Dinge mehr. All das schlägt sich im Inhalt von Klick ebenso nieder, wie in der Form.
Einer der Dreh- und Angelpunkt der russischen 90er, von Bolmats Roman und wahrscheinlich auch im Leben des Autors ist der Zusammenprall von solider sowjetischer Bildung mit Pornografie, Popmusik und B-Filmen. Während sich die Bildung tarantinoscher Killer auf Popwissen beschränkt, sind Bolmats Helden allesamt, wie es an einer Stelle ironisch heißt, Opfer eines reichen Kulturerbes. Tarantinos Figuren unterhalten sich über Hamburger-Formate und Madonna, Bolmats Helden verbringen Stunden mit Enzyklopädien antiker Kunst und kennen Gedichte von Mandelstam und Brodsky. Genau wie Bolmat selbst, der mit einiger Sicherheit eine fundiertere klassische Bildung besitzt, als Quentin Tarantino.
Abgesehen davon hat Bolmat, vor allem was die Darstellung von Gewalt angeht, durchaus von Tarantino gelernt. Interessant aber ist nicht dieser Fakt, sondern seine Ursache:
In der Sowjetunion durfte Gewalt nicht dargestellt werden. Daher wußte auch niemand, wie man das macht. Die Gewalt in sowjetischen Filmen ist lächerlich. Bis in die 70er Jahre hinein ist die Darstellung von Gewalt von einigen Ausnahmen abgesehen völlig hilflos. Mich hat dieses Missverhältnis immer erstaunt: die endlose Gewalt in Russland und die Unfähigkeit sie darzustellen. Die Leute beherrschen die Techniken einfach nicht. Das ist der Grund, warum Tarantino und das Hongkong-Kino von John Woo in Russland auf so große Resonanz stießen. Das war genau das, was die russischen Künstler nicht konnten, trotz all der Gewalt in der Realität. Auf der anderen Seite haben sich auch die westlichen Techniken der Gewaltdarstellung in diesem Zeitraum weiterentwickelt. Sie wurden raffinierten. Natürlich kann man diese Entwicklung nicht so schnell einholen, aber ich habe versucht, das zu tun.
Die Schwächen von Bolmats Roman liegen, wie immer bei Genre-Parodien dieser Art, da, wo die mühsam ausgelegten Fäden einer wenig bedeutsamen Handlung wieder eingesammelt und zusammengeführt werden müssen. Irgendwie muss die Killergeschichte zu Ende gebracht, irgendwie müssen die Bedrohungen für das Glück von Tjoma und Marina aus dem Weg geräumt werden. Dieser zweite Teil des Romans fällt gegenüber dem Anfang stark ab, doch sollte das niemandem vom Lesen abhalten. Wie Bolmat im ersten Teil das Petersburger Leben der mittleren 90er rekonstruiert, das hat wirklich Klasse und ist sehr sehr lustig. Die Bolmats variantenreichem Russisch nie gewachsene Übersetzung tut den vielen gut getroffenen Figuren keinen Abbruch. Und auch wenn es für den großen Romanatem noch nicht ganz reicht, so hat Bolmat doch ein unbestreitbares Talent für Szenen und Dialoge und Dramaturgie. Seine Vorbilder in dieser Hinsicht entstammen keineswegs nur der amerikanischen Popkultur. Neben dem Schriftsteller Juri Trifonov ist es besonders der im Westen nahezu unbekannte Leningrader Dramatiker und Drehbuchautor Aleksandr Volodin, den Bolmat hier als seinen Lehrer nennt. Bolmat ist nicht nur überzeugt davon, dass Volodin 25 Jahre vor Tarantino mittlerweile als klassische Tarantino-Techniken berühmte Methoden einführte. In den Memoiren Volodins, der Ende letzten Jahres mit 83 Jahren starb, hat Bolmat auch so etwas wie sein künstlerisches Credo gefunden:
Irgendwann in den 70ern fuhr Edward Albee nach Russland, um Volodin zu treffen. Daraufhin wandte sich der KGB an Volodin und erklärte: „Wir wollen nicht, das Sie sich mit Albee treffen – fahren Sie nach Moskau! Wir sagen dann, dass sie auf Dienstreise sind.“ Volodin fährt also enttäuscht nach Moskau, Albee aber erklärt: „Ich fahre nicht nach Leningrad – ich brauche die Ermitage nicht und auch nicht das Russische Museum – ich will Volodin treffen. Wenn er nicht da ist, fahre ich nicht nach Leningrad.“ Albee geht also in ein Restaurant und trifft dort natürlich Volodin. Sie fangen an sich zu unterhalten, verstehen sich gut und, nachdem sie einiges getrunken hatten, fragt Volodin: „Albee, hören sie: warum schreiben sie so kompliziert?“ und Albee antwortet: „Sehen sie, ich arbeite sehr hart an meinen Stücken, und ich möchte, dass der Leser auch ein bißchen arbeiten muss. Wie ist es bei ihnen, haben sie ein anderes Prinzip?“ Darauf Volodin: „Ich, ich stelle mir einen Soldaten vor, der aus der Kaserne abgehauen ist. Er trifft sich mit seinem Mädchen und sie wissen nicht wohin. Da fängt es an zu regnen und sie sehen, dass im Kulturhaus ein Stück gezeigt wird. Sehen sie, ich möchte, dass dem Soldaten und seinem Mädchen dieses Stück gefällt.